Die Zahl der Privatschulen hat sich in den letzten 30 Jahren fast verdoppelt und es kam zu einer Pluralisierung der Trägerschaften und inhaltlichen Ausrichtungen. Allerdings befindet sich immer noch der Großteil der Privatschulen in kirchlicher Trägerschaft. Das Buch von Margaret Kraul beschäftigt sich mit der aktuellen Debatte um diese wachsende Anzahl von Privatschulen und wählt hierbei die Perspektive der Schulen als Anbieter und Eltern als Abnehmer. Daraus ergeben sich für die Autorin des Buches verschiedene Fragestellungen: Zielt die Anbieterseite auf eine spezielle Förderung besonders exzellenter Schüler oder Schüler, die besonderer Zuwendung bedürfen, um ihre Potenziale auszuschöpfen? Nehmen Prozesse der vertikalen Ausdifferenzierung einzelner Schulformen und soziale Distinktion zu? Neben diesen Fragen widmet sich das Buch der Suche nach den Hintergründen und Motivationen der Anwahl von Privatschulen auf der Anbieterseite. Die Ergebnisse des Buchs stützen sich auf eine empirische Studie zu privaten Schulen in Deutschland.
Thematischer Ausgangspunkt der Arbeit ist der Boom des Privatschulwesens in den letzten Jahren bei einer gleichzeitigen Ausdifferenzierung des Feldes. Den Grund dafür identifiziert die Autorin im Wechselspiel von Angebot und Nachfrage der Privatschulbildung: Auf der Angebotsseite werden Schulen mit verschiedenen Profilierungen und auf der Nachfrageseite die Eltern als steuernde Akteure über die Schulwahl ihrer Kinder genannt. Das Konzept von Angebot und Nachfrage, also Schule und Eltern, mit der Zwischenposition der Lehrkräfte, ist die analytische Schlüsselkategorie der Studie. Nachdem verschiedene länderspezifische Aspekte des Privatschulwesens in Europa dargestellt werden, geht die Autorin dazu über, die spezifische Situation in Deutschland, die in der Verbindung des öffentlichen und privaten Schulwesens liegt, darzustellen.
Im zweiten Kapitel werden die Theorien, auf die sich die Studie bezieht, und das Forschungsdesign vorgestellt. Die Autorin zieht die „Quasi- Markt“ orientierten theoretischen Konzepte der Neuen Steuerung und die Stärkung der Autonomie der Einzelschulen im Wettbewerb heran, um private Schulen als Anbieter in den Blick zunehmen. Auf der Abnehmerseite wird u.a. die Theorie der kulturellen Passung bezogen auf die Schule und das Elternhaus herangezogen. Schulkulturkonzepte werden aus einer ethnographisch-praxeologischen Perspektive angelegt und um das Konzept der Schulkultur nach Helsper ergänzt. Die Mixed-Methods-Studie begibt sich auf verschiedene methodisch-methodologische Forschungsebenen (quantitative und qualitative Forschungs- und Auswertungsmethoden), die miteinander in einem mehrstufigen Forschungsprozess bearbeitet werden, wobei die quantitative Fragebogenstudie die Grundlage für den qualitativen Teil der Untersuchung bildet. Im qualitativen Teil der Studie werden als Materialien der sog. Anbieterseite Homepages, Flyer sowie ethnographische Protokolle der Schulbesuche in den Blick genommen. Das Hauptaugenmerk liegt aber auf thematisch fokussierten Leitfadeninterviews mit Schulleitungen sowie auf der Abnehmerseite auf Gruppendiskussionen mit Eltern von Kindern aus verschiedenen Klassenstufen. Im quantitativen Teil der Untersuchung wird ein Feldmonitoring der privaten Schulen in Deutschland auf Basis verschiedener Statistiken (Statistisches Bundesamt, Mikrozensus) vorgeschaltet, um die untersuchte Region für die qualitative Studie als repräsentativ und schulstrukturell vergleichbar auszuwählen. Methodisch lässt die Untersuchung einige Punkte im Unklaren. Zum Beispiel bleibt im qualitativen Teil der Untersuchung die Auswertungsmethode im Dunkeln. Die Analysen sind durchzogen von Vokabularien der dokumentarischen Methode und der objektiven Hermeneutik, wobei jedoch unklar bleibt, wie die Ergebnisse konkret gewonnen wurden.
Im qualitativen Teil der Studie (Kapitel 3-6) werden sehr anschaulich die Schulfallstudien der vier untersuchten Schulen dargelegt. Die St. Theresa-Schule, ein katholisches Gymnasium, repräsentiert hierbei die Schule des Typs leistungsorientierter Schulen, in dem der Leistungsanspruch mit der konfessionellen Wertorientierung an der Schule auf verschiedenen Ebenen (Lehrer und Schulleitung) miteinander verwoben ist. Die August-Neander-Schule als ebenfalls konfessionelle Gesamtschule mit förderpädagogischen Anteilen legt demgegenüber Wert auf inklusive Aspekte von Fordern und Fördern, was im schulischen Alltag und aus Sicht der beteiligten Akteure durchaus problematisch sein kann. Die SIBELL, eine bilinguale internationale Schule, die ein Angebot von der Kita bis zum Abitur ihrem sprachlich orientierten Klientel offeriert, ist durch verschiedene schulpolitische Veränderungen stark gekennzeichnet, die zu Spannungen auf Schulleitungs- und Elternebene geführt haben. Der Dienstleistungsgedanke scheint bei dieser Elternklientel am stärksten zu sein, wobei die Eltern die Schule als eine exklusive reformpädagogische Insel für ihre Kinder begreifen. Aspekte einer gelebten Internationalität auf Ebene hochmobiler Familien fehlen in der Darstellung dieser Schule. Internationalität wird hier scheinbar lediglich über die Mehrsprachigkeit der Lehrkräfte hergestellt. Die Christian-Morgenstern-Schule symbolisiert in der untersuchten Bildungsregion eine reformpädagogische Ausrichtung mit ihrem anthroposophischen Weltbild der Waldorfschule. Damit wird dem Leistungsbegriff hier eine Haltung gegenübergestellt, die die Lebenstüchtigkeit und Persönlichkeitsbildung der Schülerinnen und Schüler fördern möchte.
Die übergreifenden Ergebnisse werden im siebten Kapitel vorgestellt und die Schulen dabei systematisch verglichen: Die Autorin stellt fest, dass der Einklang von Schulleitung, Träger und einer engagierten Elternschaft den Schulerfolg von Privatschulen befördert, was sich an den Spannungen der SIBELL deutlich zeigt. Leistungsförderung und Schulgemeinschaft kommen unterschiedlich stark in den verschiedenen Schulen zum Ausdruck, werden aber immer als Dualität verhandelt. Der Fokus auf das individuelle Kind wird aus Sicht der meisten Eltern an staatlichen Schulen nicht verwirklicht. Damit geht oft ein Misstrauen dem Regelschulsystem gegenüber einher. Die Eltern argumentieren mit der Hinwendung zu reformpädagogischen Ausrichtungen, die eine individuelle Förderung des Kindes hervorheben. Ebenfalls sehr deutlich werden die Passung der soziokulturellen Milieus der Elternschaft, des Schulprofils und der Schulkultur an den jeweiligen Schulen und die damit verbundenen Distinktionspraxen hervorgehoben, wobei unklar bleibt, wer hier wen wählt – die Schule ihre Klientel oder die Klientel die Schule.
Die Studie von Margret Kraul ist eine interessante Detailuntersuchung zu bestimmten Privatschulen und ihrer Klientel in der Passung zur Schule. Dabei werden für eine Region vier spezifische Schulen unterschiedlicher Schulformen und -profile in den Blick genommen. Ein Überblick auf den regionalen Schulmarkt dieser Stadt wird damit sehr ausführlich gegeben. Dass die vier Schulen nicht auf allen Ebenen des Schulmarktes der Region miteinander in Konkurrenz stehen, stellt die Autorin selbst an einigen Stellen fest. Dennoch werden Erkenntnisse darüber, wie sich Privatschulen und ihre Elternklientel – nach Innen wie Außen – abgrenzen deutlich, die mit sozialen Distinktionspraktiken zusammenhängen. Diese werden aber nicht mit den verschiedenen zu Beginn angeführten Theoriekonzepten in Verbindung gesetzt, so dass hier eine Lücke zwischen theoretischen Konzepten und empirischen Ergebnissen entsteht. Dem Anspruch des Buchs, die Aspekte des pädagogischen Anspruchs privater Schulen und ihre aber damit auch immer verbundene soziale Distinktion, egal ob nach außen oder innen gewendet, anhand verschiedener Schulbeispiele anschaulich darzustellen, wird die Studie durchaus gerecht. Auch wenn an der einen oder anderen Stelle neben den Distinktionsprozessen auch immer die andere Seite der Kohärenzherstellung im Sinne einer Gemeinschaft der Schule oder Eltern als In-Group teilweise schon anklingt, wäre diese allerdings insgesamt stets mitzudenken. Die Studie ist als detaillierte und genaue Analyse einer regionalen Privatschulsituation zu lesen, deren Ergebnisse sicherlich auf andere Regionen übertragen werden können und somit auch analytischen Mehrwert über die Region hinaus haben. Wie genau sie allerdings auch für andere Regionen spricht – darüber wäre erst zu urteilen, wenn sie methodisch transparenter und genau nachvollziehbar wäre.
EWR 16 (2017), Nr. 5 (September/Oktober)
Pädagogischer Anspruch und soziale Distinktion
Private Schulen und ihre Klientel
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2017
(207 Seiten; ISBN 978-3-658-11694-1; 29,99 EUR)
Katrin Kotzyb (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katrin Kotzyb: Rezension von: Kraul, Margret: Pädagogischer Anspruch und soziale Distinktion, Private Schulen und ihre Klientel. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 5 (Veröffentlicht am 26.09.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365811694.html
Katrin Kotzyb: Rezension von: Kraul, Margret: Pädagogischer Anspruch und soziale Distinktion, Private Schulen und ihre Klientel. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2017. In: EWR 16 (2017), Nr. 5 (Veröffentlicht am 26.09.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365811694.html