Die unter den Stichworten ‚Heterogenität‘, ‚Differenz‘ und ‚Ungleichheit‘ geführten Debatten sind aktuell unübersehbar – und zunehmend unüberschaubar. Nachdem sie sich zunächst in erster Linie um ‚den richtigen Umgang‘ mit Heterogenität in pädagogischen Kontexten gedreht haben, verschieben sich die Diskurse seit einiger Zeit hin zu sozialkonstruktivistischen und dekonstruktivistischen Zugängen zu Differenz [1]. Der Titel des von Isabell Diehm, Melanie Kuhn und Claudia Machold herausgegebenen Sammelbands deutet hier eine Art Zwischenbilanz für die Debatten über Differenz und Ungleichheit in der Erziehungswissenschaft an.
Ausgangspunkt der Überlegungen der Herausgeber_innen ist die Diagnose, dass das Bildungssystem mit allen seinen Ebenen an der Re-Produktion von Differenz und auch Ungleichheit beteiligt ist, also Differenzen in ihm nicht einfach vorgefunden, sondern erst praktisch hervorgebracht werden. Die Brisanz dieser Thematik führt sie zu der Frage nach einem spezifisch erziehungswissenschaftlichen Zugang zu Differenz und Ungleichheit, dessen Kennzeichen im Band diskutiert werden sollen (1).
Neben einer Einleitung der Herausgeber_innen, welche die (inter-)disziplinären Diskussionen über Differenz und Ungleichheit konzise systematisiert, umfasst der Band 14 Beiträge von 23 Autor_innen. Der Aufbau gliedert sich in die drei Teile: Historische und systematische Zugänge – methodologische Zugänge – empirische Zugänge.
Der erste Teil beginnt mit einem Beitrag von Annedore Prengel. Entlang ihrer bisherigen Forschungen zur Anerkennung von Differenz identifiziert sie die Menschenrechte und das „Prinzip der Verletzlichkeit aller Menschen“ als Legitimationsfiguren einer „Inklusiven Pädagogik der Vielfalt“ (31). Diese biete einen Ansatzpunkt dafür, Verschiebungen „vertikale[r] und horizontale[r] Relationen“ (40) von Ungleichheit und Differenz in der Bildung zu erproben – aktuell unter Bedingungen eines sich dem Leistungsprinzip verschreibenden Bildungssystems. Damit gibt sie den meritokratiekritischen Ton des Sammelbands vor. So kritisiert etwa Daniel Hofstetter die Dominanz quantitativer Ungleichheitsforschung meritokratischer Provenienz (Stichwort: „rational choice theories“). Er plädiert für weitere qualitative Studien zu den Praktiken des Schulpersonals und der Bildungsteilnehmenden, um überhaupt erst aufzeigen zu können, auf welche Art und Weise Bildungsungleichheiten reproduziert werden. Helga Kelle, Friederike Schmidt und Anna Schweda nehmen den Gedanken des Prozesscharakters von Bildungsentscheidungen auf und argumentieren, dass sich für die Erforschung von Entstehung und Abbau von Bildungsungleichheiten die gängigen Instrumente der quantitativen Bildungsforschung für den Elementarbereich nicht eignen. Ãœber die Untersuchung der Effekte von Interventionsmaßnahmen zum Abbau von Ungleichheit hinaus seien Bildungskarrieren in ihrer langfristigen Formierung zu rekonstruieren (75). Das erste Kapitel schließt mit einem Beitrag von Patricia StoÅ¡ić, die die „Erfindung und Karriere“ (83) der Differenzkategorie ‚Migrationshintergrund‘ rekonstruiert. Interessant erscheint ihre aus einem systemtheoretischen Zugang formulierte These, dass ‚Migrationshintergrund‘ als Kontingenzformel zu dechiffrieren sei, die die Möglichkeit biete, „alle diejenigen zu ‚versammeln‘, die eines gemeinsam haben: potenzielle Fremdheit in Bezug auf ihre kulturelle Herkunft" (94).
Den zweiten Teil - methodologische Zugänge - eröffnen Marcus Emmerich und Ulrike Hormel, die präzise weitreichende Kausalitätsprobleme in der erziehungswissenschaftlichen Ungleichheitsforschung formulieren. Dazu bestimmen sie das Verhältnis quantitativer und qualitativer Forschung zur Entstehung von Differenz und Ungleichheit und identifizieren die „Kategorienabhängigkeit ungleichheitsorientierter Forschung“ als „ein Methodengrenzen überschreitendes Reflexionsproblem“ (103). Dass in Zeiten der Heterogenitätsforschung Fragen nach Gleichheit und Homogenität weitgehend vernachlässigt werden, diagnostiziert Cornelie Dietrich und erweitert den Band damit um einen wichtigen Aspekt. Sie analysiert in den neueren erziehungswissenschaftlichen Debatten drei Zugänge zum Gleichheitsbegriff und skizziert, wie homogenisierende Alltagspraktiken in pädagogischen Feldern zukünftig erforscht werden können. Till-Sebastian Idel, Kerstin Rabenstein und Norbert Ricken kehren zum Thema Differenz zurück und loten die Potentiale ethnographischer Forschung zur (Re-)Produktion von Differenz und Ungleichheit speziell im schulischen Unterricht aus. Sie kommen zu dem Schluss, dass die im Unterricht erzeugten Differenzierungen erst im Zusammenspiel mit „Leistung“ als „unterrichtliche[r] Leitdifferenz“ (153), die ihrerseits zugeschrieben wird, ihre Relevanz für schulischen (Miss-)Erfolg erhalten. Auf die Problematik des Zusammenhangs von Differenzierungen und Bildungsverläufen fokussiert der Beitrag von Claudia Machold. Sie stellt mit dem „Datenbasierten Porträt“ ein komplexes Forschungsinstrument vor, mit dem in einem methodenpluralen Zugang Forschungen zu pädagogischen Unterscheidungspraktiken mit Forschungen zu Bildungsverläufen in Kindertagesstätte und Grundschule verschränkt werden können. Im Gegensatz zur schulischen Leistungsordnung (vgl. den vorigen Beitrag) markiert sie die Orientierung an Sprache und Entwicklung als dominante pädagogische Ordnung in Kindertagesstätten.
Den dritten Teil des Sammelbands - empirische Zugänge - bilden sechs Beiträge aus den Feldern Kindertagesbetreuung und schulischer Unterricht. Jürgen Budde und Georg Rißler rekonstruieren anhand eines Fallbeispiels aus einer ethnographischen Studie die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit im Unterricht sowohl auf Ebene der Praktiken als auch der Einstellungen der Lehrpersonen. Ihnen gelingt es zu zeigen, wie es zu komplexen „Prozesse[n] schulischer Exklusion" (196) kommt. Einen im Vergleich zu den anderen Beiträgen des Bandes anderen Fokus auf Bildungsungleichheit legen Doris Bühler-Niederberger und Aytüre Türkyilmaz: Sie betonen den „eigenen Beitrag der Kinder zu ihrem Erfolg" (199) und verabschieden sich von der Vorstellung, dass Kinder Erfolgschancen nur erben: Vielmehr arbeiten Eltern und Kinder interaktiv an „systematische[n] Versuche[n], auf den schulischen Erfolg Einfluss zu nehmen" (204). Leider bilden sich in den vorgestellten Auszügen und Analysen der Leitfadeninterviews die Beiträge der Kinder nicht in dem Ausmaß ab, wie es die Autor_innen in Aussicht stellen. Susanne Miller und Brigitte Kottmann typisieren Entscheidungsstrategien von Grundschullehrkräften, die über die Überprüfung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs entscheiden müssen. Dass diejenigen Lehrkräfte, die in einem bereits integrativen oder inklusiven Setting tätig sind, kaum kritische Haltungen gegenüber der Überprüfung einnehmen und den Vorteil zusätzlicher Ressourcen betonen, führt die Autor_innen zum eigentlich brisanten Punkt ihres Beitrags: Dieser Befund belege erneut „das institutionelle Beibehalten und Ausbauen von Etikettierung gerade auch in Zeiten von Inklusion", die den „Systemerhalt der Sonderpädagogik" garantiere (234). Angesichts der fortschreitenden Kommerzialisierung von Kindestagesbetreuung stellt Johanna Mierendorff die Frage nach „neuen narrative[n] Praktiken sozialer Distinktion“ (241). Ausgehend von Begründungs- und Legitimationsfiguren der Akteur_innen kommerzieller Einrichtungen untersucht die Autorin den Zusammenhang von Organisationssystem und wohlfahrtsstaatlichen Prinzipien.
Die letzten beiden Beiträge widmen sich dem Thema Mehrsprachigkeit im Bereich frühpädagogischer Einrichtungen. Während Argyro Panagiotopoulou in ihrem Beitrag eine ethnographische Beobachtung in einer Kindertageseinrichtung in einer deutschen Großstadt und ein Expert_inneninterview mit der Leiterin einer deutschen Kindertageseinrichtung in Montreal vergleichend unter der Fragestellung auswertet, wie Differenz in Bezug auf Mehrsprachigkeit diskursiv hergestellt wird, zeigen Melanie Kuhn und Sascha Neumann anhand der Analyse eines Expert_inneninterviews mit der Leiterin einer bilingualen Kindertageseinrichtung in der Schweiz, wie die Sprachen Deutsch und Französisch hierarchisiert werden.
Bei den empirischen Beispielen fällt in methodologischer Hinsicht eine gewisse Einseitigkeit auf, da hauptsächlich auf Daten aus qualitativen Interviews zurückgegriffen wird. Hier wäre gerade auch vor dem Hintergrund des offen gehaltenen Buchtitels eine größere Vielfalt der (qualitativen) Erhebungsmethoden wünschenswert gewesen.
Insgesamt gelingt es den Beiträgen, die Rolle von Bildungsinstitutionen und ihren Akteur_innen bei Prozessen der Herstellung und Zuschreibung von Differenz systematisch-methodologisch und empirisch zu bearbeiten sowie ihre Bezogenheit auf (Bildungs-)Ungleichheiten darzustellen. Der Band leistet v.a. einen relevanten Beitrag zur Bearbeitung ungleichheitstheoretischer Herausforderungen für ethnographische Forschung zu Differenz. Die hier von den Herausgeber_innen verortete spezifisch erziehungswissenschaftliche Perspektive auf die Thematik kann sicherlich Impulse zu weiteren Debatten innerhalb der Disziplin geben. Die durch den Titel geweckte Erwartung, dass auch das Thema der Interdisziplinarität explizit behandelt wird, stellt sich nach der Lektüre jedoch als nur bedingt eingelöst heraus.
Der Sammelband verdient aufgrund der durchgängig lesenswerten Beiträge Beachtung bei denjenigen, die sich für das Thema Differenz und Ungleichheit im pädagogischen Kontext interessieren. Primär ist hier an ein fachwissenschaftliches Publikum zu denken.
[1] Vgl. z.B. Mecheril, P. / Plößer, M.: Differenz. In: Andresen, S. / Casale, R. / Gabriel, T. / Horlacher, R. / Larcher Klee, S. / Oelkers, J. (Hrsg.): Handwörterbuch Pädagogik der Gegenwart. Weinheim: Beltz 2009, 194–208.
EWR 16 (2017), Nr. 5 (September/Oktober)
Differenz – Ungleichheit – Erziehungswissenschaft
Verhältnisbestimmungen im (Inter-)Disziplinären
Wiesbaden: Springer VS 2016
(308 Seiten; ISBN 978-3-658-10515-0; 34,99 EUR)
Jens Többenotke (Graz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jens Többenotke: Rezension von: Diehm, Isabell / Kuhn, Melanie / Machold, Claudia (Hg.): Differenz – Ungleichheit – Erziehungswissenschaft, Verhältnisbestimmungen im (Inter-)Disziplinären. Wiesbaden: Springer VS 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 5 (Veröffentlicht am 26.09.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365810515.html
Jens Többenotke: Rezension von: Diehm, Isabell / Kuhn, Melanie / Machold, Claudia (Hg.): Differenz – Ungleichheit – Erziehungswissenschaft, Verhältnisbestimmungen im (Inter-)Disziplinären. Wiesbaden: Springer VS 2016. In: EWR 16 (2017), Nr. 5 (Veröffentlicht am 26.09.2017), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365810515.html