International vergleichende Publikationen erfordern generell ein hohes Maß interkultureller Sensibilität für die jeweils andere Perspektive auf gemeinsam gewählte Phänomene und Zusammenhänge. Dies gilt in besonderem Maße für Indien, der nach China zweitbevölkerungsreichsten Nation und nach eigenem Bekenntnis größten Demokratie der Welt. Der Subkontinent gilt als kommende Wirtschaftsnation und gehört zu den am schnellsten wachsenden Ökonomien weltweit. Ob von diesen Wachstumsraten auch etwas bei der Masse der Bevölkerung ankommt, die jenseits der Mittel- und Oberschicht häufig in Prekariaten verortet ist, steht auf einem anderen Blatt. Gleichwohl entscheidet sich die Frage nach demokratischer Gestaltbarkeit genau hier: Gelingt es, die Potenziale der Bevölkerung im Sinne des Gemeinwohles zu nutzen und in Entwicklung für alle zu transformieren? Dies ist zugleich eine Erinnerung an das Staatsziel des Sozialismus, das nach wie vor in der indischen Verfassung in der Tradition des gewaltfreien Unabhängigkeitskampfes schlummert und von dem heute viele derer nichts mehr hören wollen, die auf die neoliberale Entwicklung setzen und von der ökonomischen Entwicklung profitieren.
Indien bleibt das Land der unbegrenzten Gegensätze und entzieht sich weitgehend einer generalisierenden Beschreibung, die aus europäischer Perspektive oft wünschenswert wäre, um die Komplexität des Subkontinents greifbar zu machen. Die großen, regionalen Disparitäten sind besonders sichtbar bei der Betrachtung von Stadt und Land sowie bei den jeweiligen politischen Schwerpunktsetzungen in den einzelnen Bundestaaten, deren Zahl regelmäßig wächst. Auch gilt es, bei der Beschäftigung mit Indien die ethnische und religiöse Vielfalt sowie sozialen Unterschiede zu berücksichtigen. Forderungen nach einer Hinduisierung Indiens, wie sie von der aktuellen Regierung vorangetrieben werden, sind genauso fehl am Platz wie eine gnadenlose Politik der Ökonomisierung auf Kosten der ersten Bewohner/innen Indiens (Adivasi / Tribals) oder der Masse von Landlosen, die Großprojekten wie Staudämmen oder Industrieansiedlungen zum Opfer fallen.
Vielmehr geht es im Sinne einer Aufrechterhaltung demokratischer Rahmenbedingungen im Sinne der Väter und Mütter der Unabhängigkeit darum, die Wohlfahrt für alle als Förderung des Gemeinwesens zu begreifen. Dazu gehören ein funktionierendes Sozial- und Gesundheitswesen und insbesondere der Bildungssektor. Die in Artikel 45 der indischen Verfassung festgeschriebene Allgemeine Schulpflicht ist allerdings nach wie vor für viele Heranwachsende täglicher Wunschtraum, die Zahl der Schulabbrecher/innen vor Ende des Primarbereichs und der Analphabet/innen ist im Gesamtbild des Landes enorm hoch, und ein übergreifendes, formalisiertes Berufsbildungssystem ist nicht existent [1].
Angesichts der beschriebenen Herausforderungen stellt bereits die Idee und Anlage der Publikation eine Pionierleistung dar, die hohe Wertschätzung verdient. Es geht um eine Bestandaufnahme der Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen, wie die etwa 500 Mio. Arbeitnehmer/innen für die Anforderungen einer globalen Wissensgesellschaft fit gemacht werden können, wobei gleichzeitig ihre je spezifischen Qualifizierungsbedarfe berücksichtigt werden sollen. Und um es gleich vorwegzunehmen: Die 17 mehrheitlich von indischen Kolleg/innen geschriebenen Beiträge bemühen sich um ein Gesamtbild der umfassenden Komplexität des Themas. Neben zwei einführenden Beiträgen und einem zusammenfassenden Aufsatz werden 14 thematisch vielfältige Bereiche in der Spannung von Policy und empirischen Analysen betrachtet. Je nach Interesse der Beitragenden kommen einige Regionen Indiens mehr vor als andere. Die Auswahl kann als gelungener Fokus der gegebenen Vielfalt beschrieben werden. Bei alledem hilft für die Systematik des Bandes der vorgegebene rote Faden des Herausgebers in Form eines Leitfadens mit 17 Schlüsselfragen (21), auf die sich viele der Beitragenden beziehen.
In den beiden einleitenden Beiträgen von Shymal Mazumdar (Direktor UNESCO-UNEVOC, Bonn) sowie Matthias Pilz (Professor für Wirtschafts- und Sozialpädagogik, Köln) wird der internationale Kontext des Vorhabens beschrieben, das durch Mittel des DAAD im Rahmen von „A New Passage to India“ möglich wurde. In beiden Beiträgen wird das Potenzial für Indien als im Jahr 2020 jüngster Nation der Welt unterstrichen. Konsequenterweise wird der enorme Qualifizierungsbedarf des Subkontinents betont, der sich daraus ergibt; also: „how Indian youths get prepared for the world of work“ (18). Dabei geht es v.a. darum, welche Formen von Technical and Vocational Education and Training als sinnvoll und förderbar eingeschätzt werden, welche Rolle der private Sektor spielen soll und wie ein Ausbau beruflicher Bildung gestaltet sein kann, die sich in einem nach wie vor insuffizienten Gesamtbildungssystem bewegt. Dabei stellt es eine große Herausforderung dar, wie die eingangs erwähnten enormen Unterschiede der indischen Gesellschaft überwunden werden können.
Wenn das politisch angestrebte „Skilled India“ (11) erreicht werden soll, braucht es nach Auffassung des UNESCO-Vertreters Anstrengungen v.a. in vier Bereichen: Stärkung von Technical and Vocational Education / Training, Beteiligung des privaten Sektors bei diesen Aktivitäten, Angleichungen von nationaler skill policy und nationaler Agenda inklusiven Wachstums sowie Förderung integrativer Fertigkeiten und Fähigkeiten für nachhaltige Entwicklung und grünes Wachstum (11). Damit sind zugleich verschiedene internationale Diskurse wie jener um Lifelong Learning for All angedeutet, in die die Gesamtdebatten eingebettet werden müssen und die völkerrechtlich seit Jahrzehnten diskutiert werden. Es geht um die global-universalisierte Gesamtdiskussion um Bildung für alle zwischen Vision und Realisierung. Angesprochen sind jene Debatten, die in der Spannung von Jomtien (1990), Dakar (2000) und Incheon (2015) verortet sind. Bezüglich der Brücken zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung im formellen und informellen ökonomischen Sektor sei exemplarisch an die Überlegungen und Anregungen im Rahmen der Confintea erinnert [2]. Neben Fragen der zu fördernden Fertigkeiten und der damit assoziierten Inhaltsbereiche und beteiligten Akteur/innen geht es v.a. um den großen Diskurs formaler und non-formaler Bildung, formeller und informeller Lernofferten sowie um die damit verbundenen Zertifizierungsfragen.
Die stellenweise sehr systematischen und fokussierten Beiträge beschäftigen sich mit folgenden Themenkomplexen, bei denen bewusst die indisch-englischen Bezeichnungen erwähnt werden, um sie in ihrer Spezifität zu würdigen: Elementary Education, also Primary und Upper Primary Education, der Klassen eins bis acht (Tara / Kumar); Secondary (Klasse neun bis 10) und Higher Secondary Education (Klasse 11 bis 12) (Gupta / Raman / Krisanthan); Industrial Training Institutes / Centres (Kumar); Technical Colleges (Venkatram); Higher Education / University (Khare); Government Programmes / Initiatives (Palanithurai); Company / Initial Training (Ramasamy / Mani); Teacher Training (Ajithkumar); NGO Initiatives (Gengaiah), Further Edcation and Training (Badrinath); Informal Learning (Sodhi / Wessels); National Vocational Education Qualification Framework (Mehrotra); Labour Market and recruitment am Beispiel Information Technology und Information Technology Enabled Service Industry (Agrawal / Rao / Venkatesh); Socio Economic Impact of Vocational and Training (Ahmed).
Es ist an dieser Stelle unmöglich, alle Beiträge in ihrer Fülle und Tiefe zu würdigen, deren Schaubilder und Grafiken hilfreich für das Gesamtverständnis der diskutierten Themen sind. Es seien Aspekte hervorgehoben, die ein konstruktiv-innovatives Potenzial für den indisch-deutschen Dialog bereithalten. Es ist dies zunächst der historische Rückgriff auf Gandhis Nai Talim in zwei Beiträgen, mit denen die reformpädagogische Idee der fächerverbindend-querschnittlichen Bildung um ein Handwerk aufgegriffen wird (28, 37, 145). Damit wird auch der Blick auf konstruktive Überlegungen jenseits formaler Bildungsarrangements für eine pre-vocational education gelenkt. Angenehm sind auch die Bezüge zu sozioökonomischen Rahmenbedingungen in ihrer historischen Bodenerdung seit der Unabhängigkeit in einem Beitrag über die Bedeutung der NGOs (211ff); also etwa die stetigen Versuche, graswurzelorientierte Arbeit im Sinne Gandhis in der Spannung staatlich verordneter und geförderter Wohlfahrtspolitik und nicht-staatlicher Initiativen zu verorten. Bedeutsam sind hier die Hinweise auf jene Verwerfungen zwischen Indira Gandhis Notstandregierung mit massiver Unterdrückung außerparlamentarischer Bewegungen und den konstruktiven Beiträgen der Bewegungen um Jayprakash Narayan in den 1970er Jahren. Letzterer hatte eine Sampurna Kranti (totale gewaltfreie Revolution) stark gemacht, mit der ein demokratischer Umbau der indischen Gesellschaft von Unten ermöglicht werden sollte, in der jeder Mensch seinen Platz haben sollte. Dies wirkt aus heutiger Perspektive wie ein Zukunftsruf aus der Tiefe indischer Tradition.
Im abschließenden Beitrag gelingt es dem Herausgeber mit seinem „view from the outside: India’s school to Work Transition Challenge – Strenghts and Weakness (345ff), die zentralen Herausforderungen des Publikationsunterfanges auf den Punkt zu bringen. Dass er selbst ein „outsider“ des Themas ist, wage ich zu bezweifeln, da er mit der Gesamtthematik tief in ein historisches Zukunftsthema Indiens einsteigt. Hilfreich ist dabei – und dies ist vermutlich der Außenblick – die Einbettung in bildungssoziologische Kategorien, über die eine international vergleichende Perspektive vertieft werden könnte. Dies hätte noch intensiver in einem dezidiert deutsch-indischen Beitrag gelingen können, mit dem eine systematische Inbeziehungsetzung zentraler Begriffe und Zusammenhänge angestrebt worden wäre. Gleichwohl: Eine einzelne Publikation kann nicht alles leisten und es müssen auch noch Herausforderungen für kommende Publikationsprojekte übrig bleiben, in denen dann möglicherweise auch ein Abkürzungsverzeichnis seinen Platz findet, um die Abbreviationskultur des thematisierten Diskurses systematisch zu begleiten. Wer Interesse an den Herausforderungen, Möglichkeiten und Grenzen von Bildung – v.a. im (vor)beruflichen Bereich – in einer der ökonomisch und demographisch dynamischsten Weltregionen hat, der bekommt in der vorgelegten Publikation mit Handbuchcharakter sehr hilfreiche Anregungen und Orientierungen. Der Herausgeber und die Autor/innen bieten systematische Überlegungen zur Vermessung eines eher unüberschaubaren und erkennbar zu gestaltenden Zukunftsfeldes an. Bei der Menge von Informationen und der Tiefe an Zusammenhängen in einigen Beiträgen ist die Frage nach den Adressat/innen eine stetige Begleiterin. Angesprochen sind auf jeden Fall Akademiker/innen in Indien und Deutschland, die sich für die beschriebenen Themen interessieren sowie Politiker/innen und Kolleg/innen aus der Entwicklungszusammenarbeit.
[1] Lang-Wojtasik, G.: Bildung in Indien. In: Adick, C. (Hg.): Bildungsentwicklungen und Schulsysteme in Afrika, Asien, Lateinamerika und Karibik. MĂĽnster: Waxmann 2013, 213-231.
[2] COMMITTEE on “Educational Research in Cooperation with Third World Countries” within the German Educational Research Association (Ed.): Discussion Paper. In: Education 1997, 55-56, 161-184 (im Rahmen der AG “Arbeiten und Lernen in der Marginalität”: Sigvor Bakke-Seeck, Ulrich Boehm, Bianca Bövers, Sigrid Görgens, Christiane Hopfer, Wolfgang Karcher, Claudia Lohrenscheit, Gottfried Mergner, Bernd Overwien, Madhu Singh, Gunnar Specht, Gregor Wojtasik).
EWR 15 (2016), Nr. 4 (Juli/August)
India: Preparation for the World of Work
Education System and School to Work Transition
Wiesbaden: Springer VS 2016
(361 S.; ISBN 978-3-658-08501-8; 59,99 EUR)
Gregor Lang-Wojtasik (Weingarten)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gregor Lang-Wojtasik: Rezension von: Pilz, Matthias (Hg.): India: Preparation for the World of Work, Education System and School to Work Transition. Wiesbaden: Springer VS 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365808501.html
Gregor Lang-Wojtasik: Rezension von: Pilz, Matthias (Hg.): India: Preparation for the World of Work, Education System and School to Work Transition. Wiesbaden: Springer VS 2016. In: EWR 15 (2016), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365808501.html