Lehrer-Schüler-Interaktionen bilden den Kern schulischen Lernens. Als solcher sind sie ein zentraler Bereich der Lehr-Lern-Forschung. Martin Schweer stellte sich im Jahr 2000 die Aufgabe, eine Dokumentation der dazugehörigen Forschungsgebiete zusammenzustellen. Von dieser liegt inzwischen eine dritte, überarbeitete und aktualisierte Auflage vor. Damit reagiert Schweer auf den „seitdem deutlich fortgeschrittene(n), interdisziplinäre(n) Forschungsdiskurs“ (IX).
Für die neue Auflage hat der Herausgeber einmal mehr namhafte Vertreterinnen und Vertreter des Forschungsbereichs (darunter auch neue) aufgeboten, um aktuelle Erkenntnisse zur Lehrer-Schüler-Interaktion überblicksartig darzustellen respektive bisherige Beiträge zu aktualisieren. Neu wird zudem der „Beratungskompetenz von Lehrer*innen“ (IX) in verschiedenen Beiträgen mehr Gewicht beigemessen. Insgesamt wird Schweer seinem Anspruch gerecht, eine „zusammenfassende(…) Darstellung(…)“ (XIII) vorzulegen, die sich inzwischen als ein Standardwerk für Interaktionen im Klassenraum etabliert hat.
Der Sammelband ist – wie bereits in den vorangegangenen Auflagen – in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil ist mit Grundlagen der Lehrer-Schüler-Interaktion überschrieben. Im Kapitel Sozialisationsinstanz Schule beleuchten Siebertz-Reckzeh und Hofmann inner- und außerschulische Rahmenbedingungen, geben aber auch einige Hinweise für die Unterrichtsgestaltung. Kelle, Reith und Metje stellen quantitative und qualitative Empirische Forschungsmethoden sehr allgemein und eher knapp vor. Ein spezifischer Bezug zum Thema des Buches fehlt. Dieser ist hingegen im Beitrag von Thies vorhanden. Sie unterscheidet unidirektionale und komplexe Forschungszugänge zur Lehrer-Schüler-Interaktion und zeigt so auf, wie unterschiedlich diese Forschung je nach Ansatz ausfallen kann. Dann und Haag gehen im Kapitel Lehrerkognitionen und Handlungsentscheidungen auf das Verhältnis von Lehrpersonenwissen und -handeln ein und stellen zu beidem aktuelle Ansätze vor. Im Kapitel Soziale Wahrnehmungsprozesse und unterrichtliches Handeln (Schweer, Thies / Lachner) werden anhand verschiedener Aspekte sozialer Wahrnehmungsprozesse konkrete Implikationen für das Unterrichtshandeln von Lehrpersonen entwickelt. Bei der Psychologie der Lehrerpersönlichkeit legen Eckert und Sieland das Hauptaugenmerk auf die Kriterien Unterrichtserfolg und Resilienz gegen Burnout. Richtigerweise fokussieren sie dann zu deren Vorhersage – entgegen dem Titel – weniger auf schwer veränderbare Persönlichkeitseigenschaften als vielmehr auf das Lehrpersonenverhalten.
Donat, Radant und Dalbert nehmen bzgl. der Psychologie der Schülerpersönlichkeit unterschiedliche Perspektiven ein. So beschreiben sie einerseits den Einfluss der Schule auf die Schülerpersönlichkeit, andererseits den Einfluss letzterer auf die Schulleistung. Exemplarisch greifen sie dafür vier für den Schulerfolg relevante Persönlichkeitskonstrukte heraus. Tausch gibt Anregungen, wie Personzentriertes Verhalten von Lehrern in Unterricht und Erziehung aussehen kann und erläutert anhand empirischer Belege dessen positive Auswirkungen. Im Beitrag Emotion und Motivation in der Lehrer-Schüler-Interaktion fragen Sann und Preisner danach, welche Rolle Emotionen im Lernprozess spielen und wie man die Lernmotivation steigern kann. Auch sie geben Hinweise zur Gestaltung entsprechender lern- und leistungsförderlicher Interaktionen. Das Kapitel zu Schulische(n) Interaktionen aus neuropsychologischer Perspektive wurde neu in das Buch aufgenommen. Piefke erläutert den neuropsychologischen Erklärungsgehalt bzgl. Emotionen und Kognitionen. Zudem beschreibt sie die gängigen Gedächtnismodelle, neuere Ansätze fehlen jedoch. Das Klassenmanagement als Basisdimension der Unterrichtsqualität ist ein zentrales Thema der Lehrer-Schüler-Interaktion, wird jedoch von Ophardt und Thiel eher generell abgehandelt, indem sie verschiedene Anforderungsbereiche für Lehrpersonen erläutern. Das Kapitel Von Erziehungs- und Unterrichtsstilen zur Unterrichtsqualität ist eine Wiederaufnahme aus der ersten Auflage, in der Einsiedler Erziehungsaspekte als Teil der Unterrichtsqualität beleuchtet.
In Teil 2, Zentrale Problem- und Anwendungsfelder, fehlt gegenüber der zweiten Auflage Todts Kapitel über Auffälliges Verhalten im Klassenzimmer. Im Gegenzug wurde er um die Kapitel Doing Difference (Walgenbach) und Inklusive Schul- und Unterrichtsentwicklung (Arndt / Werning) ergänzt, die die aktuelle Debatte um Differenz und Inklusion aufgreifen. Brühwiler, Helmke und Schrader erläutern Determinanten der Schulleistung vor dem Hintergrund des längst etablierten Angebots-Nutzungs-Modells von Helmke. Auch Rost und Sparfeldt vernachlässigen beim Thema Intelligenz und Hochbegabung, zu dem sie verschiedene historische und aktuelle Modelle präsentieren, den Bezug zum Thema des Bandes. Zum Schluss des Kapitels gehen sie jedoch immerhin auf verschiedene Maßnahmen zur Förderung Hochbegabter ein. Der aktuelle Forschungsstand ist treffend zusammengefasst. Moschner stellt in Lern- und Leistungsförderung im Unterricht verschiedene aktuelle Ansätze zur Förderung fächerübergreifender Kompetenzen der Lernenden vor. Die Kapitel Ängste bei Schülerinnen und Schülern (Bilz) und Aggressives Verhalten im Unterricht (Petermann / Lohbeck) beschreiben jeweils verschiedene Formen des Verhaltens, seine Ursachen und Auswirkungen auf Lernprozesse. Der Fokus liegt jedoch auf Präventions- respektive Interventionsmöglichkeiten, die sich zumeist auf die Lehrer-Schüler-Interaktion beziehen. Insofern wird auch in diesen beiden Kapiteln wiederum die Beratungskompetenz von Lehrpersonen thematisiert. Ähnliches gilt für den Beitrag Konflikte und Konfliktbewältigung im Unterricht, jedoch spricht Neubauer auch explizit Schüler-Schüler-Interaktionen an. Eher wieder generell gehalten ist der Beitrag zur Lehrer-Schüler-Interaktion in der Migrationsgesellschaft (Auernheimer / Rosen). Mit der interkulturellen Kompetenz zeigen aber auch sie wiederum Handlungsmöglichkeiten für die Lehrperson auf. Horstkemper wirft in ihrem Beitrag Geschlechtsrollenidentität und unterrichtliches Handeln anhand von kritisch analysierten Beispielen die Frage auf, welchen Beitrag Lehrer-Schüler-Interaktionen zur Geschlechtsrollenentwicklung leisten. Wiederum sehr praxisorientiert zeigen sich Lohaus, Domsch und Klein-Heßling, die Ansätze zur Gesundheitsförderung im Unterricht vorstellen. Wie Medien im Unterricht lernförderlich eingesetzt werden können, zeigt Herzig eher wieder recht allgemein auf. Mit dem Vertrauen im Klassenzimmer fokussiert Schweer auf eine Basisbedingung für gelingende Lehrer-Schüler-Beziehungen und -Interaktionen und leitet entsprechende Implikationen für Lehrpersonen ab. Grewe stellt die wichtigsten Forschungsergebnisse zu Soziale(r) Interaktion und Klassenklima sowie Möglichkeiten der Einflussnahme durch die Lehrperson vor. Die Lehrer-Schüler-Interaktion im Kontext von Schulentwicklung betrachtet Bauer, der sich u.a. auch wieder auf das Angebots-Nutzungs-Modell bezieht, um Unterrichtsgeschehen für die Schulentwicklung greifbar zu machen.
Laut Klappentext richtet sich der Band an „Pädagog*innen, Erziehungs- und Bildungswissenschaftler*innen“. Für diese Zielgruppe bietet er einen kompakten, aber nicht vertieften, Überblick über die behandelten Themen. Diesen Anspruch erhebt der Herausgeber aber auch nicht. Als Einführung sind die verschiedenen Beiträge auch gut im Rahmen von Lehrveranstaltungen zur Lehrer-Schüler-Interaktion nutzbar. Auch Lehrpersonen erhalten durch die Lektüre einen Überblick über die Themengebiete; insbesondere ihnen wird der neue Fokus auf die Beratungskompetenz, der v.a. im zweiten Teil des Bands sichtbar wird, zu Gute kommen.
EWR 16 (2017), Nr. 5 (September/Oktober)
Lehrer-SchĂĽler-Interaktion
Inhaltsfelder, Forschungsperspektiven und methodische Zugänge
3., ĂĽberarbeitete und aktualisierte Auflage
3., ĂĽberarbeitete und aktualisierte Auflage
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2017
(633 Seiten; ISBN 978-3-658-15082-2; 69,99 EUR)
Birte Knierim (Bern)
Zur Zitierweise der Rezension:
Birte Knierim: Rezension von: Schweer, Martin (Hg.): Lehrer-SchĂĽler-Interaktion, Inhaltsfelder, Forschungsperspektiven und methodische Zugänge 3., ĂĽberarbeitete und aktualisierte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 5 (Veröffentlicht am 26.09.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365815082.html
Birte Knierim: Rezension von: Schweer, Martin (Hg.): Lehrer-SchĂĽler-Interaktion, Inhaltsfelder, Forschungsperspektiven und methodische Zugänge 3., ĂĽberarbeitete und aktualisierte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 5 (Veröffentlicht am 26.09.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365815082.html