Die Gestaltung anschlussfähiger Prozesse im Übergang vom Elementar- in den Primarbereich ist im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren verstärkt Thema wissenschaftlicher Betrachtung geworden. Gerade im Hinblick auf die Entwicklung hin zu inklusiven Bildungsinstitutionen stellt dabei die genaue und individuelle Beobachtung einzelner Kinder eine besondere Herausforderung dar. Bislang standen und stehen in der Schuleingangsphase verschiedene Untersuchungsinstrumente im Mittelpunkt, die das Ziel haben, dem Kind eine gewisse Form von „Schulfähigkeit“ zu attestieren. Dieses meist an Konzepten von Normen und Erwartungen zum Schulbeginn orientierte Konstrukt steht dabei zum Teil im Widerspruch zu einer am einzelnen Kind durchgeführten, individuellen Diagnostik. Die Aufgabe, Diagnosen und damit Aussagen über Lernausgangslage und potentielle Lernentwicklung zu treffen, obliegt in den meisten Fällen Lehrkräften, vor dem Schuleintritt zum Teil auch medizinischen und psychologischen Fachkräften. Die Rolle von Erzieherinnen und Erziehern als frühpädagogischen Fachkräften mit ihrer diagnostischen Kompetenz trat dabei im Transitionsprozess bisher in den Hintergrund.
Hier setzt die Veröffentlichung von Sonja Dollinger zur Diagnosegenauigkeit von ErzieherInnen und LehrerInnen an. Sie stellt die Frage, inwieweit die Diagnosen von pädagogischen Fachkräften beim Übergang von der Kindertagesstätte in die Grundschule zutreffen, übereinstimmen und von welchen Faktoren diese abhängig sind. Diagnosen von Lehrkräften wurden, insbesondere beim Übergang zum und im Sekundarbereich, in den letzten Jahren spätestens seit der PISA-Studie, wissenschaftlich untersucht und überprüft (27f). Diagnosekompetenz stellt demnach für das Handeln von Lehrkräften eine grundlegende Fähigkeit dar, wobei Dollinger verstärkt auf den medizinisch-psychologischen Bereich des Feststellens bestimmter Merkmale als Lernausgangslagen eingeht und weniger den (förder-)diagnostischen Bereich anspricht (33f), der durchaus eine stärkere Betrachtung des kindlichen Umfelds und eine Betonung der Förderung als Handlungskonsequenz beinhaltet [1].
Die grundlegenden Begriffe, die diagnostische Prozesse im Übergang enthalten, werden von Dollinger in ausreichendem Maße definiert. Von Diagnosegenauigkeit über Diagnosekompetenz hin zu Anschlussfähigkeit und Schulfähigkeit werden die aktuellen Forschungsstände und auch kritischen Diskurse wiedergegeben (23ff). Anhand dessen wird die anfangs erwähnte Forschungslücke, die bei der Feststellung der Untersuchung der Diagnosegenauigkeit liegt, noch deutlicher herausgearbeitet. Die hohe Bedeutung der Genauigkeit diagnostischer Aussagen, gerade im Übergang in die Grundschule, wird auf Basis des Transitionsmodells von Griebel und Niesel im Hinblick auf eine gelungene individuelle Übergangsgestaltung betont (56f). Werden hier falsche Aussagen getroffen, können die auf deren Basis geschaffenen Angebote Kinder über- bzw. unterfordern und so Schwierigkeiten beim Schulbeginn entstehen lassen, die durch eine genaue Diagnose vermieden werden könnten.
Zur Schließung der Forschungslücke wurde die Studie zur Diagnosegenauigkeit von Erziehern und Lehrern in der Übergangsphase (DEL) durchgeführt (81f). Diese quantitative Studie, bei der zu drei Erhebungszeitpunkten ErzieherInnen, Lehrkräfte, Eltern und Kinder in München und im Münchner Umland getestet bzw. befragt wurden, bildet die empirische Grundlage der Veröffentlichung. Dollinger bearbeitet das vorliegende Material geleitet von sechs Forschungshypothesen: 1. Gleiche Einschätzung trotz unterschiedlicher Profession (117f); 2. Einschätzung abhängig vom Geschlecht der Kinder (136); 3. Einschätzung sprachlicher Kompetenz abhängig vom Migrationsstatus der Kinder (142); 4. ErzieherInnen schätzen soziale Kompetenzen exakter, Lehrkräfte kognitive (148); 5. Genauigkeit hängt von Merkmalen der Pädagogen ab, insbesondere Berufserfahrung (156) und 6. Genauigkeit der Lehrkräfte verbessert sich zum Ende des ersten Schuljahres (166).
Nach der statistischen Überprüfung und Diskussion der Hypothesen stellt Dollinger abschließend aus den erarbeiteten Ergebnissen die Bedeutung dieser für die pädagogische Praxis dar. Insbesondere für die Aus- und Weiterbildung der pädagogischen Fachkräfte wird empfohlen, die Faktoren einer spezifischen diagnostischen Kompetenz stärker im Elementar- und Primarbereich zu verankern. Dazu werden praktische Beispiele aus Fort- und Weiterbildungskonzepten herangezogen, die insbesondere die Reflexion des eigenen diagnostischen Handelns betonen (187). Neben den Veränderungen in der Aus- und Weiterbildung werden von Dollinger auch die dringend notwendigen Verbesserungen der Rahmenbedingungen, wie kleinere Klassen, zweite Lehrkraft etc., kritisch angemerkt (188). Sie selber hält fest, dass die beschriebene Forschungslücke durch ihre Ergebnisse geschlossen werden konnte (190), wobei angemerkt werden muss, dass dies nur für das Bundesland Bayern gilt, in welchem die Erhebung vorgenommen wurde. Die vorliegende Veröffentlichung von Dollinger liefert somit aber eine wertvolle Grundlage für weitere Forschung in diesem Bereich. Sie selbst nennt weitere Möglichkeiten der Anschlussforschung (195f). Insbesondere die Berücksichtigung bestimmter „Kinder-Typen“ (195) und der Einfluss bestimmter Faktoren auf die Diagnosen der ErzieherInnen und Lehrkräfte, wie bspw. die soziale Herkunft der Kinder, könnten Inhalte zukünftiger Forschung sein.
Sonja Dollinger hat sich zum Ziel gesetzt, die Genauigkeit der Diagnosen, die ErzieherInnen und Lehrkräfte am Übergang vom Elementar- in den Primarbereich stellen, zu überprüfen. Dies ist mit der vorliegenden Arbeit, orientiert an ihren Hypothesen gelungen. Sie hat dafür eine bisher in diesem Bereich einmalige Studie durchgeführt, die beide pädagogischen Professionen zu dieser Thematik in den Blick nimmt. Die Entwicklung der gesamten Arbeit – die theoretische Einführung, die Studie, die Hypothesenbildung und die Ergebnisse und deren Diskussion – lässt kaum Fragen offen. Am Ende macht Dollinger auf weitere Forschungsdesiderate aufmerksam. Sie zeigt damit auch, dass im Bereich der Kooperation und Kommunikation (197) der beiden Institutionen Kindertagesstätten und Grundschulen mit ihren Akteuren noch ein großer Forschungs- und Handlungsbedarf besteht.
[1] Werning, R. / Lichtblau, M. (2012): Sonderpädagogische Diagnostik; in: Werning, R. / Balgo, R. / Palmowski, W. / Sassenroth, M.: Sonderpädagogik. Lernen, Verhalten, Sprache, Bewegung und Wahrnehmung, München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, S. 229-259.
EWR 13 (2014), Nr. 3 (Mai/Juni)
Diagnosegenauigkeit von ErzieherInnen und LehrerInnen
Einschätzung schulrelevanter Kompetenzen in der Übergangsphase
Wiesbaden: Springer VS 2013
(216 S.; ISBN 978-3-658-01659-3; 34,99 EUR)
Sören Thoms (Hannover)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sören Thoms: Rezension von: Dollinger, Sonja: Diagnosegenauigkeit von ErzieherInnen und LehrerInnen, Einschätzung schulrelevanter Kompetenzen in der Ãœbergangsphase. Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365801659.html
Sören Thoms: Rezension von: Dollinger, Sonja: Diagnosegenauigkeit von ErzieherInnen und LehrerInnen, Einschätzung schulrelevanter Kompetenzen in der Ãœbergangsphase. Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365801659.html