Mit der Bedeutungssteigerung von Bildung, aber auch in dem Versuch, sich als pĂ€dagogische Avantgarde zu positionieren und gleichzeitig den Ruf âpĂ€dagogischer Desperadosâ [3] abzulegen, steigt das Interesse der freien Alternativschulen an öffentlicher Wahrnehmung und Rechenschaftslegung. Von der empirischen Schulforschung ist dieses Feld bislang kaum erschlossen worden [1].
Vor diesem Hintergrund ist die Studie von Randoll, Graudenz und Peters zu Bildungserfahrungen an Freien Alternativschulen einzuschĂ€tzen, die als explorative Evaluationsforschung im Zusammenhang mit dem Bundesverband der Freien Alternativschulen (BFAS) durchgefĂŒhrt wurde. Sie mag der Legitimation nach auĂen dienen, kann aber auch Entwicklungsimpulse fĂŒr die Schulen im Verband geben und leistet in jedem Fall einen Beitrag zur groĂflĂ€chigen ErschlieĂung des Forschungsfeldes. Methodisch beruht sie auf einem SchĂŒler*innenfragebogen, dessen Itemsammlung wesentlich aus einer frĂŒheren Studie an Montessori-Schulen stammt [2], ergĂ€nzt um alternativschulspezifische Fragen. Erfasst wurden etwa die HĂ€lfte der im Jahr 2013 / 14 bundesweit an freien Alternativschulen lernenden SchĂŒler*innen in der Sekekundarstufe I.
Der Studie geht es nicht um Hypothesentestung, sondern um eine explorative Panoramasicht auf âLernerfahrungen und SchulqualitĂ€tâ. Auch ist im Hinblick auf die theoretische Fundierung anzumerken, dass der prominent gesetzte Begriff der âBildungserfahrungâ nicht theoretisch fundiert, sondern eher metaphorisch verwendet wird. Gleichwohl bieten die Autor*innen eine Reihe von Ergebnissen an, die ein flĂ€chendeckendes Bild an âErfahrungen, Erwartungen und WĂŒnschenâ von Lernenden an Freien Alternativschulen zu zeichnen vermögen (117).
In einem Vorwort betont Andreas Lischeswki die Unterschiedlichkeit der Einzelschulen im Verband. AllgemeingĂŒltige Aussagen mĂŒssten vor dem Hintergrund dieser DiversitĂ€t gesehen werden. Er konstatiert eine programmatische Entwicklung, in welcher eine âgewisse fundamental-demokratische Ausrichtungâ (5) insbesondere in den westdeutschen Schulen dem âeffektive[n] Lernerfolg durch Persönlichkeits-âBildungââ (11) als Leitmotiv weiche. Damit scheinen die Schulen einen auf Leistung bezogenen Individualisierungstrend aufzunehmen, wie er auch an staatlichen Regelschulen deutlich zu beobachten ist.
Der empirische Teil der Studie umfasst im Wesentlichen drei Abschnitte. ZunĂ€chst werden die Items des Fragebogens dreizehn Bereichen zugeordnet, die sich mit dem VerhĂ€ltnis der SchĂŒler*innen zur Schule, zu ihren Lehrer*innen, zu Lehr-Lernkontexten, zu ihrem subjektiven Empfinden ihrer Lernerfahrungen etwa im Hinblick auf Leistung sowie verschiedene FĂ€cher oder ihre individuelle Freiheit bei der Organisation des Lernens beschĂ€ftigen. Die Schulen erhalten von ihrer SchĂŒler*innen insgesamt ein sehr gutes Urteil. Die SchĂŒler*innen fĂŒhlen sich ihrer jeweiligen Schule zugehörig und identifizieren sich positiv mit ihr (21f). Diesen Sachverhalt begrĂŒnden die Autor*innen insbesondere mit der wahrgenommenen QualitĂ€t der Arbeit der Lehrer*innen. In den Antworten der SchĂŒler*innen zeichnet sich ein Bild Ă€uĂerst engagierter und ihnen zugewandter Kollegien ab. Angesichts der Befunde der aktuellen Pisa-Studie, die die groĂe Bedeutung und gleichzeitig die in Deutschland offensichtlich wenig ausgeprĂ€gte QualitĂ€t der SchĂŒler-Lehrer-Beziehung betont, verweist die Studie damit darauf, dass an freien Alternativschulen in exemplarischer Weise die schulpĂ€dagogische Beziehungsgestaltung erforscht werden könnte.
Einerseits zeigen die Befunde, dass dieses ArbeitsbĂŒndnis wesentlich auch auf der groĂen individuellen Freiheit (etwa im Hinblick auf die Teilhabe an der Gestaltung des Lernens und der Schule) basiert. Andererseits scheint der Umgang mit ihr jedoch â etwa fĂŒr lernschwache SchĂŒler*innen â auch nicht immer leicht (115f). Angesichts der Ergebnisse erscheinen genauere Analysen des Umgangs mit Freiheit auf den verschiedenen Ebenen des Schulalltags innerhalb der Einzelschule gewinnbringend. Auch die Lern- und Leistungskultur wird als ambivalent dargestellt. Zwar hĂ€lt eine ĂŒberwiegende Mehrzahl der SchĂŒler*innen die Lernformate fĂŒr sinnvoll, abwechslungsreich sowie interessant und verfĂŒgt ĂŒber ausreichend Zeit zur Bearbeitung von Projekten, in denen sie eigenen Interessen nachgehen können (44f). Insgesamt scheint es â so resĂŒmieren die Autor*innen â den Schulen dennoch schwer zu fallen, âein ausgewogenes VerhĂ€ltnis zum Thema Leistung zu definierenâ (120). Hier lieĂe sich die Frage stellen, ob eine dem Programm der Schulen zugrundeliegende Kritik an der Leistungsgesellschaft nicht im Sinne eines âhidden curriculumâ zur Tabuisierung von Leistung und damit zum von Randoll et al. festgestellten diffusen VerhĂ€ltnis der SchĂŒler*innen von Freien Alternativschulen zu diesem Thema beitrĂ€gt.
Die Ergebnisse der Studie fĂŒhren die Autor*innen zu der Annahme, dass das Ziel der freien Alternativschulen weniger in hohen AbschlĂŒssen zu sehen sei, als darin, âjedem SchĂŒler â gemessen an seinen Potentialen etc. â eine fĂŒr ihn befriedigende Schulzeit zu ermöglichenâ (117). Damit wĂŒrden die Daten dem Anspruch einer âsalutogenetischenâ Schulform (VII) entsprechen. Der Vergleich einzelner Ergebnisse lĂ€sst auf komplexe und ambivalente VerhĂ€ltnisse der SchĂŒler*innen insbesondere zu schulischen Freiheiten und Leistung schlieĂen. Angesichts solcher Ambivalenzen im Antwortverhalten der SchĂŒler*innen erscheint eine weiter differenzierende qualitative Forschung zu drei Aspekten lohnenswert zu sein: Eine qualitative Absolventenstudie wĂ€re von Interesse, die die Ehemaligen in der RĂŒckschau beurteilen lĂ€sst, wie sie die Schulzeit bilanzieren, welche biografischen Orientierungen und Impulse sie dort erhalten haben und wie sie ĂbergĂ€nge in staatlichen Bildungseinrichtungen bewĂ€ltigen. Zudem scheint trotz des positiven SchĂŒlerurteils das VerhĂ€ltnis zur Leistung auch unter den Lehrer*innen ein höchst ambivalentes zu sein. Hier böte sich ebenfalls ein qualitatives Forschungsdesign an, um die Spannungen zwischen dem Versprechen der freien Persönlichkeitsentwicklung, der Entwicklung von Selbst- und Kollektivverantwortung sowie den staatlich-institutionellen Rahmensetzungen, in welche auch diese Schulen eingebunden sind, in einer schul- und professionstheoretischen Perspektive zu beschreiben. Angesichts der Tatsache, dass z.B. ĂŒber zwei Drittel der SchĂŒler*innen meinen, auf den Morgenkreis, der in der programmatischen Orientierung an Partizipation an diesen Schulen eine zentrale Rolle spielt, verzichten zu können (21), stellt sich schlieĂlich die Frage, ob und wie die freien Alternativschulen dem erwĂ€hnten Anspruch gelebter und praktizierter Demokratie gerecht werden, der fĂŒr die meisten Schulen einen inhaltlichen Schnittpunkt darstellt.
Mit der vorliegenden Studie verfĂŒgen wir erstmals ĂŒber quantitative Befunde zu dieser sehr diversen Schulform. In Zukunft wĂ€re die in der Studie bereits eingeschlagene Vergleichsperspektive weiterzutreiben in Richtung einer komparativen Reformschulforschung, die dem vorliegenden evaluativen Modus eine Grundlagenforschung in komplexen methodologischen Zuschnitten zur Seite stellt.
[1] Idel, Till-Sebastian; Ullrich, Heiner (2008): Reform- und Alternativschulen, in: Helsper, Werner; Böhme, Jeanette [Hg.]: Handbuch zur Schulforschung, Wiesbaden: Springer VS, S. 363-386.
[2] Liebenwein, Sylvia; Barz, Heiner; Randoll, Dirk (2013): Bildungserfahrungen an Montessorischulen. Empirische Studie zu SchulqualitÀt und Lernerfahrungen, Wiesbaden: Springer VS.
[3] OelschlÀger, Heinz-Jörg (1993): Alternativschule, in: Lenzen, Dieter [Hrsg.]: PÀdagogische Grundbegriffe, Bd. 21, Reinbeck: Rohwolt, S. 38-56.
EWR 16 (2017), Nr. 6 (November/Dezember)
Bildungserfahrungen an Freien Alternativschulen
Eine Studie ĂŒber SchĂŒleraussagen zu Lernerfahrungen und SchulqualitĂ€t
Wiesbaden: Springer VS 2017
(153 Seiten; ISBN 978-3-658-14636-8; 29,99 EUR)
Sven Pauling (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sven Pauling: Rezension von: Randoll, Dirk / Graudenz, Ines / Peters, JĂŒrgen: Bildungserfahrungen an Freien Alternativschulen, Eine Studie ĂŒber SchĂŒleraussagen zu Lernerfahrungen und SchulqualitĂ€t. Wiesbaden: Springer VS 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 6 (Veröffentlicht am 07.12.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365814636.html
Sven Pauling: Rezension von: Randoll, Dirk / Graudenz, Ines / Peters, JĂŒrgen: Bildungserfahrungen an Freien Alternativschulen, Eine Studie ĂŒber SchĂŒleraussagen zu Lernerfahrungen und SchulqualitĂ€t. Wiesbaden: Springer VS 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 6 (Veröffentlicht am 07.12.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365814636.html