„Fünf Jahre nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention ist die gewünschte Dynamik hinsichtlich der Umsetzung von Inklusion ausgeblieben“ (7) Diese Feststellung nimmt Anke Langner zum Ausgangspunkt, um nach notwendigen Kompetenzen für den Unterricht in inklusiven Lerngruppen zu fragen. In Abgrenzung zu sonderpädagogischen Bestimmungsansätzen geht es ihr darum, die genannten Kompetenzen „aus der Sicht der pädagogischen Praxis“ (8) zu entwickeln und „nicht von der Sonderpädagogik aus Inklusion zu denken, sondern von der Pädagogik als solcher aus“ (9).
Eingangs setzt sich Langner mit den titelgebenden Begriffen auseinander: Inklusion führt sie als Analysekategorie für dynamische Prozesse der Beteiligung und Ausschließung ein, Kompetenz wird in Auseinandersetzung mit gängigen Begriffsbestimmungen als vier Dimensionen umfassend bestimmt: Wissen, Zuständigkeitsgefühl, Sich-kompetent-Fühlen und Performanz.
Den ersten Teil der empirischen Studie bildet eine quantitative Erhebung zum Zuständigkeitsgefühl von Lehrerinnen und Lehrern, „heterogene Klassen zu unterrichten“ (42). Dies spiegele sich – so Langner – vor allem in Beliefs wider. Weiterhin erhoben werden „Bedingungen für das Sich-kompetent-fühlen“ (44), wobei „Sich-kompetent-fühlen [...] mit einer hohen Bereitschaft, SchülerInnen mit unterschiedlichen Formen von Beeinträchtigung zu unterrichten, gleichgesetzt“ (ebd.) wird. Zur Erhebung der Beliefs kommt der zur Befragung von Grundschullehrkräften entwickelte Fragebogen BLTQ (Beliefs about Teaching and Learning Questionnaire) zum Einsatz. Die Bereitschaft wird über sechs Situationsbeispiele zu Schülerinnen und Schülern mit verschiedenen Förderschwerpunkten bzw. mit Hochbegabung erhoben. Wenngleich mit dem BLTQ ein nicht spezifisch sonderpädagogisches Instrument verwendet wird, beziehen sich die Situationsbeispiele ausschließlich auf das Unterrichten von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der jeweiligen eigenen Klasse der Befragten und beschränken so die Reichweite der Studie, wie die Autorin selbst anmerkt.
Anhand der Korrelation zwischen Items des BLTQ und der erfragten „Bereitschaft“ werden vier Items als besonders aussagekräftige Indikatoren für das Vorhandensein „inklusiver“ Beliefs abgeleitet. Ein Teil der dadurch ausgewiesenen Lehrkräfte bildet das Sample für die zweite, qualitative Teilstudie, die aus Interviews und Unterrichtsvideos besteht. Die Idee ist, mit diesen Analysen den Blick auf den Kompetenzaspekt der Performanz zu richten. Das Sample setzt sich aus acht Grund- und Förderschullehrkräften sowie zwei kontrastierenden Fällen zusammen, methodisch orientiert sich die Autorin an der Grounded Theory. Die Darstellung erfolgt in Form von Fallporträts aus dem Unterricht, die durch Interviewaussagen ergänzt werden, sowie in der abschließenden Benennung fallübergreifender Unterrichtsmerkmale. Die qualitative Studie kommt zum Fazit, „dass sich einerseits Beliefs in der Unterrichtsführung spiegeln, anderseits aber [...] inklusive Beliefs nicht notwendigerweise einen differenzierten individualisierten Unterricht“ (309) implizieren, sondern letzterer auch von den Rahmenbedingungen abhängt.
Der umfassende Ansatz und die Verbindung der Erhebung von Beliefs, Interviews und Beobachtungen machen gerade in den Porträts auf interessante Fragen und Zusammenhänge zwischen verschiedenen Ebenen aufmerksam. So zeigen sich übergreifende Merkmale der Unterrichtsgestaltung wie die durchgängige Verwendung beobachtender Diagnostik zur Unterrichtsplanung und eine eher strategische Nutzung feststellungsdiagnostischer Verfahren zur Ressourcenakquise. Es werden aber auch Umsetzungshindernisse beschrieben, die zeigen, wie trotz bestimmter Beliefs fehlende Anerkennung im Kollegium oder bestimmte Vorstellungen von der eigenen Rolle zu einem Auseinanderfallen zwischen dem eigenen Anspruch und der Praxis führen können. Interessant ist zudem die Art und Weise, wie Professionsgrenzen das Rollenverständnis im gemeinsamen Unterricht strukturieren: Grund- wie Förderschullehrkräfte legen Wert auf Professionszugehörigkeiten und reklamieren je eigene Zuständigkeitsbereiche für sich, wobei den Grundschullehrpersonen die Verantwortung für die Klasse als Ganze zufällt, während die Förderschullehrerinnen sich primär in der Pflicht sehen, Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf zu unterstützen und ihre Kolleginnen und Kollegen bei Fragen zu beraten.
Die abschließende Diskussion beginnt mit einer knappen Einschätzung, welche vorliegenden allgemeinen Modelle der Lehrerkompetenz sich als anschlussfähig für die Ergebnisse der Studie erweisen. Dazu zählt Langner u.a. das Modell der COACTIV-Studie oder auch der KMK. Umfangreicher fällt die Diskussion der Ergebnisse im Hinblick auf die Lehrerbildung aus, wobei vor allem allgemeine Forderungen – Verzahnung von Theorie und Praxis, Differenzierung und Individualdiagnostik als Studieninhalt für alle Lehrämter – aus den Studienergebnissen abgeleitet werden. Allerdings scheint hinter diesen Vorschlägen eine allzu pauschale Defizitannahme zu stecken, die das Vorkommen von Binnendifferenzierung, Teamarbeit etc. als Themen der Lehrerbildung allgemein negiert. Jedenfalls wird den gegenwärtigen Anstrengungen zu einer stärkeren Verzahnung von Theorie und Praxis, gemeinsamer Ausbildung von Grund- und Förderschullehrkräften usw. erstaunlicherweise keine Beachtung geschenkt. In einer Auseinandersetzung mit solchen aktuellen Tendenzen ließe sich z. B. thematisieren, welchen Beitrag langfristig und phasenübergreifend angelegte Professionalisierungsansätze zur Irritation und Veränderung von Beliefs und somit – den Studienergebnissen entsprechend – zu einer Vorbereitung auf den gemeinsamen Unterricht leisten können.
Abschließend werden Befunde, die im Widerspruch zu anderen Studien mit ähnlicher Fragestellung stehen, sowie weiterführende Fragestellungen benannt. Besonders relevant erscheint vor dem Hintergrund der eingangs zitierten Ansprüche der Vergleich mit den Studien der Forschungsgruppe um Vera Moser, in denen es um die Erforschung charakteristisch sonderpädagogischer Beliefs geht [1]. Die von Moser festgestellte Differenz in den Beliefs zwischen Grundschul- und Förderschullehrkräften wird von Langner auf Basis der eigenen Ergebnisse nicht bestätigt. Die Diskussion möglicher Erklärungen erschöpft sich unter Hinweis auf die noch nicht publizierten Items des dort verwendeten Fragebogens in der Unterschiedlichkeit der Erhebungsinstrumente. Da der Fragebogen inzwischen publiziert wurde [2], ist auf eine weiterführende Diskussion zu hoffen, um die Differenzierung übergreifender und spezifisch sonderpädagogischer Beliefs im Kontext der Inklusionsdebatte weiter voranzutreiben.
Mit der Überlegung, inklusiven Unterricht (auch) als eine Frage der Vorstellungen von Lehrerinnen und Lehrern zu betrachten und von dort aus zu untersuchen, reiht sich Langners Buch in eine Reihe aktueller Studien ein, die einen ähnlichen Ansatz verfolgen [3]. Langners Studie unterscheidet sich vor allem durch die Allgemeinheit des Gegenstandes. Professionsgrenzen werden z.B. nicht vorausgesetzt, finden sich dann aber im Feld wieder. Sie steht damit gewissermaßen komplementär zu spezifischeren Studien und ist insbesondere als Kontrastfolie interessant, auf der sich die besonderen Erkenntnispotentiale professions- und fachbezogener Forschungsansätze, aber auch ihre Grenzen genauer benennen lassen.
[1] z.B. Moser, V. / Kuhl, J. / Schäfer, L. / Redlich, H.: Lehrer/innenbeliefs im Kontext sonder- / inklusionspädagogischer Förderung – Vorläufige Ergebnisse einer empirischen Studie. In: Seitz, S. / Finnern, N.-K. / Korff, N. / Scheidt, K. (Hg.): Inklusiv gleich gerecht? Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012, 228-234.
[2] Kuhl, J. / Moser, V. / Schäfer , L. / Redlich, H.: Zur empirischen Erfassung von Beliefs von Förderschullehrerinnen und -lehrern. Empirische Sonderpädagogik 2013 (1) 3-24.
[3] Vgl. etwa [1] oder Korff, N.: Inklusiver Mathematikunterricht in der Primarstufe. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2015.
EWR 15 (2016), Nr. 2 (März/April)
Kompetent für einen inklusiven Unterricht
Eine empirische Studie zu Beliefs, Unterrichtsbereitschaft und Unterricht von LehrerInnen
Wiesbaden: Springer VS 2015
(341 S.; ISBN 978-3-658-09454-6; 44,99 EUR)
Benjamin Braß (Koblenz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Benjamin Braß: Rezension von: Langner, Anke: Kompetent für einen inklusiven Unterricht, Eine empirische Studie zu Beliefs, Unterrichtsbereitschaft und Unterricht von LehrerInnen. Wiesbaden: Springer VS 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 2 (Veröffentlicht am 24.03.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365809454.html
Benjamin Braß: Rezension von: Langner, Anke: Kompetent für einen inklusiven Unterricht, Eine empirische Studie zu Beliefs, Unterrichtsbereitschaft und Unterricht von LehrerInnen. Wiesbaden: Springer VS 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 2 (Veröffentlicht am 24.03.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365809454.html