
In diese Reihe hinein gehört auch das besprochene Werk. Der Autor will uns zeigen, dass es sich ethnographisch lohnt, dabei eine «analytische Fokussierung» (S. 96) auf Lehrkräfte vorzunehmen und deren Praktiken der Überführung von sozialen in schulische Differenzen darauf hin zu befragen, mit welchen sprachlichen, erwartungsmäßigen und interaktiven Mitteln so etwas getan wird. Dies ist ein hoher Anspruch. Denn wenn er eingelöst wird, dann sollten wir robuste Beschreibungen von Handlungspraktiken von Lehrpersonen lesen und verstehen können, denen ein eigentlich aufklärerischer Impetus innewohnt, weil hier nicht einfach beklagt, sondern analytisch-ethnographisch gezeigt wird. Dies grenzt den Text insbesondere im Verhältnis zu den in den Erziehungswissenschaften (zu?) oft artikulierten Normativitäten der Schule als eines Heilmittels für die Herstellung von positiv besetzten Topoi wie Inklusion, Integration, Chancengerechtigkeit und -gleichheit u.a.m. deutlich ab.
In der als Dissertation an der Pädagogischen Hochschule Freiburg angenommenen Arbeit führt der Autor in zwei Einleitungskapiteln in die sozialwissenschaftlichen Fragen von schulischer Bildungsungleichheit ein. Der komplexe Forschungsstand wird aufgearbeitet und es werden vier theoretische Linien zur Erklärung sozialstruktureller Trägheit mit Bezug zu schulischen Ordnungen vorgestellt. Beginnend mit Bourdieus Reproduktionstheorem wird die Goffman’sche Situationslogik auf den schulischen Kontext übertragen und als Ebene der Sinnkonstruktion mit den Butler’schen Anerkennungsideen zu sozialen Verhältnissen verbunden. Abschließend für diese aus Strukturalismus, Interaktionismus und Diskurstheorie arrangierte Theorieanordnung steht der Verweis auf die von Hirschauer formulierte Logik der Bildungskarrieren als einer Essentialisierung sozialer Praktiken. Mit diesem theoretischen Hintergrund richtet sich der Verfasser einen im Hinblick auf seinen Untersuchungsgegenstand der sozialen Ungleichheit in der Schule breiten und umfassenden Zugang ein.
Im zweiten Kapitel folgen Ausführungen zu einer qualitativen Ungleichheitsforschung mit ethnographischen Methoden. Dazu wird ein «mixed methods»-Design vorgestellt, weil, neben der teilnehmenden Beobachtung und Gesprächen in der Form von Leitfadeninterviews, auch noch Fragebogendaten zur familiären Herkunft der beiden intensiv beobachteten Schulklassen erhoben wurden. Bemerkenswert ist bei der Feldzugangsbeschreibung, dass das häufigste Argument gegen einen Zugang die offensichtliche Forschungsmüdigkeit, oder anders gesagt, eine Art von »Überforschung» das Schulfeld zu verschliessen beginnt.
Das dritte Kapitel «Un/doing authority als Kampf um Deutungshoheit - empirische Analysen» bildet den Kern der Feldforschungsarbeit in zwei Grundschulklassen. Hier wird zuerst aus ethnomethodologischer Perspektive die Produktion von Alltag in den Schulklassen wiedergegeben, bevor dann in Kombination von Beobachtungs- und Fragebogendaten auch die sozialstrukturelle Dimension stärker hervorgehoben und auf die Relevanz von Bildungskarrieren hin bezogen wird. Es ist hier nicht der Ort, um die vielen, feinsinnigen und genauen Beobachtungen und deren Verschränkungen und Verbindungen nachzuzeichnen. Dazu muss das Buch selber in die Hand genommen werden. Besonders bemerkenswert sind aber die Ausführungen zum Untersuchungsgegenstand der Autoritätskonstruktion oder -dekonstruktion. Sie zeigen die Autorität von Lehrpersonen im Konflikt und als emotionale Struktur in Machtverhältnissen, bei denen Gehorsam, Charisma, Humor und Solidarität als thematische Aspekte aufscheinen. Dieser materiale Teil vermittelt einen Eindruck in die Vielschichtigkeit und Spezifizität des sozialen (Lehrer-)Handelns in der Schulklasse. Bei der Lektüre wird einem bewusst, wie heikel und empfindlich Lehrer- und Schülerrollen alltäglich sind und Ungleichheiten tauchen dabei allenthalben direkt in der Interaktion auf. Dies geht von der andere exkludierenden Peer-Beziehung über materielle Disparitäten bis hin zur ungleichen «Behandlung» durch die die Situationen gestaltenden Lehrkräfte. Die ethnographischen Beobachtungen fördern dabei einen ganzen Strauß von dicht ineinander gefügten Ungleichheitsmöglichkeiten und -varianten zutage. Dass dies sich letztlich auch in Wahrscheinlichkeiten für ungleiche Karrieren manifestiert, so wie sie anhand der Fragebogendaten gezeigt werden, verwundert dann nicht mehr.
Die abschliessende Betrachtung des Phänomens der Autorität und seiner Formen und Funktionen im Anschluss an Butlers Anerkennungstheorie beschließt die Arbeit im vierten Kapitel. In ihm erfolgt zum Schluss auch noch eine leider eher kurz geratene Abgleichung mit den eingangs des Textes aufgeworfenen Theoremen von Bourdieu und Hirschauer.
Die Studie von Weitkämper zeigt, dass es sich lohnt ethnographisch hinzuschauen, wenn man sich mit der Frage der Herstellung von sozialer Ungleichheit in der Grundschule beschäftigt. Der Ertrag liegt dabei in vielschichtigen und nachvollziehbar gemachten Handlungsprozessen, Arbeitsroutinen und Umgangsformen, die soziale Ungleichheit nicht nur herstellen, sondern recht eigentlich im Alltag ausmachen. Und insbesondere die Rahmung der Stoßrichtung der Analyse mit dem Phänomen der ja oft auch in Frage gestellten Autorität von Lehrpersonen, die im Zeitalter von Individualisierung durch selbstgesteuertes Lernen und andere Veränderungen unter Druck gerät, scheint mir besonders verdienstvoll. Denn ohne eine fachliche und persönliche Autorität der Lehrpersonen lässt sich Schule - trotz aller Kritik daran - nur schwer vollziehen. Gerade auch diese Funktionslogik von Ungleichheit gezeigt zu haben scheint mir ein bemerkenswertes Verdienst dieser Arbeit.