Der Herausgeberband von Doğmuş, Karakaşoğlu und Mecheril stellt eine Sammlung von Beiträgen zum Thema „Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft“ dar, welches sich zum Ziel setzt, Bedingungen, Ziele und Inhalte einer zeitgemäßen Lehrerinnen- und Lehrerbildung und -professionalisierung zu diskutieren. Durch den dominanzkritisch-reflexiven Zugang sämtlicher Beiträge sollen Zugänge zu Professionalisierungskonzepten ermöglicht werden, die gewohnte pädagogische Denkmuster und (u.a. institutionalisierte) Handlungsroutinen mit Blick auf deren (implizit) diskriminierenden Wirkungen kritisch hinterfragen und Veränderungsmöglichkeiten eruieren.
Der erste Teil des Bandes skizziert das Konzept pädagogischen Könnens in der Migrationsgesellschaft aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, wobei insbesondere der Ansatz der Migrationspädagogik den theoretischen Rahmen für die darin gesammelten Beiträge bildet. Der erste Beitrag von Marianne Krüger-Potratz dient als einführender Überblick über historische Entwicklungen und aktuelle Herausforderungen an die Bildungspolitik, die angesichts der migrationsgesellschaftlichen Pluralisierung zunehmend an Bedeutung gewinnen. Der Beitrag nimmt insbesondere die sprachliche Bildung und Übergänge im Bildungssystem in den Blick und postuliert die Notwendigkeit einer „grundlegende[n] Umgestaltung der Bildungsinstitutionen“ (37), um der gelebten gesellschaftlichen Heterogenität langfristig gerecht zu werden. Dem Konzept der Heterogenität und insbesondere der Frage nach einem angemessenen Umgang mit migrationsgesellschaftlichen Spannungen und Ambivalenzen widmet sich der Beitrag von Norbert Ricken. Der Autor skizziert einen Gegenentwurf zur gängigen Methode der Individualisierung im Umgang mit Heterogenität, bei dem das Konzept des ‚Streiten-Könnens‘ eine zentrale Stellung einnimmt.
Astrid Messerschmidt fasst in ihrem Beitrag grundlegende Prämissen einer zeitgemäßen rassismuskritischen Professionalisierung der Lehrkräfte zusammen. Sie zeigt die Bedeutsamkeit einer allgemein kritischen sowie speziell rassismuskritischen Professionalisierung von Lehrpersonen auf und macht darüber hinaus deutlich, dass die in den Erziehungswissenschaften verbreiteten Professionalitätsdiskurse öfters im Widerspruch mit der geforderten Kritikfähigkeit der (zukünftigen) Lehrkräfte stehen. Im Fokus des folgenden Beitrags von Erol Yildiz stehen die Chancen der postmigrantischen Perspektiven. Mit der Einnahme einer solchen Perspektive verbindet sich, so der Autor, die dekonstruktive Sicht auf dominierende gesellschaftliche Diskurse über Migration und migrationsbedingte Differenz. Diese äußert sich konkret in der Fähigkeit, gesellschaftlich als weitgehend akzeptiert geltende „polarisierende[.] Deutungen von Einheimischen/Migranten, Wir und Die“ (71) kritisch zu hinterfragen und zu überwinden, indem insbesondere hybride und mehrdeutige Positionierungen an Bedeutung gewinnen. Mit der Annahme der postmigrantischen Perspektive als „Ausgangspunkt des Denkens“ (72) sollen diese alternativen Positionierungen als Ressource für die Gestaltung urbaner Bildung genutzt werden.
Der zweite Teil des Sammelbandes widmet sich den institutionellen Rahmenbedingungen sowie konzeptionellen Lösungen zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung in der Migrationsgesellschaft. Zwei Beiträge analysieren dabei den Ist-Stand in Deutschland. Im ersten Beitrag schildern Aysun Doğmuş und Yasemin Karakaşoğlu strukturelle Rahmenbedingungen und konzeptionelle Strategien der migrationsgesellschaftlichen Professionalisierung von Lehramtsstudierenden an der Universität Bremen. Hervorzuheben ist dabei, dass in dem Beitrag konkrete Ziele, Inhalte, Methoden und Aufgabenstellungen zur Initiierung von Lernprozessen angeführt und analysiert werden, die mit Sicherheit als wertvoller Impuls zur Implementierung ähnlicher Prozesse an weiteren Hochschulen und Universitäten betrachtet werden können. Der zweite Beitrag von Hans-Joachim Roth und Tim Wolfgarten stellt eine Zusammenfassung und eine ausführliche Analyse von Studienmöglichkeiten im Bereich der interkulturellen Bildung in Deutschland dar. Die wohl wichtigste Erkenntnis des Beitrags lautet, dass die Implementierung der interkulturellen Bildung als Lehrangebot an deutschen Hochschulen zwar allgemein „auf breiter Basis etabliert zu sein scheint“ (136), jedoch speziell im Lehramt bisher „bei weitem nicht flächendeckend umgesetzt ist“ (132), wodurch weitere Entwicklungsbedarfe auf bildungspolitischer Ebene deutlich werden.
Der dritte Teil des Sammelbandes umfasst zwei Beiträge, die die Entwicklung migrationsgesellschaftlicher pädagogischer Professionalität in spezifischen Handlungsfeldern untersuchen. Der Beitrag von Katrin Huxel stellt eine Qualifizierungsmaßnahme für Lehrkräfte an Grundschulen in NRW vor, die sich einer durchgängigen Sprachbildung an Schulen widmet. Die Autorin entwickelt konkrete „Empfehlungen für schulische Qualifizierungsmaßnahmen im Handlungsfeld Sprache“ (156 ff.), die sowohl für bildungspolitische als auch für schulische Akteur/innen von Interesse sein können. Im Beitrag von Marc Thielen wird die Thematisierung migrationsgesellschaftlicher Differenz im Kontext (vor-)beruflicher Bildung untersucht, wobei u.a. Alternativen zu kulturalisierenden und implizit defizitorientierten Perspektiven auf migrationsbedingte Differenz diskutiert werden.
Die Beiträge im vierten Teil thematisieren migrationsbedingte Differenz- und Machtverhältnisse in der universitären Lehrerinnen- und Lehrerbildung und gehen insbesondere auf die Herausforderungen einer machtkritischen Lehrerinnen- und Lehrerbildungsarbeit ein. Thomas Geier nähert sich dem Gegenstand des Sammelbandes, indem er verschiedene Professionskonzepte analysiert, darauf basierende Ansätze beschreibt und vor diesem Hintergrund das Konzept der Fallarbeit in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung erläutert. Dabei stellt der Autor die Frage nach der Bedeutung von Reflexivität in der Migrationspädagogik und veranschaulicht, inwiefern bzw. in welchem Maße die Entwicklung eines machtkritischen Reflexionsvermögens Bestandteil der untersuchten Professionalisierungskonzepte ist und welche Entwicklungsbedarfe sich u.a. für die Bildungspolitik ergeben.
Merle Hummrich und Michael Meier setzen sich in ihrem Beitrag mit dem von Lehramtsstudierenden an die im Bereich der Lehrerinnen- und Lehrerbildung professionell tätigen Personen oft herangetragenen Wunsch nach mehr Praxisbezug im Lehramtsstudium auseinander und nehmen dabei insbesondere die Diskrepanz zwischen den Erwartungen der zukünftigen Lehrkräfte an die Fallarbeit und den eigentlichen Zielen der Kasuistik in den Blick. Anhand eines praktischen Beispiels werden die Erkenntnispotenziale einer reflexiven Fallarbeit aufgezeigt. Der Beitrag von Magdalena Knappik setzt sich zum Ziel, zur „Dekonstruktion der Verknüpfung von Sprache(n), Nation und ‚Perfektion‘“ beizutragen, „die sich in der diskursiven Figur des/der ‚native speaker‘ bzw. des/der ‚MuttersprachlerIn‘ niederschlägt“ (221). Die Autorin stellt die Ergebnisse einer Studie vor, die verdeutlichen, dass strenge Forderungen nach „perfekten Deutschkenntnissen“ von den lehramtsausbildenden Personen (oft) nur an diejenigen Studierenden gestellt werden, die „nicht als ‚native speaker‘/‘einheimisch‘ vorgestellte SprecherInnen des Deutschen gelten“ (236), und skizziert eine alternative Perspektive.
Argyro Panagiotopoulou und Lisa Rosen diskutieren in ihrem Beitrag die Weiterentwicklung eines konkreten Lehrveranstaltungskonzeptes an der Universität zu Köln, welches sich gezielt an Lehramtsstudierende mit Migrationshintergrund richtet. Dabei machen die Autorinnen deutlich, welche konkreten inhaltlichen und methodischen Veränderungen in der Seminarkonzeption notwendig waren, um nicht nur die reflexive Beobachtungsfähigkeit der Studierenden zu schulen, sondern auch ein Nachdenken und Sprechen über das konkrete Handeln im Unterricht und damit einhergehende Othering-Effekte zu ermöglichen. Anne-Christin Schondelmayer setzt sich in ihrem Beitrag anhand theoretischer Analysen und praktischer Beispiele kritisch mit der gängigen Vorstellung auseinander, für die Vermittlung pädagogischer Professionalität in der Migrationsgesellschaft bedürfe es persönlicher Kontakte mit Migrantinnen und Migranten oder eigener Migrationserfahrungen.
Der letzte Beitrag von Anja Steinbach fasst Grundprämissen zum machtkritischen Umgang mit Differenz in der universitären Lehrerinnen- und Lehrerbildung zusammen, wobei die Fähigkeit zur Erkennung eigener Involviertheit in gesellschaftliche Machtverhältnisse als grundlegendes Element pädagogischer Professionalisierung verstanden wird. Das Konzept des involvierten Forschens kann hier, so die Autorin, zur Reflexion gängiger Professionalitätsverständnisse beitragen.
Die Beiträge beleuchten insgesamt verschiedene Aspekte der pädagogischen Professionalität in der Migrationsgesellschaft und bieten Impulse für die Entwicklung und Implementierung dominanzsensibler, reflexionsorientierter, rassismus- und diskriminierungskritischer Lernprozesse, dessen Bedeutsamkeit für eine zeitgemäße Professionalisierung von Lehrpersonen in den Beiträgen stets begründet und belegt wird. Besonders positiv hervorzuheben ist, dass der Sammelband unter anderem relevante bildungspolitische und pädagogische Praxisbeispiele diskutiert, wobei letztere stets vor dem Hintergrund theoretischer Konzepte erklärt und analysiert werden. Gerade durch den dominanzkritischen und stets reflexionsorientierten Charakter der Beiträge kann der Band für Praktikerinnen und Praktiker in pädagogischen Feldern, die nach standfesten Anleitungen zum Handeln suchen, möglicherweise ungeeignet erscheinen. Gerade für Akteurinnen und Akteure aus der Bildungspolitik bieten die Beiträge jedoch wertvolle – u.a. auf den Ergebnissen konkreter Projekte beruhenden – Denkanstöße, um Maßnahmen zu entwickeln, die zur Änderung von bestehenden Strukturen beitragen. Bei Vorhandensein von entsprechenden Vorkenntnissen der Zielgruppe eignet sich das Buch sicherlich auch für den Einsatz in vielfältigen thematisch relevanten Forschungsfeldern, im Lehramtsstudium wie auch in anderen Studiengängen.
EWR 17 (2018), Nr. 6 (November/Dezember)
Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft
Wiesbaden: Springer VS 2016
(312 S.; ISBN 978-3-6580-7295-7; 59,99 EUR)
Alina Ivanova (München)
Zur Zitierweise der Rezension:
Alina Ivanova: Rezension von: Doğmuş, Ayson / Karakaşoğlu, Yasemin / Mecheril, Paul (Hg.): Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS 2016. In: EWR 17 (2018), Nr. 6 (Veröffentlicht am 31.12.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365807295.html
Alina Ivanova: Rezension von: Doğmuş, Ayson / Karakaşoğlu, Yasemin / Mecheril, Paul (Hg.): Pädagogisches Können in der Migrationsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS 2016. In: EWR 17 (2018), Nr. 6 (Veröffentlicht am 31.12.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365807295.html