EWR 19 (2020), Nr. 4 (September / Oktober)

Ingrid Gogolin / Kai Maaz (Hrsg.)
Migration und Bildungserfolg
Herausforderungen und Potenziale
Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 22 (Suppl. 1)
Wiesbaden: Springer VS 2019
(233 S.; ISBN 978-3-658-21241-4; 44,99 EUR)
Migration und Bildungserfolg Das 34. Sonderheft der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (ZfE), unter der Herausgeber/-innenschaft von Ingrid Gogolin und Kai Maaz, widmet sich dem Thema Migration und Bildungserfolg und enthält neun Einzelbeiträge, die in drei Kapitel gegliedert sind: Bildungsbiographischen Stationen, Sprachliche Fähigkeiten und Investitionen. Die hier versammelten Studien weisen anhand großer Erhebungen wie etwa dem NEPS nach, dass Bildungsbenachteiligung für Schüler/-innen und junge Menschen mit Migrationshintergrund nach wie vor eine Realität darstellt, und zwar in allen Etappen im Bildungssystem Deutschlands und unter Kontrolle von Variablen wie sozioökonomischem Hintergrund, schulischen Leistungen, Bildungsressourcen des Elternhauses und Bildungsaspirationen.

Sabine Walper und Gabriela Gniewosz untersuchen anhand von Daten der Längsschnittstudie AID:A den Übergang in die weiterführende Schule. Bei Kontrolle sozioökonomischer Ungleichheit und der schulischen Leistungen zeigen die Autorinnen auf, dass Schüler/-innen mit Migrationshintergrund nach der Grundschule um 15% seltener ins Gymnasium wechseln als Schüler/-innen ohne Migrationshintergrund.

Dem Wohlbefinden von Schüler/-innen am Ende der Sekundarstufe 1 in England, Deutschland, den Niederlanden und Schweden gilt der Fokus von Bernhard Nauck und Andreas Genoni. Hofstedes Konstrukt der „kulturellen Distanz“ zwischen „Herkunftsstaat“ und „Aufnahmestaat“ der Jugendlichen bildet dabei eines der Vergleichsmerkmale. Während zu Beginn das Wohlbefinden in England und Deutschland niedriger ist als in den anderen beiden Ländern, nähern sich die Werte für Schüler/-innen aller Länder nach dem Übergang in weitere Bildungsgänge einer Mitte an. Dabei zeigten „einheimische“ Jugendliche ein höheres Wohlbefinden, wenn sie in niedrigere Bildungsgänge wechseln; „kulturell distante“ Jugendliche in umgekehrter Weise dann, wenn sie in höhere Bildungsgänge wechseln.

Die Studie von Susan Seeber, Robin Busse, Christian Michaelis und Martin Baethge beleuchtet Disparitäten im Ausbildungszugang von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund. Die Autor/-innen zeigen, dass Ungleichheiten im Ausbildungszugang von Jugendlichen mit Migrationshintergrund für das Schulberufssystem weniger stark ausgeprägt sind als für das duale System. In letzterem kommen Hintergrundmerkmalen wie Bildungsressourcen und elterlichem Unterstützungsverhalten eine größere Bedeutung zu, jedoch bleibt ein Benachteiligungseffekt auch bestehen, wenn diese Faktoren kontrolliert werden. Junge Menschen mit Migrationshintergrund sind überproportional in weniger angesehenen Ausbildungsberufen vertreten und von einer deutlich höheren Vertragslösungsquote betroffen. Die Autor/-innen halten außerdem eine starke Zunahme an Personen im Übergangssektor zwischen 2014 und 2016 fest, die sie als Hinweis auf die erschwerte Ausbildungseinmündung von geflüchteten jungen Menschen sehen.

Markus Lörz nimmt Disparitäten im Hochschulzugang in den Blick. Er untersucht einander verstärkende Ungleichheitsfaktoren entlang der intersektionalen Achsen Migrationshintergrund, Geschlecht und soziale Herkunft zu verschiedenen Zeitpunkten eines Studiums (Aufnahme und Abschluss eines Bachelorstudiums, Aufnahme eines Masterstudiums). Lörz zeigt, dass zu jedem dieser Zeitpunkte unterschiedliche Kombinationen von Ungleichheitsfaktoren zu jeweils unterschiedlich zusammengesetzten „Risikogruppen“ führen, in denen zunächst Geschlecht und soziale Herkunft, später soziale Herkunft und Migrationshintergrund einander verstärken.

Dominique Rauch überprüft anhand von PISA 2012-Daten die Time-on-Task-Hypothese, wonach der Gebrauch der L1 den Erwerb der L2 durch zeitliche Limitierung von Lerngelegenheiten einschränke. Die L1-Nutzung in der Familie habe keinen Einfluss auf schulische Kompetenzen, aber die L1-Nutzung mit Freund/-innen und auf dem Schulhof gehe mit weniger guten Lesekompetenzen einher. Für mathematische Kompetenzen gelte dies nur für die L1-Nutzung mit Freund/-innen, nicht auf dem Schulhof. Rauch nimmt an, dass die Variation der Schulleistungen nicht direkt mit dem Gebrauch der L1 zusammenhängt, sondern dass die Ergebnisse auf segregiert zusammengesetzte Stadtviertel hinweisen. Rauch sieht die Time-on-Task-Hypothese nicht generell bestätigt.

Cornelia Kristen, Julian Seuring und Petra Stanat untersuchen ebenfalls Herkunftssprachen, insbesondere Faktoren, die Erwerb und Erhalt der L1 bedingen. In ihren Daten (Hörverstehenstests für Türkisch und Russisch als Teil von NEPS-Daten) zeigt sich eine Abnahme der L1-Kompetenz in der dritten Generation. Durchgängig führt ein häufigerer Gebrauch der L1 zu höheren Werten im Hörverstehenstest.

Tobias Schroedler untersucht Sprachennutzung und -kompetenzen des nichtwissenschaftlichen Personals der Universität Hamburg. Unter dem Personal gibt es 60 gesprochene Sprachen. Die Daten zeigen eine weitverbreitete Nutzung v.a. von Fremdsprachen am Arbeitsplatz. Sehr viele der Angestellten bezeichnen sich als mehrsprachig, davon 175 (von 661) als mindestens fünfsprachig. Meist handelt es sich bei den genannten Sprachen um Schulfremdsprachen.

In einer in Deutschland und Brasilien erhobenen Fallstudie analysiert Sara Fürstenau die sozialen Netzwerke und die Bildungsbiographie von Daiane, einer Migrantin, die mit dem Ziel eines Medizinstudiums nach Deutschland kam, dort zunächst als Au-Pair Deutsch lernte und dann eine Ausbildung als Altenpflegerin abschloss. Fürstenau zeigt detailliert auf, dass bei der oft als „Arbeitsmigration“ betrachteten und von der sog. „Elite-Bildungsmobilität“ internationaler Studierender unterschiedenen Migration ebenfalls Bildungsaspirationen und darüber hinaus der Wunsch nach Autonomie und Selbstverwirklichung zentrale Motive für die Migration darstellen.

Marina Lagemann und Peter Winkler beleuchten anhand von NEPS-Daten die Rolle sozialer Kosten bei der Divergenz eigener Bildungsaspirationen von denen des Freund/-innenkreises. Sind eigene Bildungsaspirationen höher als die des Freund/-innenkreises, zeigt sich häufiger eine geringere Zufriedenheit und ein höheres Problemverhalten im Umgang mit Peers, im umgekehrten Fall nicht.

Die Analysen der meisten Beiträge sind durch ein hohes Maß an Differenziertheit gekennzeichnet. Der sorgfältig diskutierte, statistisch robuste und für Variablen wie sozioökonomische Ungleichheit und Schulleistungen kontrollierte Nachweis von Bildungsungleichheiten entlang aller untersuchten Etappen des deutschen Bildungssystems stellt zweifellos eine Stärke des Sonderhefts dar. Obwohl naheliegend, wird diese Ungleichstellung jedoch nicht als Diskriminierung oder institutioneller Rassismus diskutiert.

Die im Kapitel „Sprachliche Fähigkeiten“ verwendeten Herkunftssprache-Konstrukte gilt es näher zu betrachten. In NEPS und PISA wird Herkunftssprache jeweils als klar trennbare Entität, als einzelne Sprache („L1“) erhoben. Gerade diese klare Trennbarkeit im Sprachgebrauch von lebensweltlich Mehrsprachigen wird seit geraumer Zeit deskriptiv-linguistisch widerlegt (z.B. [1], [2], [3], [4], [5]). Typisch sind vielmehr translinguale Praktiken, d.h. der Gebrauch zweier oder mehrerer Sprachen in Mischungen auf Satz- oder Wortebene. Die NEPS- und PISA-Daten verführen zweifellos dazu, dies zu übersehen, ein Punkt, den auch die Herausgeber/-innen in ihrem Editorial erwähnen; dennoch wäre eine Rezeption der lebendigen linguistischen Forschungsliteratur zu translingualen Praktiken wünschenswert. Darüber hinaus ist die Entwicklung eines Modells von Translingualität als Sprachkompetenz sowie deren Erhebung in Large-Scale-Studien als Desiderat anzusehen, will man aussagekräftige Ergebnisse zu Herkunftssprachen mit großen Fallzahlen erhalten.

Ungeachtet der Kritik ist der Band empfehlenswert für alle, die nach belastbaren Daten für den Nachweis von Bildungsbenachteiligung oder nach datenbasierten, spezifischen Vorschlägen für bildungspolitische Maßnahmen suchen.

[1] Dirim, İnci: „Var mı lan Marmelade?” Türkisch-deutscher Sprachkontakt in einer Grundschulklasse. Münster u.a.: Waxmann 1998.
[2] Auer, Peter: Code-Switching in Conversation: Language, Interaction and Identity. London u.a.: Routledge 1998.
[3] Makoni, Sinfree; Pennycook, Alastair (Hrsg.): Disinventing and (re)constituting languages. Clevedon u.a.: Multilingual Matters 2007.
[4] Otheguy, Ricardo; García, Ofelia; Reid, Wallis: Clarifying translanguaging and deconstructing named languages: A perspective from linguistics. In: Applied Linguistics Review 6 (2015), Nr. 3, 281-207.
[5] Wei, Li: Translanguaging as a Practical Theory of Language. In: Applied Linguistics 39 (2018), Nr. 1, 9-30.
Magdalena Knappik (Wuppertal)
Zur Zitierweise der Rezension:
Magdalena Knappik: Rezension von: Ingrid, Gogolin, / Kai, Maaz, (Hg.): Migration und Bildungserfolg, Herausforderungen und Potenziale Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 22 (Suppl. 1). Wiesbaden: Springer VS 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365821241.html