Der Sammelband „Wieviel Wissenschaft braucht die Lehrerbildung? Zum Stellenwert von Wissenschaftlichkeit im Lehramtsstudium“ versammelt bildungswissenschaftliche, fachdidaktische und sozialwissenschaftliche Perspektiven auf das traditionsreiche Theorie-Praxis-Problem der universitären Lehrer/innenbildung und richtet sich an unterschiedliche in diesem Bereich tätige Akteur/innen.
Die Herausforderung der heutigen Lehrer/innenbildung besteht in der Abstimmung der Ansprüche aus Fachwissenschaft (FW), Fachdidaktik (FD) und Bildungswissenschaft (BW) sowie den integrierten Schulpraxisphasen. Spannungen entstehen dabei durch eine vielfach beschriebene Unvereinbarkeit von wissenschaftlichem Studium und praktischer Berufsausbildung. Studierende des gymnasialen Lehramts beispielsweise sollen eine möglichst umfassende fachwissenschaftliche Bildung in den gewählten wissenschaftlichen Fächern erhalten und gleichzeitig auch in den Fachdidaktiken und der Bildungswissenschaft fundierte Kenntnisse und wissenschaftliche Fähigkeiten erwerben. Zu diesen vielfältigen, miteinander verknüpften wissenschaftlichen Ansprüchen kommen integrierte, durch Mentor/innen begleitete Praxisphasen, teils mit dazugehörigen Begleitlehrveranstaltungen. Der vorgelegte Sammelband steht vor dem Hintergrund dieser Komplexität konkurrierender Ansprüche „quer zum allgegenwärtigen Ruf nach Praxis“ (Buchrücken) und betont die Bedeutung einer genuin wissenschaftlichen ersten Ausbildungsphase. Die Mehrzahl der im Band vertretenen Autor/innen steht integrierten Praxisphasen eher ablehnend gegenüber. Trotz dieser konsensualen Tendenz im Bereich der Schulpraktika bietet auch die Frage nach dem quantitativen und qualitativen Verhältnis von FW, FD und BW und nach der Bedeutung der jeweiligen Bezugswissenschaft für die Professionalität zukünftiger Lehrer/innen Potenzial für kontroverse Standpunkte. Geordnet nach zentralen Argumenten lassen sich die zehn in der Publikation versammelten Beiträge zu vier Positionen (in Anlehnung an Tina Hascher, S. 130) gruppieren, wobei nachfolgend auf sieben Aufsätze näher eingegangen wird:
Position „Theorieprimat mit Primat der FW“ (in Abgrenzung zu BW und FD): Thomas Wenzl wendet sich mit seinem Beitrag gegen die verbreitete Annahme, dass pädagogisches Handeln von Lehrpersonen (in Analogie zu ärztlichem oder anwaltlichem Handeln) durch die BW professionalisiert werden könne. Aus seiner Sicht ist die pädagogische Dimension des Lehrberufs grundsätzlich ungeeignet, um seine Professionalisierungsbedürftigkeit zu begründen, da pädagogisches Handeln vollständig auf bildungswissenschaftliche Fundamente verzichten kann. Die Lehrerbildung solle daher wieder die fachwissenschaftlichen Studiensegmente priorisieren, das aktuelle Sowohl-als-auch führe zu einem Weder-noch. Nur die fachliche Dimension des Lehrberufs könne die Notwendigkeit einer genuin wissenschaftlichen Lehrerbildung begründen. Überraschenderweise ist Wenzl selbst Erziehungswissenschaftler. Als Biologe und Fachdidaktiker problematisiert auch Hans Peter Klein den Abbau von fachwissenschaftlichen Studieninhalten zugunsten der Ausweitung von FD und BW seit den 1980er-Jahren und diagnostiziert ein durch das hochschulpolitische Reformchaos massiv gesunkenes Niveau bei der wissenschaftlichen Ausbildung zukünftiger Lehrpersonen. Sein mit Metaphern überladener, teils sehr sarkastischer Beitrag entspricht dabei selbst eher journalistischen als (geistes)wissenschaftlichen Qualitätskriterien.
Position „Theorieprimat der Triade FW, BW, FD“ (in Abgrenzung zu integrierten Praxisphasen): Claudia Scheid betont die überragende Bedeutung des Studiums für den Erwerb eines wissenschaftlich-reflexiven Habitus. Nur ohne akuten Handlungsdruck oder Entscheidungszwang, in einem von pädagogischer Praxis entleerten Raum, könne dieser Habitus erworben werden. In Anlehnung an Dewey vertritt Scheid die These, dass Wissenschaft, durch ein Junktim von Forschen und Lehren, ein hinreichendes Mittel sei, um gute Lehrpersonen hervorzubringen. Reinhold Hedtke wendet sich ebenso gegen den „Unsinn der praxisbornierten Lehrerausbildung“ (79). Da Lehrpersonen faktisch ihre gesamte Bildungs- und Berufsbiografie in der sozialen Struktur Schule (Giddens) verbringen, fordert er eine harte Unterbrechung dieser Kontinuität und reklamiert das Studium mit Nachdruck für die Wissenschaft. Schule wäre in seinem Ansatz maximal Forschungsobjekt, keinesfalls Handlungsraum. Arbeitserfahrungen außerhalb des Bildungssystems findet er jedoch wünschenswert. Damit bringt er einen weiteren interessanten Anspruch in den Diskurs ein. Die in diesem Kontext von Hedtke mehrfach paraphrasierte Behauptung, Lehrpersonen hätten abgesehen von Schule nichts zu bieten, wird von ihm jedoch nicht empirisch belegt.
Position „Theorie-Praxis-Integration“: Demgegenüber verfolgen Tina Hascher und Lea de Zordo das vollkommen konträre Ziel, durch ihre bildungswissenschaftliche Argumentation die Komplementarität von Wissenschaftlichkeit und Praxis aufzuzeigen. Die Aufgabe der Lehrer/innenbildung, wissenschaftliches und praktisches Wissen aufeinander zu beziehen, könne nur durch eine integrative Gestaltung des Studiums im Sinne einer Theorie-Praxis-Bindung und durch Wissenschaftlichkeit in der berufspraktischen Ausbildung gelingen. Olga Kunina-Habenicht plädiert als Erziehungswissenschaftlerin ebenfalls für eine sinnvolle Verzahnung zwischen Theorie und Praxis. Die im Studium erworbene fachwissenschaftliche, fachdidaktische und bildungswissenschaftliche Wissensbasis und Diskuspraxis sei jedoch die unerlässliche Grundlage für ein reflektiertes unterrichtliches Handeln in der Praxis. Durch die erziehungswissenschaftlichen und psychologischen Perspektiven der Autor/innen wird bei illustrativen Transferbeispielen die fachwissenschaftliche Dimension des Lehrberufs vernachlässigt.
Position „Metaperspektive zum Theorie-Praxis-Problem“: Annemarie Matthies und Manfred Stock gehen aus einer historisch-soziologischen Perspektive der Frage nach der Entstehung einer Kopplung von zertifizierten Universitätsabschlüssen und damit verbundenen institutionalisierten Anwendungserwartungen nach. Während in der mittelalterlichen Universität die besuchte Fakultät und das studierte Programm nicht automatisch die zukünftige Betätigung als Theologe, Mediziner und Jurist implizierte (gelehrte Mediziner arbeiteten als Kleriker und umgekehrt), führte der Übergang zur staatlich kontrollierten neuzeitlichen Universität zur Einführung großer Staatsexamen und damit zu einem Karrieremechanismus, der staatlich zertifizierte Universitätsabschlüsse als Zugangsvoraussetzungen für höhere Positionen etablierte. Beim Übergang zur modernen Forschungsuniversität bildete sich ein zweiphasiges Studiensystem heraus (Medizin führte Klinikphasen ein, die Rechtswissenschaften und später das Lehramt ein Referendariat), um neben fachwissenschaftlichen auch berufspraktische Fähigkeiten sicherzustellen. An dieser strukturellen Lösung (nach gehäuft auftretenden Problemen beim Berufseinstieg der männlichen Absolventen), stellen die Autor*innen in ihrem gelungenen Beitrag fest, dass die Diskrepanz zwischen akademischer Lehre und beruflichem Handeln unauflösbar ist.
Der Frage, zu welchen Anteilen ein Lehramtsstudium aus FW, BW und FD bestehen soll, liegt klar ein Ressourcen- und Verteilungskonflikt zugrunde. Studienpläne können nicht unbegrenzt erweitert und die Mindeststudienzeit des Lehramtsstudiums nicht endlos erhöht werden. Eine Mehrheit der im Buch vertretenen Wissenschaftler/innen positioniert sich als Gegengewicht zur aktuell vorherrschenden integrativen Stoßrichtung in der Lehrer/innenbildung. Trotz unterschiedlicher Schwerpunktsetzungen ist dabei die Kultivierung einer wissenschaftlichen Haltung als Leitziel der universitären Phase der Lehrer/innenbildung ein gemeinsamer Nenner aller Texte. Die Zuwendung zu Fragen der Erkenntnisbildung wird als unerlässliches Fundament für einen genuin akademischen Beruf erachtet. Leider bleiben die Gründe und Ursachen für die unterschiedlichen (in einigen Texten scharf kritisierten) Reformprozesse im Bereich der Lehrer/innenbildung sowie theoretische Bezugspunkte einiger Autor/innen in der vorgelegten Publikation im Dunklen. Trotz dieses Defizits versammelt der Band relevante Argumente für eine wissenschaftliche Ausrichtung des Lehramtsstudiums und bereichert die Theorie-Praxis-Debatte insbesondere durch seine Kontroversität. Ein alternativer Titel in Anlehnung an R. D. Precht könnte daher „Was bedeutet Wissenschaft(lichkeit) im (Lehramts)Studium und wenn ja, wie viele?“ lauten.
EWR 19 (2020), Nr. 3 (Juli / August)
Wieviel Wissenschaft braucht die Lehrerbildung?
Zum Stellenwert von Wissenschaftlichkeit im Lehramtsstudium
Wiesbaden: Springer VS 2020
(253 S.; ISBN 978-3-658-23243-6; 49,99 EUR)
Anna Jäger (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anna Jäger: Rezension von: Scheid, Claudia / Wenzl, Thomas (Hg.): Wieviel Wissenschaft braucht die Lehrerbildung?, Zum Stellenwert von Wissenschaftlichkeit im Lehramtsstudium. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365823243.html
Anna Jäger: Rezension von: Scheid, Claudia / Wenzl, Thomas (Hg.): Wieviel Wissenschaft braucht die Lehrerbildung?, Zum Stellenwert von Wissenschaftlichkeit im Lehramtsstudium. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365823243.html