Naturwissenschaften sind ein relevanter Teil von Bildung – das ist wahrlich keine neue Erkenntnis. Bereits in den 1930er Jahren setzte sich der noch junge Martin Wagenschein mit diesem Gedanken intensiv in den Aufsätzen „Naturwissenschaft durch Bildung“ [1] und „Bildung und Naturwissenschaft“ [2] auseinander. Doch was bedeutet dieser Gedanke mehr als 75 Jahre später und in einer sich durch Migration wandelnden Gesellschaft? Was bedeutet er, wenn man ihn in das Recht auf Bildung als absolutes und unveräußerliches Menschenrecht als zentrales normatives Grundgerüst einordnet? Wie verhalten sich die Begriffe „Fachkultur“, „Macht“ „Sprache im Fachunterricht“ und „Ungleichheit“ zu dem einer „naturwissenschaftliche Bildung“? Dies sind die zentralen Fragen, mit denen sich Tanja Tajmel in ihrer nun veröffentlichten Dissertationsschrift auseinandersetzt. Sie geht dabei sowohl theoretisch, als auch explorativ vor und gliedert ihre Arbeit in insgesamt vier Teile:
Die Autorin beginnt mit der empirischen Ausgangslage und dem begrifflichen Gerüst ihrer Arbeit. Dabei legt sie einen besonderen Schwerpunkt auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem aktuellen Diskurs um Bildungsdisparitäten und kann hierdurch aufdecken, dass im Kontext naturwissenschaftlicher Bildung „die Terminologie unschärfer wurde [...] [und] eine Euphemisierung des Diskurses [stattgefunden hat]“ (121). Im Weiteren stellt die Autorin die Entwicklung des „MINT-Förderdiskurs“ ausgehend vom Spuntik-Schock von 1957 dar. Dabei gelingt es ihr die Verflechtung von naturwissenschaftlicher Bildung mit gesellschaftlichen Interessen ökonomischer und politischer Natur herauszuarbeiten und der_dem Leser_in aufzuzeigen. Um letztendlich das Desiderat einer Reflexiven Physikdidaktik zu begründen, widmet sich Frau Tajmel der Frage „[b]ewegt Migration auch die Physikdidaktik?“ (99). Dieser nähert sie sich mittels einer Diskursanalyse. Deren Herzstück stellt eine Schlagwort-Analyse der Tagungsbände der Gesellschaft für Didaktik der Chemie und Physik von 1973 bis 2015 dar. Die 20, dabei von der Autorin ausgewählten, Schlagwortkategorien lassen sich deduktiv aus ihrer vorherigen Darstellung ableiten, entbehren allerdings nicht der Kritik einer gewissen Willkür (z. B. die Schlagwörter „Ökologie“ oder „Krieg“). Ein induktiv angelegtes Vorgehen würde womöglich zu einem weniger durch theoretische Vorannahmen beeinflussten Ergebnis kommen. An der Schlussfolgerung von Frau Tajmel, dass sich die physikdidaktische Forschung in der letzten Dekade in vielen Teilen am Output und nur kaum gesellschaftspolitisch orientiert, lässt sich trotz der eben genannten methodischen Kritik m. A. n. festhalten.
Teil II der Arbeit widmet sich der Skizze einer Reflexiven Physikdidaktik. Deren zentralen Charakteristika sind das Menschenrecht auf Bildung als Normbasis, die Erforschung von sich hieraus ergebenden Bildungsbarrieren, sowie dem Ziel Ansätze zur Überwindung dieser Barrieren zu entwickeln. Ausgehend vom Rahmenkonzept von Tomaševski [3] konkretisiert und differenziert die Autorin, wie der Begriff „Zugang zu naturwissenschaftlicher Bildung“ verstanden werden kann. Des Weiteren vermag sie durch weitere Analysen Bildungsstrukturen, Fachkultur und Identitätskonstruktionen als drei zentrale Faktoren zu identifizieren, die multikausal den Zugang zu naturwissenschaftlicher Bildung bestimmen. Durch weiteres, systematisches Aufzeigen von Anknüpfungspunkten in der Fachkulturforschung, der Migrationspädagogik, den Gender-Studies und der DaZ / DaF-Forschung führt der von Tanja Tajmel vorgeschlagene Ansatz zudem „Forschungsperspektiven zusammen, die bisher in dieser Form noch nicht zusammengeführt worden sind“ (198) und skizziert eine Vielzahl von Forschungsdesideraten, die sich hieraus ergeben. Die Autorin lädt damit den_die Leser_in zu weiterer, interdisziplinärer Forschung ein, wofür ihre Überlegungen m. E. eine überaus reichhaltige Grundlage darstellen.
Im weiteren Verlauf der Arbeit rückt Frau Tajmel die Rolle von Sprache als Zugangsbarriere für naturwissenschaftliche Bildung in den Vordergrund. Teil III fokussiert dabei das Thema Sprachbewusstheit. Nach einer Darlegung unterschiedlicher Konzeptionen dieses Begriffs widmet sich die Autorin der Aufgabe, diesen im Sinne der von ihr vorgeschlagenen Reflexiven Physikdidaktik zu adaptieren. Hierzu illustriert sie anhand von drei Fallbespielen anschaulich wie sich Sprache zu einer Barriere in verschiedenen Kontexten des Physikunterrichts manifestiert. Allerdings fehlen hier an einigen Stellen Details zum empirischen Vorgehen, wodurch m. E. bezogen auf Teilaspekte die Nachvollziehbarkeit der Darstellung leidet. Auf der Grundlage von theoretischen Überlegungen und ihren explorativen Untersuchungen des Gegenstands entwickelt Frau Tajmel schließlich das Konzept einer kritisch-reflexiven Sprachbewusstheit, das eine professionsbezogene Reflexion der Rolle von Sprache im Physikunterricht ermöglicht und ähnlich wie ihr Ansatz einer Reflexiven Physikdidaktik ein Novum für die fachdidaktische Forschung darstellt.
Der vierte und der letzte Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, wie eine Reflexive Physikdidaktik und eine kritisch-reflexive Sprachbewusstheit für die Praxis gewinnbringend nutzbar gemacht werden können. Die Autorin stellt hierzu mögliche Ansätze auf unterschiedlichen Ebenen vor. M. A. n. sind an dieser Stelle zwei Ansätze besonders hervorzuheben, da diese in der Arbeit sehr ausführlich, überzeugend und gestützt durch eigene empirische Befunde, dargestellt werden: Zum einen beschreibt die Autorin, inwiefern lexikalische Hilfsmittel die Sprachhandlungsfähigkeit von Schüler_innen im Fachunterricht unterstützen und somit Zugangsbarrieren abzubauen vermögen. Zum anderen stellt sie mit dem von ihr entwickelten „Prinzip Seitenwechsel“ eine überzeugende Methode vor, um eine kritisch-reflexive Sprachbewusstheit in Rahmen von Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte zu aktivieren. Bei dieser Methode werden Lehrkräfte dazu aufgefordert eine Aufgabe selbst zu bearbeiten, die für den jeweiligen Unterricht typisch ist und den Einsatz von Sprache erfordert. Die Lehrkräfte dürfen für die Bearbeitung der Aufgabe allerdings nur ihre zweitbeste Sprache einsetzen, wodurch sie in eine Situation hineinversetzt werden, wie sie oftmals Schüler_innen im Unterricht erleben, dessen_deren beste Sprache nicht der Unterrichtssprache entspricht.
Was ist die Quintessenz, die sich aus der Lektüre dieser Arbeit ergibt? Die Autorin hat m. E. ein deutliches Anliegen, nämlich den aktuellen Diskurs um Disparitäten in der naturwissenschaftlichen Bildung kritisch zu hinterfragen, indem sie soziale Exklusionsmechanismen für naturwissenschaftliche Bildung und nicht Leistung oder Interesse von Schüler_innen in den Vordergrund rückt. Mit dem Menschenrecht auf Bildung begründet sie schließlich eine Norm, die eine in sich schlüssige Grundlage zur Identifikation und zum Umgang mit Bildungsbarrieren liefert und sich insbesondere abseits einer Outputorientierung bewegt. Trotz meiner an einigen Stellen geäußerten Kritik bezogen auf das methodische Vorgehen, ist die Aussagekraft von Frau Tajmels empirischen Resultaten nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Vielmehr betont dies noch einmal, dass es sich hierbei um Explorationen handelt. Auf jeden Fall legt die Autorin durch ihre gründliche und konsistente theoretische Aufarbeitung und durch die explizite Nennung einer Vielzahl an weiteren Desideraten, die sich aus ihren Überlegungen ableiten lassen, einen Grundstein für zukünftige fachdidaktische und insbesondere interdisziplinäre Forschung.
[1] Wagenschein, M.: Bildung durch Naturwissenschaft. In: Odenwaldschule (Hrsg.): Aufsätze aus dem Mitarbeiterkreis der Odenwaldschule zu ihrem zwanzigjährigen Bestehen. Heppenheim: o. V. 1930, 5-8.
[2] Wagenschein, M.: Naturwissenschaft und Bildung. In: Die Erziehung 8, H. 5, 1933, 273-285.
[3] Tomaševski, K.: Human rights obligations: making education available, accessible, acceptable and adaptable. Gothenburg: Novum Grafiska AB 2001.
EWR 16 (2017), Nr. 3 (Mai/Juni)
Naturwissenschaftliche Bildung in der Migrationsgesellschaft
Grundzüge einer Reflexiven Physikdidaktik und kritisch-sprachbewussten Praxis
Wiesbaden: Springer VS 2017
(436 Seiten; ISBN 978-3-658-17123-0; 59,99 EUR)
Markus S. Feser (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Markus S. Feser: Rezension von: Tajmel, Tanja: Naturwissenschaftliche Bildung in der Migrationsgesellschaft, Grundzüge einer Reflexiven Physikdidaktik und kritisch-sprachbewussten Praxis. Wiesbaden: Springer VS 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 3 (Veröffentlicht am 30.05.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365817123.html
Markus S. Feser: Rezension von: Tajmel, Tanja: Naturwissenschaftliche Bildung in der Migrationsgesellschaft, Grundzüge einer Reflexiven Physikdidaktik und kritisch-sprachbewussten Praxis. Wiesbaden: Springer VS 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 3 (Veröffentlicht am 30.05.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365817123.html