Die Dissertation von Mareke Niemann untersucht die bildungsbiographischen Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern aus deren Perspektive. Schulkarrieren verlaufen im deutschen Bildungssystem nicht immer geradlinig. Wenn Schülerinnen bzw. Schüler an den selektionsrelevanten Hürden der Sekundarstufe I scheitern, können sie in eine Schulform mit einem niedrigeren Anspruchsniveau abgestuft werden. Mareke Niemann bezeichnet diese schulischen Abstiege als „Bildungskarrieren“, bei denen ein Wechsel zu einer niedriger qualifizierten Schulform stattfindet. Von den betroffenen Personen muss dieser Wechsel nicht als Abstieg wahrgenommen werden. Die Erfahrung vom Hauptschülerwerden zum Hauptschülersein kann nur über die Rekonstruktion der biographischen Ereignisabläufe, der Berücksichtigung der Eigenperspektive der Schülerinnen und Schüler und der Erfassung ihrer impliziten Wissensbestände untersucht werden.
Mittels einer Längsschnittanalyse – es gab zwei Interviewzeitunkte: ein halbes Jahr und eineinhalb Jahre nach der Umstufung (Abstufung) von vier Jugendlichen in die Hauptschule – zeigt die Autorin Orientierungen auf, wie sie sich während des Besuches der Hauptschule entwickeln: latente Wissensbestände, implizite Haltungen von Schülerinnen und Schülern mit schulischen Misserfolgserfahrungen sowie spezifische Habitusformen von Schülerinnen und Schülern mit einer absteigenden Schulkarriere. Es zeigt sich, welche Orientierungen vier Jugendliche bezüglich Schule, Schulversagen, Schulformabstieg und Hauptschule im Verlauf des Besuches der Hauptschule haben.
Die Fallstudien verdeutlichen, dass sich Schülerinnen und Schüler in einer Ambivalenz zwischen Nähe und Fremdheit zur Schule verorten. Der qualitative Längsschnitt zeichnet eine Entwicklung dieses Spannungsverhältnisses nach und rekonstruiert die Verarbeitungsformen von Schulabstieg und Hauptschulbesuch im Verlauf. Die Längsschnittanalyse macht deutlich, dass eine Beziehung zwischen dem individuellen schulbezogenen Orientierungsrahmen und der Deutung der Hauptschule durch die Jugendlichen besteht. Sie nehmen die Erfahrung vom Wechsel der Schulform und den Hauptschulbesuch im Rahmen ihrer Schulorientierung auf und formen den Stellenwert unterschiedlich um. Es zeigen sich folgende Ergebnisse:
Der Typus des Ambivalenzverhältnisses zur Schule ist der übergeordnete Rahmen der Erfahrung von Schule, Schulformwechsel und Hauptschulbesuch. In der Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld von Schule als relevantem, sie bedrohenden und fremden Ort lässt es sich vermuten, dass das negative Selektionsergebnis des Schulabstiegs nicht von vornherein in der untersuchten Zeitspanne (1 ½ Jahre) zu einer umfassenden Transformation der grundlegenden Haltungen gegenüber Schule und Bildung führt.
Im Verlauf des Hauptschulbesuchs differenziert sich der Typus des Ambivalenzverhältnisses zur Schule entweder in den Typ der Verfestigung des Ambivalenzverhältnisses, wobei sich die krisenhafte Beziehung zur Schule im Verlauf des Hauptschulbesuches verschärft, oder in den Typus der Ausbalancierung des Ambivalenzverhältnisses mit einem Gleichgewicht zwischen schulfernen und schulnahen Orientierungen, die die positive Beziehung zur Schule stärken. Aus diesen beiden Typen lassen sich drei verschiedene Formen beschreiben, die das ambivalente Verhältnis zur Schule im Verlauf vom Hauptschülerwerden zum Hauptschülersein bearbeiten: der Abstieg als hilfloses biographisches Verstricktsein im biographischen Rätsel; das passive Mitlaufen (hier wird der Statusverlust kompensiert); das Arrangieren (die Hauptschule wird für den Schul- und Peererfolg genutzt und man arrangiert sich mit dem Schulwechsel). Der Peer- und der Leistungsbereich treten als eine wichtige und einflussreiche Komponente zur Ausformung der Ambivalenzverhältnisse und der Bearbeitungsformen in Erscheinung. Passt die Ausprägung des Typs mit den schulischen Rahmenbedingungen und Anforderungen überein, kann in den Leistungen und / oder im Peerbereich eine Bewältigung des Schulformwechsels gefunden werden.
Aufgrund des ambivalenten Verhältnisses zur Schule wird die Passung zum Bildungsort Hauptschule erschwert. Die in der Dissertation befragten vier Jugendlichen setzen sich mit der gesellschaftlichen Entwertung des Bildungsortes Hauptschule auseinander – der Bogen reicht von entwertetem Bildungsort bis zum Ort des Wohlfühlens und der Anerkennung. Die Frage nach dem Stellenwert des Schulformabstiegs auf die Hauptschule in den schulbezogenen Orientierungsrahmen der Jugendlichen lässt sich insofern beantworten, dass die Verortung von der Förderung autonomer Handlungsfähigkeit über die minimale Herstellung von Anschlussfähigkeit bis zur Generierung einer biographisch blockierten Schulkarriere reicht. Den Schulabsteigerinnen bzw. Schulabsteigern ist das Schulsystem fremd. Es zeigt sich, wie bedeutend es für die Bewältigung des Schulformabstiegs ist, welche Anschlussmöglichkeiten die Jugendlichen für ihre Orientierungen an der Hauptschule finden und dass darauf auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen Einfluss nehmen. Der Schulformabstieg auf die Hauptschule ist in einem ambivalent auf Schule bezogenen Orientierungsrahmen eine spannungsvolle Erfahrung, die sich in den vier Fallbeispielen als eine Art Krise zeigt.
Sehr interessant ist die Kontrastierung der beiden Verlaufstypen mit der Typologie des Bildungshabitus von Schülerinnen und Schülern von Kramer et al. [1]. Bei den vier Jugendlichen besteht ein gemeinsames Orientierungsproblem: zum einen in der Spannung zwischen der Notwendigkeit von Schule, Leistung und Noten und zum anderen in der Distanz und Fremdheit gegenüber Schule. Diese vier Personen verfügen über einen Habitus, der zwei zueinander im Zwiespalt stehende Seiten in sich vereinen muss. Jugendliche, die über eine ambivalente Habitusformation zwischen Leistungsorientierung und Schuldistanz verfügen, sind möglicherweise von einem Schulabstieg potentiell bedroht. Auf der einen Seite verfügt ihr Habitus über „zu wenig Fremdheit“ gegenüber Schule und Bildung, so dass höhere Schulformen im Horizont sind, auf der anderen Seite weist der Habitus aber zu viel Distanz, Unsicherheit und Unvertrautheit und damit zu wenig Wissen über Schule und Bildung auf, als dass ein möglicher Abstieg rechtzeitig verhindert werden könnte. Diese jugendlichen Schulabsteigerinnen und Schulabsteiger verfügen über eine ambivalente, einerseits auf Schule gerichtete, andererseits eine davon abgrenzende Bildungs- und Schulorientierung. In dieser Haltung zeigt sich, dass auf einer unbewussten Ebene die Selbstverständlichkeit für ein erfolgreiches Absolvieren der Lernprozesse nicht gegeben ist. Auf der Ebene des Habitus sind ungleiche Voraussetzungen für Bildungsteilhabe gegeben. Den in dieser Dissertation befragten Jugendlichen wird die Bearbeitung des Ambivalenzverhältnisses durch ihre habituelle Fremdheit zum Bildungssystem erschwert. Nach dem Abstieg in die Hauptschule gelingt es ihnen unterschiedlich gut, das Ambivalenzverhältnis schulisch gut zu meistern. Sie bewerten den Übergang zur Hauptschule als Abstieg in der Hierarchie der Schulformen. Sie „leiden“ am Abstieg, denn er nötigt sie dazu, auf die schulischen und gesellschaftlichen Ansprüche, die die Schule ihnen eröffnet, zu verzichten.
Das Erleben zweier unterschiedlicher Schulkulturen wirkt sich auf das Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zur Schule aus. Aus der Sicht der Jugendlichen zeigt sich, dass die Ambivalenz zwischen Schule und jugendlichem Habitus sich je nach Passungskonstellation unterschiedlich zu entwickeln vermag. Die abschließende Diskussion zur Bildungsungleichheit bespricht, inwieweit Schule zur Reproduktion oder Transformation des Schülerhabitus beiträgt.
[1] Kramer, R.-T. / Helsper, W. / Thiersch, S. / Ziems, C.: Selektion und Schülerkarriere. Kindliche Orientierungsrahmen beim Übergang in die Sekundarstufe I. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009.
EWR 14 (2015), Nr. 6 (November/Dezember)
Der „Abstieg“ in die Hauptschule
Vom Hauptschülerwerden zum Hauptschülersein – ein qualitativer Längsschnitt
Studien zur Schul- und Bildungsforschung
Studien zur Schul- und Bildungsforschung
Wiesbaden: Springer VS 2015
(327 S; ISBN 978-3-658-06372-6; 49,99 EUR)
Erika Rottensteiner (Graz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Erika Rottensteiner: Rezension von: Niemann, Mareke: Der „Abstieg“ in die Hauptschule, Vom Hauptschülerwerden zum Hauptschülersein – ein qualitativer Längsschnitt Studien zur Schul- und Bildungsforschung. Wiesbaden: Springer VS 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 6 (Veröffentlicht am 02.12.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365806372.html
Erika Rottensteiner: Rezension von: Niemann, Mareke: Der „Abstieg“ in die Hauptschule, Vom Hauptschülerwerden zum Hauptschülersein – ein qualitativer Längsschnitt Studien zur Schul- und Bildungsforschung. Wiesbaden: Springer VS 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 6 (Veröffentlicht am 02.12.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365806372.html