EWR 17 (2018), Nr. 4 (Juli/August)

Merle Hummrich/ Astrid Hebenstreit/ Merle Hinrichsen/ Michael Meier (Hrsg.)
Was ist der Fall?
Kasuistik und das Verstehen pädagogischen Handelns
Wiesbaden: Springer VS 2016
(315 S.; ISBN 978-3-658-04340-7; 59,99 EUR)
Was ist der Fall? Fallarbeit stellt eine Beziehung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, zwischen Theorie und Praxis her. Die Praxis soll eine „Befremdung“ (3) erfahren, insofern Grundprobleme pädagogischen Handelns durch Fälle sichtbar gemacht und mit Hilfe von Theorie reflektiert werden. Kasuistisches Vorgehen soll „Routinen der alltäglichen Praxis überprüfen, so dass Möglichkeitsräume alternativer Handlungswege erwogen werden können“ (18). Dies geschieht durch eine „'Verengung des Entscheidungsraumes‘ [1, 30], die dennoch rasche Subsumption und Festlegung des Falles vermeidet“ (18). So soll „bei Studierenden eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit der Wirkmächtigkeit pädagogischer Normen sowohl hinsichtlich unterrichtlicher Praxis als auch im Sinne eigener Positionierungen im erziehungswissenschaftlichen und didaktischen Diskurs befördert“ (ebd.) werden.

Sowohl auf die angesprochene Bedeutsamkeit der Fallarbeit für das Verstehen pädagogischen Handelns als auch pädagogischer Institutionen wird im Sammelband „Was ist der Fall?“ eingegangen. Die vier Herausgebenden, allesamt Mitarbeitende der Erziehungswissenschaft an der Universität Flensburg, versammeln in ihrem Buch dreizehn Beiträge, die Fallarbeit im „Spannungsfeld zwischen empirisch-deskriptivem Forschungswissen und praktisch-normativem Professionswissen“ (5) beschreiben. In der Gesamtkomposition des Bandes dominieren schulpädagogische Bezüge, die die Potenziale von Fallarbeit in der universitären Lehrerinnen- und Lehrerbildung sowie im Referendariat, auch vor dem Hintergrund der Auffassung und Erwartungen der Betroffenen, herausstellen. Jedoch bezieht der Band auch andere Subdisziplinen wie Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung ein und beleuchtet zusätzlich die Beziehung zwischen Fachdidaktik und Schulpädagogik. Der Band gliedert sich in fünf Teile. Im ersten Teil wird die Theorie kasuistischen Arbeitens und das kasuistische Arbeiten als solches reflektiert (zwei Beiträge von Merle Hummrich und Wolfgang Meseth). Im zweiten Teil rückt die Kasuistik in Schulpädagogik und Lehrerbildung in den Fokus (fünf Beiträge von Till-Sebastian Idel und Anna Schütz, Christine Thon, Katharina Kunze, Michael Meier und Ina Herrmann). Im dritten Teil wird nach der Verbindung zwischen schulpädagogischen und fachdidaktischen Perspektiven gesucht (drei Beiträge von Olaf Jäkel, Wolfram Meyerhöfer und Sandra Rademacher. Bei Meyerhöfer wird z.B. reflektiert, ob und inwieweit durch „Diskussionskollektive“ unterrichtsbeobachtender Lehrerinnen und Lehrer wirklich das professionelle Selbstkonzept der Unterrichtenden in Frage gestellt werden kann. Im vierten Teil werden exemplarisch sozialpädagogische und erwachsenbildnerische Perspektiven in den Blick genommen (zwei Beiträge von Jörg Dinkelaker und Gunther Graßhoff). Der Band schließt mit einem Essay von Andreas Wernet im fünften Teil, der zeigen will, inwiefern der Praxisanspruch der Kasuistik eine „Imagerie“ darstellt, die gegen den Wissenschaftsanspruch der Universität operiert.

In Anbetracht der eingangs dargestellten Zielsetzung erscheint fragwürdig, wenn sich zeigt, „dass sich die Fallarbeit seit den 1990er Jahren verstärkt zur Seite der empirisch-sozialwissenschaftlichen Forschung geöffnet und Distanz zu den normativen Entscheidungsbedürfnissen der pädagogischen Praxis aufgebaut hat“ (ebd.). Zu Recht muss die Wissenschaft sich zwar dagegen wehren, wenn der Wert von Theorie daran gemessen wird, was die Theorie der Praxis bringt (32). „Eine pädagogische Bildung, die so verfährt, gibt […] notwendigerweise ihre akademische Orientierung preis“ (ebd.). Doch von der Vorstellung, die Erziehungswissenschaft könnten als völlig wertfreie Disziplin etabliert werden, muss abgerückt werden. Gerade die Fallarbeit mit ihrem Praxisbezug stellt das Wissenschaftsideal Max Webers bzw. einen umfassenden Wertrelativismus in Frage, der besagt, pädagogische Qualitätsurteile wären aufgrund der Kontextgebundenheit von Erziehung grundsätzlich historischer, kultureller oder rein subjektiver Natur. Wissenschaftliche Pädagogik darf mehr als nur Zweck-Mittel-Beziehungen untersuchen, d.h. lediglich hypothetische Sätze formulieren. „[E]ine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit der Wirkmächtigkeit pädagogischer Normen“ (ebd.) wird wohl am besten dadurch erreicht, dass Studierende anhand der Bearbeitung von Fällen Autonomie entwickeln, indem sie den Balanceakt der Unterscheidung von allgemeingültigen (Grund-)Werten und konkreten, hinterfragbaren (kontextbezogenen und wandelbaren) Normen vollziehen. Dies geschieht dann auch im Sinne einer Erziehung von Schülerinnen und Schülern zur Mündigkeit, die ebenfalls unbestreitbarer Grundwert pädagogischen Handelns ist. Natürlich kann man im Rahmen wissenschaftlicher Kasuistik versuchen, sich möglichst der Werturteile zu enthalten, so wie Merle Hummrich in ihrem Beitrag es mit Oevermann fordert: „Die Wissenschaft kann nicht mehr tun, als in möglichst großer Klarheit und argumentativer, methodischer Stringenz die wissenschaftlich erweisbaren Konsequenzen einer Entscheidung zu explizieren. Aber die Entscheidung selbst zu treffen, ist sie in keiner Weise kompetent“ [2, 104).

Seins-und-Sollens-Ebene möglichst zu trennen, ist ein wichtiger wissenschaftlicher Anspruch. Entsprechend beschreiben Till-Sebastian Idel und Anna Schütz in ihrem Beitrag die praxistheoretische Kasuistik im Lehramtsstudium: „Praxistheoretische Beobachtungen sind […] durch das Bemühen gekennzeichnet, keine Normen an das Feld heranzutragen, sondern vielmehr Normen zu beschreiben, die […] dort zirkulieren“ (66).

Seins- und Sollens-Ebene gehören aber auch zusammen, zumindest nach dem Bildungsbegriff klassisch-philosophischer Tradition (Kant, Herbart). Es erhöht den Interessantheitsgrad kasuistischen Arbeitens, über das Konstatieren konfligierender Normsetzungen bzw. der Effekte bestimmter Normierungen hinauszugehen und sich selbst zu positionieren. Gerade mittels Fallarbeit, die das Dilemma „zwischen einer Affirmation von Normen einerseits und einer Resistenz ihnen gegenüber andererseits“ (64) zu lösen vermag, indem sie veranlasst „über Normen ins Gespräch zu kommen, sie beobachtbar und in einem reflexiven Prozess zugänglich zu machen“ (ebd.), ist eine Zusammenführung von Sein und Sollen möglich. Dies ist nicht als unwissenschaftlich zu bezeichnen. Fallarbeit ist ein Königsweg, die Erziehungswissenschaft aus der „Distanz zu den normativen Entscheidungsbedürfnissen“ (5) der Praxis herauszuführen, einer Haltung, die seit Jahrzehnten einseitig verfolgt wird. Wenn selbst Grundwerten keine Objektivität mehr zugesprochen wird und man zur Ansicht gelangt, dass „eine Wissenschaft dem Menschen nicht dazu verhelfen [kann] zu erkennen, was richtig und was falsch ist oder wie er handeln soll, auch wenn sie empirisch ausgerichtet ist“ (17), dann verkümmert diese, wie auch fachintern beklagt wird, zur Bedeutungslosigkeit. Wichtig ist hierzu Wolfgang Meseths Stellungnahme: „Inzwischen haben Analysen der erziehungswissenschaftlichen Wissenschaftsforschung gezeigt, dass die wissenschaftlichen Rationalisierungs- und Aufklärungsansprüche keineswegs zu einer Auflösung pädagogisch-normativen Wissens geführt […] haben“ (45-46). Meseth unterscheidet deshalb „zwischen den Formen einer pädagogischen und einer erziehungssoziologischen Kasuistik“ (46), die nicht aufeinander rückführbar sind und sich wechselseitig (vor allem im produktiven Sinne) irritieren.

Abschließend vertritt Andreas Wernet in einem pointierenden Essay die These, dass „[i]m Kontext der universitären Lehrerbildung die Imagerie des Praxisanspruchs zu einer Tendenz der Abwertung des Lehramtsstudiums zugunsten einer dadurch ungewollt aufgewerteten Imagerie der Wissenschaftlichkeit [führt]. […] Die Studierenden selbst reproduzieren diesen Mechanismus, wenn sie das ihnen angemessene, auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Studium fordern. […] Nur das soll gefordert sein, was ‚nützlich‘ ist“ (296-301). Kasuistische Lehrerbildung erscheint vor diesem Hintergrund selbst als „Imagerie der Vermittlung von Theorie und Praxis“ (307). Für die Zukunft stellt sich die entscheidende Frage, „ob es im Gehäuse dieses Modells [kasuistischer Lehrerbildung] gelingt, den Wissenschaftsanspruch der Lehrerbildung zu stärken, indem wir die Studierenden als Subjekte eines Erkenntnisprozesses adressieren, oder ob die kasuistische Lehre ein Gehäuse ist, in dem der Fallbezug dem pädagogischen Jargon ein wissenschaftlich aufgehübschtes Zuhause bietet“ (312).

In Anlehnung an Wernet kann man sagen, dass das Buch jedoch nicht nur durch seine theoretischen Anteile, sondern auch durch aussagekräftige Praxisbeispiele in die richtige Richtung weist, wie der Spagat zwischen wissenschaftlicher Disziplin und pädagogischer Profession bzw. wissenschaftlichem Anspruch und instrumenteller Nutzung geleistet werden kann.

[1] Bergmann, J.R.: Der Fall als Fokus professionellen Handelns. In: Bergmann, J.R. / Dausendschön-Gay, U. / Oberzaucher, F. (Hg.): „Der Fall“. Studien zur epistemischen Praxis professionellen Handelns. Bielefeld: transcript Verlag 2006, 17-33.

[2] Overmann, U.: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns. In: Combe, A. / Helsper, W. (Hg.): Pädagogische Professionalität. 3. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1999, 267-336.
Eva Steinherr (München)
Zur Zitierweise der Rezension:
Eva Steinherr: Rezension von: Hummrich, Merle / Hebenstreit, Astrid / Hinrichsen, Merle / Meier, Michael (Hg.): Was ist der Fall?, Kasuistik und das Verstehen pädagogischen Handelns. Wiesbaden: Springer VS 2016. In: EWR 17 (2018), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365804340.html