EWR 20 (2021), Nr. 2 (März/April)

Halyna Leontiy / Miklas Schulz (Hrsg.)
Ethnographie und Diversität
Wissensproduktion an den Grenzen und die Grenzen der Wissensproduktion
Wiesbaden: Springer VS 2020
(436 S.; ISBN 978-3-658-21981-9; 53,45 EUR)
Ethnographie und Diversität Die Beobachtbarkeit der sozialen Konstruktion von Differenz und Diversität ist Teil methodologischer Reflexionen in den Sozialwissenschaften (u.a. Budde 2014; Fritzsche/Tervooren 2012). Dabei ist die Einsicht grundlegend, dass interpretative Sozialforschung nicht ohne Kategorisierungen auskommt. Das Benennen und Dekonstruieren von Kategorien ist stets eng miteinander verknüpft. Der vorliegende Sammelband schließt an diesen methodologischen Reflexionen an. Leitend für die Entstehung des Bandes war die Frage: „Was machen die Forschenden mit den Kategorien und was machen die Kategorien gleichsam mit den Forschenden und ihren Erkenntnisprozessen?“ (v).

In der Einleitung „Die Vielfältigkeit der Diversität – eine Einführung“ entwerfen die Herausgebenden Halyna Leontiy und Miklas Schulz die Grundlagen für ein Forschungsprogramm, das Diversity und symbolische sowie faktische Grenzen in seiner Verschränkung zur ethnographischen Forschung fasst. Diversity und Grenzen werden als zentrale Bezugspunkte ethnographischer Forschung genutzt, um auf das Problem der Reproduktion von dichotomen und hierarchisch angeordneten sozialen Differenzkategorien hinzuweisen.

Der Band ist in vier Abschnitte unterteilt, die je vier Beiträge umfassen: Konzeptionelle Grundlagen (Abschnitt I), Diversität und Inklusion in Bildungskontexten (II), Interkultur in der Diversität (III) sowie Diversität im Spannungsfeld von Körper, Geschlecht und Behinderung (IV). Die im Folgenden ausführlicher vorgestellten und kommentierten Beiträge zeigen die Vielfalt der (theoretischen und methodologischen) Zugänge zum Themenfeld Diversity, Grenzen und Ethnographie und präzisieren so besonders das Anliegen des Bandes.

In Abschnitt I diskutieren Katherine Braun und Yvonne Franke in ihrem Beitrag „Diverse Differenzordnungen in der postkolonialen Matrix – eine Suchbewegung“ die Verknüpfung von Diversity mit postkolonialen Perspektiven. Eine postkolonial informierte Ethnographie umfasse die Reflexion gesellschaftlicher Bedingungen von Differenzkonstruktionen, ein Subjektverständnis in transnationalen und fragmentierten Mehrfachverortungen sowie Diversity-Dimensionen „innerhalb einer Kolonialität der Macht [,denn; LH] Race, identity, culture – um nur einige Diversitätsdimensionen zu nennen – sind zutiefst darin verwoben“ (102). Diese Forschungsperspektive wird am Beispiel des Ausscheidens des Fußballspielers Özil aus der deutschen Fußballnationalmannschaft der Männer illustriert. Das Narrativ von Aufstieg und erfolgreicher Integration verändere sich hin zu einem Narrativ von „Integrationsverweigerung“ (107) und ende im Ausscheiden Özils aus dem Nationalteam. Braun und Franke resümieren, dass das Versprechen von Aufstieg und Integration je nach Kontext und Positionierung des Subjekts unterschiedliche Geltung erfahre und arbeiten heraus, wie ein fixes, eindimensionales Subjektverständnis gesellschaftliche Anerkennung verhindere. Allerdings bleibt unklar, inwiefern sich dieses gelungene Beispiel für die Verknüpfung von postkolonialen- und Diversity-Perspektiven als ethnographische Forschung und nicht als Diskursforschung einordnen lässt.

Kerstin Rabenstein, Marian Laubner und Mark Schäffer legen in Abschnitt II eine methodologische Reflexion vor. In ihrem Beitrag „Diskursive Praktiken des Differenzierens und Normalisierens. Eine Heuristik für eine diskursanalytische Ethnographie“ diskutieren sie, dass eine Heuristik zur Erforschung von Praktiken des Differenzierens und Normalisierens sozialtheoretisch sowohl an die Diskurstheorie als auch an Theorien sozialer Praktiken rückgebunden werden müsse. Auf der Grundlage ethnographischer Differenzforschungen sowie einer theoretischen Verknüpfung von Praktiken und Diskursen wird aufgezeigt, dass machtvolle Praktiken der Kategorisierung, Differenzierung und Normalisierung untersucht werden können.

Die Autor:innen entwickeln eine Heuristik, um die (De-)Thematisierung von Differenz und ihren Beitrag zu einer Differenz- und Zugehörigkeitsordnung sowie zur Erhaltung bzw. Legitimierung sozialer Ungleichheiten untersuchen zu können. Dies wird mithilfe eines empirischen Beispiels und einer abschließenden Reflexion der Heuristik sehr überzeugend dargelegt.

Jo Reichertz‘ Text in Abschnitt III „Grenzen der Interpretation. Wie kann und soll man in der qualitativen Sozialforschung mit interkulturellen Daten umgehen?“ diskutiert aus der Perspektive wissenssoziologisch informierter Hermeneutik die Interpretation von empirischen Daten. Die Annahme ist, dass ein geteiltes Sinnverständnis bei der Bedeutungsrekonstruktion von empirischen Daten nur dann möglich sei, wenn die Interpretierenden ausreichend an der Kultur partizipieren, aus denen die Daten stammen. Daher sollen sozialwissenschaftlich geschulte „Ko-Interpreten“ (249) eingesetzt werden, die mit der ‚deutschen‘ und der ‚fremden Kultur‘ vertraut seien. Kritisch kann angemerkt werden, dass der Autor die Standortgebundenheit des Wissens nicht ausreichend reflektiert. Zudem fehlt eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie ein angemessener Einbezug von diversen Positionen in Interpretationsgruppen möglich ist, um so dem vorgeschlagenen, aber nicht ausgeführten Rückgriff auf postkoloniale Perspektiven und der Repräsentation in ‚interkulturellen‘ Forschungssettings gerecht zu werden.

In Abschnitt IV wählt Miklas Schulz unter der Überschrift „Doing Identity im Spannungsfeld von Dis-/Ability. Ein (Macht-)Spiel um Deutungsweisen in Interaktionen“ einen autoethnographischen Zugang. Gegenstand einer Reflexion von Behinderung als Stigma, im Sinne Goffmans, ist die „auffällig unproblematisch[e]“ (396) Wohnungssuche des blinden Autors. Schulz zeigt, dass es als stigmatisierte Person kein Recht gebe, sich auf Normalität zu berufen, und keine Möglichkeit zu bestimmen, welche Identitätsdimensionen in der Interaktion als relevant markiert werden. Er erweitert die interaktionistische Perspektive auf Behinderung in der Tradition der Disability Studies um einen Foucaultischen Machtbegriff. Auf diese Weise sei es möglich, Behinderung als eine konstruierte, kontingente Differenzkategorie zu fassen und das machtvolle Wissen um Normalität als eine zentrale Voraussetzung für die Konstruktion von Behinderung zu beschreiben. Insbesondere die theoretisch-methodologische Erweiterung von Goffmans Sozialtheorie durch diskurstheoretische Perspektiven ist überzeugend dargelegt und übertragbar auf (auto-)ethnographische Forschungsprojekte.

Die Beiträge des Sammelbandes systematisieren theoretische Zugänge und methodische Entwürfe aus unterschiedlichen Disziplinen, sodass sie, mit wenigen Einschränkungen, zu einer methodologischen Konzeptionierung von ethnographischer Forschung im Kontext von Diversity beitragen. Diversity erscheint nicht als beliebig zu füllender Container-Begriff, sondern als Grundlage für ein Forschungsprogramm, das machtvolle symbolische und faktische Grenzen bedenkt und zu verschieben versucht. Die Verknüpfung theoretischer Ausführung und empirischer Beispiele bietet vielfältige Anregungen für Forschungsvorhaben und Grundlagen zur Reflexion der Forscher*innenpositionierung.

Budde, J. (2014): Differenz beobachten? In: Tervooren, A./Engel, N. /Göhlich, M./Miethe, I./Reh, S. (Hg.): Ethnographie und Differenz in pädagogischen Feldern: internationale Entwicklungen erziehungswissenschaftlicher Forschung. Bielefeld: Transcript. S. 133–148.
Fritzsche, B./Tervooren, A. (2012): Doing difference while doing ethnography? Zur Methodologie ethnographischer Untersuchungen von Differenzkategorien. In: Friebertshäuser, B./Kelle, H./Boller, H./Huf, C./Langer, A./Ott, M./Richter, S. (Hg.): Feld und Theorie: Herausforderungen erziehungswissenschaftlicher Ethnographie. Opladen: Budrich. S. 25–39.
Lydia Heidrich (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Lydia Heidrich: Rezension von: Leontiy, Halyna / Schulz, Miklas (Hg.): Ethnographie und Diversität. Wissensproduktion an den Grenzen und die Grenzen der Wissensproduktion. Wiesbaden: Springer VS 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.04.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365821981.html