Das Beschäftigungssystem in der Schweiz ist wie in den deutschsprachigen Nachbarländern qualifikationsbestimmt. Deshalb absolvieren viele Jugendliche in der Schweiz eine Ausbildung, die zur Berufsqualifikation EFZ oder EBA führt, zum eidgenössisch anerkannten Abschluss einer drei- bis vierjährigen, bzw. zweijährigen beruflichen Grundbildung. Rund 72% der Abschlüsse auf der Sekundarstufe II entfielen 2012 auf die Berufsbildung [1]. Hinter der Wahl zwischen Berufsbildung und Allgemeinbildung, die üblicherweise gegen Ende der Sekundarstufe I getroffen werden muss, stehen zahlreiche Überlegungen. Inwiefern ist also aus handlungstheoretischer Sicht die Ausbildungswahl auf Unterschiede in der Situationsdeutung zurückzuführen? Aufgrund welcher Erfolgserwartungen entscheiden sich Jugendliche zwischen Allgemeinbildung oder Berufsbildung? Welche sozialen Unterschiede gibt es in der Ausbildungspräferenz und welchen Einfluss haben Schultyp und Schulnoten? Wann wird eine Entscheidung für ein Bildungsszenario gefällt und wann verändert sie sich?
David Glauser, ehemaliger Leiter der vom Staatsekretariat für Bildung, Forschung Innovation (SBFI) finanzierten mehrjährigen Studie Determinanten der Ausbildungswahl und der Berufsbildungschancen (DAB), thematisiert in seiner Dissertation diesen Fragekomplex und erweitert so den Forschungsstand zur sozialen Ungleichheit im Bildungswesen. Zu drei Messzeitpunkten zwischen Mitte der 8. Klasse und dem Ende der obligatorischen Schulzeit wurden Daten in deutschschweizerischen Schulen erhoben (Schulaustritt 2013), eine Nachbefragung konnte in der Auswertung noch nicht berücksichtigt werden. Der DAB-Datensatz, der Grundlage der Dissertation bildet, unterscheidet sich von den Daten der Studie Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben (TREE) von 2000 dadurch, dass mit diesem die Prüfung von Hypothesen zum Entscheidungsprozess noch nicht möglich war [2]. Zentral versucht David Glauser empirisch zu klären, wie drei Mechanismen der Bildungsungleichheit (Geschlecht, soziale Herkunft und Migrationshintergrund) mit der Entscheidung zwischen einer Mittelschule oder einer berufsspezifischen Ausbildung zusammenhängen. Die Publikation ist in drei Abschnitte gegliedert: In einen sehr allgemein gehaltenen Überblick über das schweizerische Bildungssystem und seine Arbeitsmarktstruktur, in eine Erläuterung der Theorie, an welche die Hypothesen anschließen und in die Datenanalyse und Zusammenstellung der Ergebnisse.
Insgesamt hat David Glauser eine überzeugende Studie verfasst, deren Ergebnisse er präzise und sachlogisch darlegt. Insbesondere die graphischen Darstellungen der Entscheidungsprozesse, mit denen er zentrale Ergebnisse bündelt, sind äußerst informativ und ansprechend. Der Geltungsbereich der Studie ist überlegt und überzeugend dargelegt, das Schlussfazit besticht durch Selbstkritik. In der Darstellung der Berufsbildung ist David Glauser jedoch zu wenig präzise: es ist beispielsweise wenig verstehbar, warum die zweijährige Grundbildung EBA nicht in die Analyse mit einbezogen wurde bzw. warum sie nicht ausgewiesen wird. Auch wird einleitend auf den berufsstrukturellen Wandel eingegangen, der zu einer generellen Höherqualifizierung der Erwerbstätigen führt, in der Interpretation der Ergebnisse wird aber kaum bedacht, dass dies sich möglicherweise auf die Entscheidungsfindung auswirkt.
David Glauser argumentiert, dass in bisherigen Studien eine Bildungsungleichheit nach den Merkmalen Geschlecht, soziale Herkunft und Migrationshintergrund auf Sekundarstufe I und II nachgewiesen wurde. Deshalb biete es sich an, diese Merkmale weiterhin als Grundlage zur Erklärung von Bildungsdisparitäten zu verwenden. Der erste Teil der Ergebnisse sorgt dementsprechend für wenig Überraschung, es gelingt David Glauser aber, den bisherigen Forschungsstand zu den Disparitäten im Bildungsverhalten zu replizieren. Der interessantere Teil der Untersuchung wird mit dem Rational Choice Ansatz gerahmt. In einem zweiten empirischen Teil widmet sich David Glauser den Unterschieden der Entscheidung nach Merkmalsgruppen und zeigt auf, wann eine Präferenz korrigiert wird. Hier wird auf die ökonomische Entscheidungstheorie Bezug genommen: Die Erwartung an eine Alternative hängt von einer Kosten-Nutzen-Abwägung, von Präferenzen und Restriktionen ab. Es müsse berücksichtigt werden, dass Akteure nur unvollständig informiert sind – darauf basierend wird eine Situation gedeutet, was wiederum Konsequenzen auf die Handlung hat [3].
Aus den Ergebnissen wird deutlich, dass das prägendste Element der Entscheidung zwischen Allgemeinbildung oder Berufsbildung der besuchte Schultyp ist. Zudem halten die meisten Jugendlichen an ihrer Entscheidung fest – wie die Verschiebung der Ausbildungspräferenz zwischen verschiedenen Berufskategorien aussieht, wird leider nicht dargestellt. Aufschlussreich ist das Ergebnis, dass Jugendliche tendenziell die Verwertbarkeit der Berufsbildung höher einschätzen als die Verwertbarkeit der Allgemeinbildung und zudem eine höhere Motivation nennen für die Berufsbildung. Der Neuigkeitswert der Studie liegt insbesondere in der Verdeutlichung des Einflusses der sekundären, latenten Herkunftseffekte: So wird anhand des Datenmaterials nachgewiesen, dass die Einschätzung der Kosten für einen Ausbildungsgang abhängig vom sozialen Status variiert, was sich auf die Entscheidung zwischen Allgemeinbildung und Berufsbildung auswirkt. Ebenso unterscheidet sich die Einschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit nach Herkunft: So bevorzugen Jugendliche von weniger gebildeten Eltern tendenziell eine kurze Ausbildung, da sie sich hier eine größere Chancen auf einen erfolgreichen Abschluss ausrechnen. Interessant ist, dass Jugendliche aus einem nicht-südlichen EU-Land eher vermuten, dass die Berufsbildung zu einem Statusverlust im Vergleich zu den Eltern führt. Dies ist bei den Schweizer/-innen umgekehrt: sie schätzen die Verwertung der Berufsbildung höher ein als die Verwertbarkeit der Mittelschule.
David Glauser zeigt in seiner Studie differenziert auf, wie soziale Ungleichheit mit der Entscheidung zwischen Allgemeinbildung und Berufsbildung zusammenhängt, und er stellt die Hintergründe der Entscheidungsfindung sowie die subjektiven Einschätzungen der Akteure schlüssig dar. Die theoretische Fundierung ist aber zu knapp gehalten: Könnte die Korrektur von Entscheidungen beispielsweise auch durch Reifeprozesse erklärt werden? Wie verändern zwischenzeitlich gemachte Erfahrungen (beispielsweise durch mehrtägige „Schnupperlehren“) die Entscheidungsfindung? Orientiert sich Rationalität nur an einem ökonomischen Maßstab oder gibt es Alternativen? Welche Rolle spielen familiäre und kulturelle Traditionen? Und letztlich: Geht es bei der Ausbildungswahl nicht mehr um die Passung zwischen persönlicher Präferenz und Angebot auf dem Ausbildungsmarkt als um eine unabhängig getroffene, freie Entscheidung? Damit berührt man bereits einige Probleme der ökonomischen Entscheidungstheorie: Obwohl David Glauser die Kritik an den Rational Choice Ansätzen aufgreift und vertieft, führt dies nicht dazu, dass er versucht, seine Ergebnisse anders auszulegen. Die wenig differenzierte Darstellung dessen, was eine Entscheidung ist, lässt sich zwar teilweise darauf zurückführen, dass es an vergleichbaren Studien fehlt – eine stärkere Reflexion und Bezugnahme auf die Theorie wäre dennoch wünschenswert gewesen.
Trotz dieser Lücken hat David Glauser mit der Deskription von Entscheidungen eine Pionierarbeit in der Schweizerischen Bildungsforschung geleistet. Es ist ihm gelungen, anhand der DAB-Daten Entscheidungsprozesse zwischen verschiedenen Bildungsszenarien differenziert und nachvollziehbar zu erläutern und einige Feinheitsgrade in der Darstellung des Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit und formaler Bildung herauszuarbeiten.
[1] Bundesamt fĂĽr Statistik BFS. BildungsabschlĂĽsse. Ausgabe 2014, 13. VerfĂĽgbar unter: http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/news/publikationen.html?publicationID=5840. Stand der Abrufung: 21.6.2016.
[2] Die im Jahr 2000 aufgenommene Schweizer Studie Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben (TREE) wird ab Sommer 2016 wiederholt. David Glauser weist zurecht darauf hin, dass es mit dem neuen Datensatz möglich sein wird, seine Ergebnisse differenzierter zu beleuchten, da einige seiner Hypothesen mit dem Datensatz von 2000 nicht vergleichend geprüft werden können.
[3] Simon, H.: Theories of Bounded Rationality. In: McGuire, C. B. / Radner, R. (Hg.): Decision and Organization. Amsterdam: North-Holland Publishing 1972, 161–176.
EWR 15 (2016), Nr. 4 (Juli/August)
Berufsbildung oder Allgemeinbildung
Soziale Ungleichheiten beim Ăśbergang in die Sekundarstufe II in der Schweiz
Wiesbaden: Springer VS 2015
(250 S.; ISBN 978-3-658-09095-1; 39,99 EUR)
Barbara E. Hof (ZĂĽrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Barbara E. Hof: Rezension von: Glauser, David: Berufsbildung oder Allgemeinbildung, Soziale Ungleichheiten beim Ăśbergang in die Sekundarstufe II in der Schweiz. Wiesbaden: Springer VS 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365809095.html
Barbara E. Hof: Rezension von: Glauser, David: Berufsbildung oder Allgemeinbildung, Soziale Ungleichheiten beim Ăśbergang in die Sekundarstufe II in der Schweiz. Wiesbaden: Springer VS 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365809095.html