Anja Gibson setzt sich in ihrer Dissertation mit der Konstruktion von Exzellenz und Elite am Beispiel von zwei Internatsgymnasien in Deutschland, einem traditionsreichen, reformpädagogischen, privaten Internat sowie einem jüngeren, staatlichen Internat, auseinander. Sie folgt mit der Arbeit der Annahme, dass Internatsgymnasien in Deutschland zu den wenigen Einrichtungen exklusiver und elitärer Bildung gezählt werden können. Charakteristisch für diese sind, so Gibson, Selektions- und Separierungsmechanismen, die sich in der Konstitution von Internaten im Besonderen zeigen, beispielsweise durch die Aus- und Anwahl einer besonderen Klientel.
Mit ihrer Dissertation möchte Gibson verschiedenen Fragestellungen nachgehen. So stellt sie einerseits die Frage nach Bildungs- und Exzellenzentwürfen der Internate und der Gestaltung von „Praktiken distinktiver Besonderung und Kohärenzherstellung“ (19) im Unterricht. Andererseits untersucht sie, welche biografischen Orientierungen Jugendliche im Internat aufweisen und ob sich hierin auch distinktive Besonderheiten abbilden. In der Verbindung der verschiedenen Zugänge steht schließlich die Frage nach Passungsverhältnissen der Bildungs- und Exzellenzentwürfe der Internate mit dem Habitus der jeweiligen Jugendlichen. Insgesamt thematisiert sie so (Elite-)Bildungsentwürfe und -Praktiken sowie Habitusformationen der Jugendlichen im Internat. Hervorzuheben ist hier bereits die Auswahl ihres Samples, da die Autorin nicht von außen alle Internate als Einrichtungen der Exzellenz oder Elite definiert, sondern solche Internate auswählt, die sich selbst in Leitbildern u.ä. als solche bezeichnen.
In ihrer theoretischen Auseinandersetzung (Kap. 2) nimmt die Autorin auf drei Fachdiskurse Bezug. Die Elite- und Exzellenztheorien nutzt sie als Hintergrundfolie für die spätere Analyse der Selbstzuschreibungen der Internate. Elite und Exzellenz werden daher vor allem in die Betrachtung von schulinternen Selektionsstrukturen und -mechanismen sowie die Organisation von Schule und Unterrichtsalltag einbezogen. Habitus- und Feldtheorien (u.a. in Anlehnung an Bourdieu) nutzt sie zur Beschreibung und Analyse des Passungsverhältnisses sowie der Transformationen vom familiär entwickelten Habitus und dem sekundärem, durch Schul- und Internatsbesuch vermittelten Habitus. Dabei folgt Gibson in ihrer Analyse einem aus der Schulkulturtheorie und Biografieforschung abgeleitetem individuellen Habitusverständnis (u.a. in Anlehnung an Helsper), so dass sie als dritten Theoriebezug die Schulkulturtheorie vorstellt.
In der Bilanz von Forschungsergebnissen (Kap. 3) zu ihrem Themenfeld der exklusiven Bildungsorte stellt Gibson einerseits deutschsprachige und internationale Studien vor, in denen es um Konstruktion und Prozesse der Elitebildung und -reproduktion geht (3.1) und richtet andererseits einen spezifischen Blick auf Internatsschulen und deren Schulkulturen (3.2) sowie Biografien von Jugendlichen in exklusiven Schulen (3.3). Vergleicht man die vorgestellten Studien mit dem Design und dem Anliegen von Gibson (Kap. 4), wird deutlich, dass sie mit ihrem Studiendesign eine für dieses Feld neue Multiperspektivität anlegt, die a) sehr anschlussfähig an bisherige Studien ist und b) neue und vernetzte Erkenntnisse ermöglichen kann.
So generiert Gibson ihre Ergebnisse aus vielfältigem Material, dass sie aus biografisch-narrativen Interviews mit Jugendlichen, leitfadengestützte Experteninterviews mit Schulleitungen, teilnehmenden Beobachtungen und Analysen von Schuldokumenten gewonnen hat (Kap. 4). Diese verschiedenen Materialien wertet sie in Anlehnung an die dokumentarische Methode aus, verzichtet allerdings auf die soziogenetische Typenbildung, die aber auch aufgrund der geringen Anzahl konkret analysierter Fälle, als wenig zielführend erschienen wäre. Stattdessen folgt sie kontinuierlich der Logik von Mehrebenenvergleichen als Methode der qualitativen Mehrebenenanalyse. So ist es der Autorin möglich, nicht nur die institutionelle, interaktionale oder biografische Dimension, sondern deren Zusammenhang zu analysieren.
Im Ergebnis arbeitet Gibson – zunächst die einzelnen Analyseebenen getrennt (Kap. 5 und 6) und schließlich im Vergleich der Jugendlichen und der Internate (Kap. 7) – heraus, dass beide Internate als Orte der Elitebildung entworfen werden, wobei sich im privaten Internatsgymnasium eine starke Orientierung an schulischen Traditionen zeigt, in der Elite reproduziert werden soll und damit eine spezifische Gruppe Jugendlicher aus „groß- und bildungsbürgerlichem Milieu“ (340) adressiert wird. Im staatlichen Internat soll Elite erst über eine spezifische Ausrichtung bzw. Begabtenförderung, vor allem in „aufstiegsorientierten“ Milieus, produziert werden. Darin spiegeln sich letztlich die unterschiedlichen Adressat/innengruppen der Internate wieder, so dass ein Besuch der Internate erst durch spezifische Selektions- bzw. Auswahlverfahren möglich wird. Auch wenn die befragten Internatsvertreter/innen teils vorsichtig mit der Exzellenz- und Elitesemantik umgehen, rekonstruiert Gibson hinter diesen Mechanismen im privaten Internat Vorstellungen von einer Führungselite, in der Persönlichkeitsentwicklung, Verantwortungs- und Autonomieförderung im Zentrum liegen, sowie im staatlichen Internat einer Verantwortungselite, deren Schwerpunkt in der Stärkung von Talenten, Leistungsförderung und Verantwortung besteht.
Hinsichtlich der Analyse der Jugendlichen und ihren Peerpraktiken werden durch diese Studie zwei kontrastreiche Orientierungen deutlich. So findet sich beispielsweise im privaten Internat eine sehr starke Gemeinschaftsorientierung, die durch Abgrenzung zu Nicht-Internatsschüler/innen bzw. zu staatlichen Schulen vollzogen wird. Dabei betont Gibson, dass sich besonders die Jugendlichen selbst gegenseitig normieren, was am Fallbeispiel „das gelungene ‘Resozialisierungsprojekt‘ – Der Fall Charles“ (Kap. 5.3) besonders deutlich wird. Dagegen beschreibt die Autorin für das staatliche Internat Differenzierungsbestrebungen im Inneren, d.h. zwischen den Jugendlichen, die z.B. in Leistungskonkurrenz zueinander treten. Auf Ebene der Jugendlichen arbeitet Gibson außerdem Passungskonstellationen zwischen der Schule und den Schüler/innen heraus, bei dem aus jeder Schule je ein Schüler auf der Seite „ideal-harmonisch“ oder „ambivalent und spannungsvoll“ beschrieben wird. Dabei werden u.a. vorherige Schul- und Familienerfahrungen sowie das Verhältnis von Leistungsorientierung und Investitionsbereitschaft der Jugendlichen verglichen und damit insgesamt deren Bildungshabitusformationen rekonstruiert.
Die in Kapitel 5, 6 und 7 präsentierten Ergebnisse ordnet die Autorin schließlich im achten Kapitel in den Fachdiskurs ein und reflektiert damit auch ihren Beitrag zu selbigem, während sie im abschließenden neunten Kapitel auf die besonderen Merkmale von Internaten als Sozialisations- und Bildungsräume von Jugendlichen eingeht. So wird letztlich deutlich, dass Internate durch ihre Strukturen besondere Rahmungen für Habitustransformationen sowie Exzellenz- und Elitebildungsprozesse schaffen, die in weniger geschlossenen Bildungsräumen so sicherlich nicht möglich wären.
Insgesamt leistet Gibson mit ihrer Dissertation einen ausgesprochen gelungenen Beitrag zur Fachdiskussion um Exzellenz- und Elitebildung in einem spezifischen Bildungsraum. Insbesondere durch ihre reflektierte Auswahl des Samples beweist sie einen sensiblen Umgang mit dem insgesamt kaum beforschten Feld der Internate. Für die Elite- und Exzellenzdiskussion ist insbesondere der multiperspektivische Blick ihrer Arbeit ein großer Gewinn, der auch für weitere Studien wertvolle Impulse liefert. Aus Perspektive der Internatsforschung besteht eine Limitation dieser Studie in dem sehr spezifischen und auf zwei Internate begrenzten Sample, das nicht als repräsentativ für die deutsche Internatslandschaft anzusehen ist. Insofern sind hier Folgestudien mit größerem Sample denkbar. Weiterhin ist davon auszugehen, dass Gibson durch ihr so vielfältiges und umfassendes Material, selbst noch viele Möglichkeiten hat, das Binnenleben in Internaten wie auch Biografien von Jugendlichen, die im Internat leben, zu rekonstruieren. Schließlich hat sie für die vorliegende Publikation nur einzelne ihrer Materialien ausführlich betrachtet, so dass hier auf weitere Publikationen zu hoffen ist.
EWR 17 (2018), Nr. 5 (September/Oktober)
Klassenziel Verantwortungselite
Eine Studie zu exklusiven, deutschen Internatsgymnasien und ihrer Schülerschaft
Wiesbaden: Springer VS 2017
(471 S.; ISBN 978-3-658-17476-7; 59,99 EUR)
Katrin Peyerl (Marburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katrin Peyerl : Rezension von: Gibson, Anja: Klassenziel Verantwortungselite, Eine Studie zu exklusiven, deutschen Internatsgymnasien und ihrer Schülerschaft. Wiesbaden: Springer VS 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 5 (Veröffentlicht am 31.10.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365817476.html
Katrin Peyerl : Rezension von: Gibson, Anja: Klassenziel Verantwortungselite, Eine Studie zu exklusiven, deutschen Internatsgymnasien und ihrer Schülerschaft. Wiesbaden: Springer VS 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 5 (Veröffentlicht am 31.10.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365817476.html