âAnpassen ist der erste Schritt. Besser zu sein, ist der zweiteâ. Dieser PrĂ€misse ist Niels Uhlendorf im Rahmen seiner Forschung zu âOptimierungsdruck im Kontext von Migrationâ wiederholt begegnet. Mit Blick auf den medialen Diskurs ĂŒber sowie Biografien von Deutsch-Iraner_innen der ersten Generation, analysiert er die PrĂ€misse als Ausdruck spĂ€tmoderner Anforderungen einer optimierten LebensfĂŒhrung sowie eines hiermit verbundenen Kampfes um Anerkennung in der Migrationsgesellschaft. In seiner 2018 im Springer-Verlag erschienenen Dissertation fragt er zum einen, inwiefern im Zuge eines erstarkenden Optimierungsdiskurses in Deutschland âseitens der Ankunftsgesellschaft besondere Erwartungen an Menschen mit Migrationshintergrund herangetragen werdenâ (2). Zum anderen interessiert ihn, âauf welche Weise Optimierungsanforderungen vor dem Hintergrund migrationstypischer biografischer VerlĂ€ufe bearbeitet werdenâ (2).
Uhlendorfsâ Fragen erscheinen mit Blick auf den zunehmenden Einfluss neoliberaler RationalitĂ€t sowohl gesamtgesellschaftlich als auch speziell auf Diskurse um (Flucht-)Migration und Integration in Deutschland besonders relevant. So sind die konkreten Wechselwirkungen zwischen Anerkennung und Optimierung in der Migrationsgesellschaft, die hiervon ausgehenden Anrufungen von Menschen mit Migrationserfahrung sowie ihr Umgang mit einem implizit wie explizit ausgeĂŒbten Optimierungsdruck, bisher kaum erforscht. Uhlendorfsâ Dissertation setzt an diesen Leerstellen an. Er fokussiert die heterogene Gruppe der Deutsch-Iraner_innen zwischen 25 und 40 Jahren. Diese, so legt der Autor dar, weisen insgesamt hohe Bildungs- und Berufserfolge auf, werden jedoch vielfach auch mit negativen wie âorientalistischen Stereotypen in Verbindung gebrachtâ (82) â ein Spannungsfeld, welches nach Uhlendorf spezifische (Fremd-)Positionierungserfahrungen vermuten lĂ€sst.
Uhlendorfs Arbeit besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil (Teil A) geht er auf den Forschungsstand sowie den theoretischen Rahmen seiner Forschung ein. Im Zentrum steht die fundierte Darstellung allgemeiner Optimierungstendenzen in spĂ€tmodernen Gesellschaften, bei der sich der Autor vor allem auf diskurs- und gouvernementalitĂ€tstheoretische Arbeiten zum Thema bezieht. Er legt dar, wie sich Imperative einer permanenten (Leistungs-)Steigerung zu einem âdurchgreifende[n] Strukturierungsprinzipâ von spĂ€tmodernen Gesellschaften herausentwickelt haben und sich auf âunterschiedliche Bereiche der LebensfĂŒhrungâ auswirken (109). Im Anschluss daran setzt sich Uhlendorf mit den Spezifika des beschriebenen gouvernementalen Regierens im migrationsgesellschaftlichen Kontext auseinander und geht insbesondere auf Wechselwirkungen zwischen Optimierungs- und Assimilationsdruck fĂŒr in Deutschland lebende Migrant_innen sowie als solche positionierten Personen ein. Diese, so argumentiert der Autor aus subjektivierungs- und anerkennungstheoretischer Perspektive, sind in besonderer Weise gefordert, sich âals nĂŒtzlich und produktiv zu erweisenâ, um als sich legitim in Deutschland aufhaltende Personen anerkannt zu werden (73). Es ist insbesondere diese theoretische Vorannahme, die schlieĂlich Uhlendorfs forschungsleitende Fragen nach dem Verhalten und den SelbstverhĂ€ltnissen von Deutsch-Iraner_innen im Kontext des aktuellen Optimierungsdiskurses anleiten.
Im zweiten Teil (Teil B) seiner Studie stellt Uhlendorf zunĂ€chst sein empirisches Forschungsdesign dar. In diesem verbindet er die wissenssoziologische Rekonstruktion diskursiv vermittelter Subjektpositionierungen, basierend auf im Zeitraum zwischen 2000 und 2014 veröffentlichten Zeitungsartikeln ĂŒber und von âiranische(n) Migrant_innenâ, mit der Analyse von Biographie und LebensfĂŒhrung von Deutsch-Iraner_innen, basierend auf narrativen Interviews mit insgesamt elf Deutsch-Iraner_innen aus dem ganzen Bundesgebiet. HierfĂŒr wendet der Autor die Narrationsanalyse diskursanalytisch: Ausgehend von der Annahme, dass das Sprechen in der Interviewsituation maĂgeblich von einem institutionalisierten, diskursiv vermittelten Wissen geprĂ€gt ist, bindet er die Analyse der Selbstthematisierungs- und Deutungsweisen der interviewten Deutsch-Iraner_innen eng an die analytische Auseinandersetzung mit dominanten Diskursen in der Migrationsgesellschaft an.
In der anschlieĂenden Darstellung seiner Analyseergebnisse rekonstruiert Uhlendorf zunĂ€chst mediale ReprĂ€sentationen von Deutsch-Iraner_innen und sich hierin manifestierende implizite NormativitĂ€ten. Er weist unterschiedliche Formen optimierender Anrufungen nach, die, âin sich Ă€uĂerst widersprĂŒchlichâ bleiben (207). So stellt die im medialen Diskurs vielfach vermittelte Norm, âproduktiv zu seinâ, einerseits eine zentrale Grundlage dar, um in Deutschland Anerkennung zu finden, wĂ€hrend andererseits ein âzu vielâ an ProduktivitĂ€t als bedrohlich wahrgenommen wird und mit verschiedenen Fremdheitszuschreibungen im Diskurs einhergeht (205). Uhlendorfs Analyse fĂŒhrt damit die spezifische double-bind-Situation vor Augen, in der sich Deutsch-Iraner_innen hĂ€ufig befinden. In diesem Zusammenhang hat die positive Betonung individueller Bildungserfolge von âiranischen Migrant_innenâ in den Medien auch zur Folge, dass Diskriminierungserfahrungen entweder gĂ€nzlich ausgeblendet oder im Sinne einer âSchule des Lebensâ (206) geradezu als notwenige Voraussetzung fĂŒr die beschriebenen Erfolge prĂ€sentiert werden.
Im nĂ€chsten Schritt setzt Uhlendorf die analysierten medialen ReprĂ€sentationen von âiranischen Migrant_innenâ ins VerhĂ€ltnis zu individuellen Formen der Bearbeitung von Optimierungsanforderungen. Hierbei rekonstruiert er ĂŒber eine Feinanalyse der ErzĂ€hlungen von fĂŒnf Interviewpersonen drei fallĂŒbergreifende Umgangsmuster: Die âAffirmationâ von Optimierungsanforderungen, die âwiderwillige Anpassungâ an diese sowie âAbgrenzungsversucheâ, die darin bestehen, âdas eigene Verhalten nicht von Klassifikationen des Optimierungsdiskurses bestimmen zu lassenâ (364ff.). Die drei Umgangsmuster interpretiert Uhlendorf in Zusammenhang mit familialen Erwartungen und Verpflichtungen, die er gleichsam aus den Interviews herausarbeitet. Er stellt diesbezĂŒglich u.a. die Hypothese auf, dass eine zum Teil beobachtete âRebellion gegen das familiale Systemâ tendenziell âmit der Rebellion gegen eine gesellschaftlich vereinnahmende Anspruchshaltungâ einhergeht (367).
Die RĂŒckbindung der beobachteten Subjektivationen an den familialen Hintergrund wirft einige Fragen auf. So erscheint der âelterliche Leistungsdruckâ in Uhlendorfs Dissertation als eine feste GröĂe, die hier â anders als die Selbstpositionierungs- und Deutungsprozesse der Interviewten â weitgehend unabhĂ€ngig von migrationsgesellschaftlichen und neoliberalen Diskursen und damit verbundenen Anrufungen betrachtet wird. Da eine vergleichende Analyse von Subjektivationen deutsch-deutscher Personen ausbleibt, was der Autor am Ende seiner Arbeit (selbst)kritisch reflektiert, erscheint der beschriebene familiale Druck âmigrationsspezifischâ und Uhlendorfs Interpretationen stellenweise kulturalisierend.
Im dritten Teil (Teil C) der Studie diskutiert der Autor seine Analyseergebnisse vor dem Hintergrund der zuvor ausgearbeiteten Theorie. Er konzentriert sich auf die Frage nach der herrschaftslegitimierenden und ungleichheitsreproduzierenden Funktion des Optimierungsdiskurses. Dessen PerfiditĂ€t liegt nach Uhlendorf maĂgeblich darin, dass dieser institutionelle und strukturelle Bedingungen fĂŒr soziale Ungleichheiten verschleiert und so eine individualisierende Bearbeitung migrationsgesellschaftlicher Ungleichheiten nahelegt. Indem der Diskurs verspricht, âsoziale Unsicherheit und die Gefahr von Prekarisierung durch Ausrichtung am Wettbewerb ĂŒberwinden zu könnenâ, so Uhlendorf, adressiert und âsubjektiviertâ er insbesondere solche Individuen, die von gesellschaftlicher und ökonomischer Unsicherheit besonders betroffen sind (377).
Uhlendorfs Studie besticht durch ihre sehr grĂŒndlichen und substantiellen Analysen. Es gelingt dem Autor, neoliberale Dynamiken von Kapitalisierung, Beschleunigung und Wettbewerb in Migrationsgesellschaften, die an anderer Stelle hĂ€ufig lediglich theoretisch-abstrakt diskutiert und kritisiert werden, empirisch aufzuzeigen und darĂŒber die Debatte zu fundieren. Ăber die Verbindung von Biographie- und Diskursanalyse macht er Ă€uĂerst ĂŒberzeugend die Wechselwirkungen zwischen migrationsgesellschaftlichen Anerkennungs- und Ausgrenzungsprozessen sowie einem erstarkenden Optimierungsdiskurs sichtbar. Damit sensibilisiert Uhlendorf die wissenschaftliche, politische und pĂ€dagogische Debatte darauf, neoliberale Dynamiken mitzudenken, nicht nur wenn es darum geht, migrationsgesellschaftliche Ungleichheits- und DiskriminierungsverhĂ€ltnisse in ihrer KomplexitĂ€t zu verstehen, sondern auch, soziale Ungerechtigkeit sowie Formen von (rassistischer) Diskriminierung zu bearbeiten und entsprechende HandlungsansĂ€tze fĂŒr den Abbau dieser zu entwickeln.
EWR 18 (2019), Nr. 3 (Mai/Juni)
Optimierungsdruck im Kontext von Migration
Eine diskurs- und biographieanalytische Untersuchung zu Subjektivierungsprozessen
Wiesbaden: Springer VS 2018
(463 S.; ISBN 978-3-658-22917-7; 59,99 EUR)
Ellen Kollender (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ellen Kollender: Rezension von: Uhlendorf, Niels: Optimierungsdruck im Kontext von Migration, Eine diskurs- und biographieanalytische Untersuchung zu Subjektivierungsprozessen. Wiesbaden: Springer VS 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.07.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365822917.html
Ellen Kollender: Rezension von: Uhlendorf, Niels: Optimierungsdruck im Kontext von Migration, Eine diskurs- und biographieanalytische Untersuchung zu Subjektivierungsprozessen. Wiesbaden: Springer VS 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.07.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365822917.html