EWR 14 (2015), Nr. 2 (MĂ€rz/April)

Carolin Rotter
Zwischen Illusion und Schulalltag
Berufliche Fremd- und Selbstkonzepte von LehrkrÀften mit Migrationshintergrund
Wiesbaden: Springer VS 2014
(320 S.; ISBN 978-3-6580-3816-8; 49,99 EUR)
Zwischen Illusion und Schulalltag Seit nun fast zehn Jahren wird im migrationsgesellschaftlich relevanten Bildungsdiskurs die Forderung nach mehr Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationshintergrund formuliert. Das Kernargument findet sich in der seit der ersten PISA-Studie viel diskutierten Bildungsbenachteiligung von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern mit Migrationshintergrund. Zudem wird mit dieser Kategorisierung von Lehrerinnen und Lehrern eine symbolische, aber auch funktionale Erwartungszuschreibung verbunden: Es wird erwartet, dass Lehrer/innen mit Migrationshintergrund positiv auf Bildungsbiographien von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern mit Migrationshintergrund Einfluss nehmen können, da sie aufgrund ihrer Biographien eine Vorbildfunktion einnehmen und ein spezifisches Kompetenzprofil im Umgang mit migrationsbedingter HeterogenitĂ€t in der Schule mitbringen. Auch im erziehungswissenschaftlichen Feld der Interkulturellen Bildung wird diese Forderung seit mehreren Jahren angefĂŒhrt. Allerdings wird hier der bildungspolitische Diskurs auch kritisch reflektiert. Dabei wird u. a. auf eine essentialistische und homogenisierende Inszenierung von Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationshintergrund sowie auf die mangelnde Datenlage hingewiesen (Strasser und Steber (2010), Karakaşoğlu (2011), Akbaba, BrĂ€u und Zimmer (2013) sowie KrĂŒger-Potratz (2013) [1]).

Carolin Rotter rĂŒckt mit ihrer qualitativen Studie die Forderung nach mehr Lehrer/innen mit Migrationshintergrund in zweifacher Hinsicht in den Mittelpunkt: Die Forderung ist Gegenstand einer intensiven Reflexion und wird zugleich zum Anlass ihrer Studie, in der berufliche Fremd- und Selbstkonzepte von Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationshintergrund empirisch betrachtet werden (16). ZunĂ€chst widmet die Autorin sich einer differenzierten Betrachtung des Diskurses zur Bildungsbenachteiligung von SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern mit Migrationshintergrund und stellt die bildungspolitische Forderung nach einem verstĂ€rkten Einsatz von Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationshintergrund in ihrer Funktion als „Lösungsversuch“ dar (23–44). Hierzu stellt sie fest, dass „(
) die berufliche Rolle dieser LehrkrĂ€fte eine deutliche Erweiterung (erfĂ€hrt), die insbesondere durch besondere Aufgaben im sozio-affektiven Bereich mit Blick auf die spezifische Zielgruppe der SchĂŒler mit Migrationshintergrund gekennzeichnet ist“ (44). Gleichzeitig kritisiert Rotter die in dieser Forderung vorgenommene Ableitung von spezifischen Kompetenzen aus migrationsbiografischen Erfahrungen (s. o.).

Über die ZusammenfĂŒhrung professionstheoretischer und migrationspĂ€dagogischer Diskurse wird eine komplexe theoretische Rahmung konzipiert, die sowohl dieser intendierten kritischen Reflexion des bildungspolitischen Diskurses dient als auch im Sinne einer Interpretationsfolie der empirischen Untersuchung zum Einsatz kommt (18). FĂŒr den bildungspolitischen Diskurs schlussfolgert Rotter, dass sowohl eine „Entgrenzung“ (116) der beruflichen Aufgaben als auch eine essentialistische Sichtweise aufgrund der Verwendung der Kategorisierung Migrationshintergrund erkennbar wird (117). In ihrer darauffolgenden Betrachtung des Forschungsstandes werden Studien im Hinblick auf die eigene forschungsrelevante Fragestellung analysiert, um schließlich das eigene Forschungsdesign und das damit verbundene Ziel zu begrĂŒnden: Im Zentrum stehen nicht nur berufliche Selbstkonzepte von Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationshintergrund und aus deren Sicht formulierte Fremdkonzepte ĂŒber ihre berufliche Rolle. Vielmehr knĂŒpft Rotters Studie an ein Desiderat an, indem sie darauf zielt, Fremdkonzepte zu Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationshintergrund ĂŒber die Befragung von weiteren schulischen Akteuren zu rekonstruieren (142).

HierfĂŒr befragte Rotter sieben Schulleiter/innen und sieben Lehrer/innen ohne Migrationshintergrund mit einer Kombination des Experten- und des problemzentrierten Interviews (153–165). Ebenso wurden SchĂŒler/innen mit und ohne Migrationshintergrund zur Rekonstruktion von Fremdbildern einbezogen. Die Datenerhebung erfolgte ĂŒber zehn Gruppeninterviews mit insgesamt 37 SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern (166–174). DarĂŒber hinaus wurden auch 15 Lehrer/innen mit Migrationshintergrund zu ihren Selbstbildern befragt. Irritierend ist daher, dass als Forschungsgegenstand Lehrer/innen mit Migrationshintergrund benannt werden (19) und nicht Fremd- und Selbstbilder in Relation zu dieser Kategorisierung. Dies gilt insbesondere, da die Autorin danach fragt, ob die in der bildungspolitischen Forderung formulierte Relevanz von Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationshintergrund sich „auf der Ebene der Einzelschule (
) und der handelnden Personen“ (143) wiederfindet und zugleich das Ziel formuliert wird, „[d]ie Aussagen der Akteure (
) danach [zu untersuchen] (
), auf welche (gesellschaftlichen) Diskurse die Befragten in ihrer Darstellung des beruflichen Selbst- und Fremdkonzepts zurĂŒckgreifen und wie sie dies machen, d. h. wie sie die Diskurse nutzen, um ihre ‚Bilder‘ von LehrkrĂ€ften mit Migrationshintergrund hervorzubringen“ (144).

Daraus leitet Rotter zwei Perspektiven ab, mit denen einerseits das Was des Gesagten (thematische Schwerpunkte) in den Blick kommt und anderseits das Wie, konkreter: implizite handlungsleitende Orientierungen (144), sodass zwei forschungsrelevante Fragenkomplexe formuliert werden. FĂŒr die Auswertung der Daten werden das thematische Kodieren und die dokumentarische Methode herangezogen. FĂŒr die drei befragten Gruppen (Schulleiter/innen, Lehrer/innen mit und ohne Migrationshintergrund mĂŒndet das Kodierungsverfahren in drei thematischen Schwerpunkten: 1) Auswahl von Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationshintergrund resp. die Relevanz der Kategorie Migrationshintergrund) bei der Einstellung an Einzelschulen, 2) Erwartungen an sie sowie 3) formelle und informelle Aufgaben im schulischen Alltag. Hier finden sich Ergebnisse aus anderen Studien wieder, in denen Erwartungen an diese Lehrer/innen in der Funktion als Rollenvorbilder, Vertraute und Übersetzer/innen festgestellt werden konnten [2].

Auch die sinngenetische Typenbildung, in der ĂŒber die Frage nach dem Wie des im Interview Gesagten die handlungsleitenden Orientierungen in drei AusprĂ€gungen erfasst werden, ist bei den Schulleiterinnen und Schulleitern sowie bei den Lehrerinnen und Lehrern mit und ohne Migrationshintergrund identisch: Unterschieden werden „der pĂ€dagogisch-professionelle Lernbegleiter“, „der situative Sowohl-als-auch-Typus“ und „der „kompetente `Migrationsandere`“. Diese Orientierungsmuster zeigen unterschiedliche Umgangsweisen, die zwischen der Ablehnung einer besonderen Bedeutung des Migrationshintergrundes, einer Ambivalenz und einer expliziten Hervorhebung und ZusammenfĂŒhrung von biografischen Erfahrungen und Kompetenzen variieren. Rotter ordnet diese Orientierungsmuster mit Hilfe der theoretischen Rahmung zwischen den Polen Essentialisierung und Konstruktion, sowie Entgrenzung und Begrenzung ein (284). Weiter hebt sie hervor, dass keine der befragten Gruppen – außer Lehrer/innen mit Migrationshintergrund – „von sich aus LehrerkrĂ€fte mit Migrationshintergrund im Zusammenhang mit der Beschreibung seines schulischen Alltags thematisiert“ (281) – erst nach einem externen Impuls, der von ihr als Interviewerin gesetzt wird. Allerdings wird dies nicht analytisch vertieft, lediglich wird darauf hingewiesen, dass Lehrer/innen mit Migrationshintergrund aufgrund von an sie herangetragenen Fremdkonzepten die Benennung des Migrationshintergrundes nicht unberĂŒcksichtigt lassen können.

Mit ihrer Studie erweitert Rotter ein bisher ĂŒberschaubares Forschungsfeld. FĂŒr eine Übersicht weiterer Arbeiten sei auf den Sammelband von BrĂ€u, Georgi, Karakaşoğlu und Rotter (2013) [3] verwiesen. Hervorzuheben an der Studie Rotters ist der komplexe theoretische Rahmen sowie das mehrdimensionale Forschungsdesign, mit dem verschiedene Perspektiven schulischer Akteure einbezogen werden. Besonders interessant sind hier auch die Ergebnisse zu den befragten SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern, bei denen Rotter ebenfalls drei Orientierungsmuster typisieren konnte: die Wahrnehmung von Lehrerinnen und Lehrern als „freundlich-kompetente Lernbegleiter“, als – wie Rotter etwas diffus formuliert – „klimaförderliche `Migrationsandere`“ und als „nicht klimaförderliche `Migrationsandere`“. DarĂŒber hinaus wird gezeigt, dass ein Migrationshintergrund bei SchĂŒlerinnen und SchĂŒlern Einfluss auf die Wahrnehmung von Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationshintergrund haben kann, aber weder als verallgemeinerbare Orientierung, noch als Alleinstellungsmerkmal.

Der Fokus der Arbeit liegt auf dem bildungspolitischen Diskurs, der gleichsam den roten Faden darstellt. Dadurch lĂ€sst sich die Studie gut begrĂŒnden, jedoch werden mit dieser Relevanzsetzung weitere analytische Möglichkeiten nicht ausgeschöpft, die das Material bietet. Vielmehr bleibt die Arbeit selbst der kritisierten essentialistischen Argumentationslogik des bildungspolitischen Diskurses und der Forderung nach mehr Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationshintergrund verhaftet. Dies zeigt sich bspw. in der fehlenden Betrachtung relevanter Positionszuschreibungen als `Migrationsandere` oder nicht `Migrationsandere` im Rahmen der soziogenetischen Typenbildung. Über die ZusammenfĂŒhrung mit dem in der Arbeit verwendeten migrationspĂ€dagogischen Diskurs wĂ€re damit eine differenzierte Analyse der Genese und sozialen ZusammenhĂ€nge der o. g. handlungsleitenden Orientierungen im Hinblick auf die Fremd- und Selbstkonzepte von Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationshintergrund möglich gewesen.

[1] Strasser, J. / Steber, C.: Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund – Eine empirische Reflexion einer bildungspolitischen Forderung. In: Hagedorn, J. / Schurt, V. / Steber, C. / Warburg, W. (Hrsg.): EthnizitĂ€t, Geschlecht, Familie und Schule. Wiesbaden: VS Verlag 2010, 97–126.
Karakaşoğlu, Y. : Lehrer, Lehrerinnen und Lehramtsstudierende mit Migrationshintergrund. HoffnungstrĂ€ger der interkulturellen Öffnung von Schule. In: Neumann, U. / Schneider, J. (Hrsg.): Schule mit Migrationshintergrund. MĂŒnster: Waxmann 2011, 121–135.
Akbaba, Y. / BrĂ€u, K. / Zimmer, M.: Erwartungen und Zuschreibungen. Eine Analyse und kritische Reflexion der bildungspolitischen Debatte zu Lehrer/innen mit Migrationshintergrund. In: BrĂ€u, K. / Georgi, V.B. / Karakaşoğlu, Y. / Rotter, C. (Hrsg.): Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund. MĂŒnster: Waxmann 2013, 37–57.
KrĂŒger-Potratz, M.: Vielfalt im Lehrerzimmer. Aktuelle bildungspolitische Entwicklungen unter der Frage von KontinuitĂ€ten und DiskontinuitĂ€ten. In: BrĂ€u, K. / Georgi, V.B. / Karakaşoğlu, Y. / Rotter, C. (Hrsg.): Lehrer/innen und Lehrer mit Migrationshintergrund. MĂŒnster: Waxmann 2013, 18–36.
[2] Georgi, V. B. / Ackermann, L. / Karakaş, N.: Vielfalt im Lehrerzimmer. SelbstverstĂ€ndnis und schulische Integration von Lehrenden mit Migrationshintergrund in Deutschland. MĂŒnster: Waxmann 2011.
[3] BrĂ€u, K. / Georgi, V.B. / Karakaşoğlu, Y. / Rotter, C. (Hrsg.): Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund. Zur Relevanz eines Merkmals in Theorie, Empirie und Praxis. MĂŒnster: Waxmann 2013.
Aysun Doğmuş (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Aysun Doğmuş: Rezension von: Rotter, Carolin: Zwischen Illusion und Schulalltag, Berufliche Fremd- und Selbstkonzepte von LehrkrĂ€ften mit Migrationshintergrund. Wiesbaden: Springer VS 2014. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365803816.html