Die in der Hochschullehre Tätigen wissen wenig darüber, ob und wieweit sie bei den Studierenden die Entwicklung von Kompetenzen zum Umgang mit Heterogenität in Gang setzen. Da es hierzu noch wenig Forschung gibt, wissen sie zudem auch wenig darüber, wie sie selbst – explorativ – die Kompetenzentwicklung beobachten und evaluieren könnten. Die Idee des vorliegenden Forschungsansatzes, die Kompetenzentwicklung von Studierenden in Bezug auf den Umgang mit Heterogenität mithilfe einer Vignettenstudie zu untersuchen, macht infolgedessen neugierig: Studierenden werden Vignetten – also bildlich oder sprachlich repräsentierte Situationen – vorgelegt, zu denen sie schriftlich auf Fragen antworten sollen. Welche Deutungsmuster kommen in ihren Texten vor? Welche Haltungen und Einstellungen werden deutlich? Welche Zuschreibungen machen sie?
Die vorliegende Publikation, an der neben Katharina Rosenberger auch Franz Prammer beteiligt ist, ist die Veröffentlichung von Teilergebnissen aus einem größeren Projekt zur Kompetenzentwicklung von Lehramtsstudierenden, das an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien / Krems durchgeführt wurde. Die Darstellung ist gegliedert in drei hinleitende Kapitel, in denen der zentrale Begriff der Differenzfähigkeit gefüllt und begründet wird, ein viertes und fünftes Kapitel zur Bildvignetten- und Textvignettenstudie und ein anschließendes sechstes Kapitel zu Implikationen und Empfehlungen für die Hochschulausbildung. Im Folgenden wird die Bildvignettenstudie – Aufbau, Begründung, Ergebnisse – diskutiert.
Mit der Bildvignettenstudie sollen insbesondere zwei Dimensionen unterrichtsbezogener Differenzfähigkeit erfasst werden (‚Handeln in Situationen’ unter Bedingungen von Ungewissheit sowie die Wahrnehmung unterrichtsrelevanter Differenzen), weitere zwei Dimensionen hingegen keine Beachtung finden (Wahrnehmung des eigenen Handelns und der eigenen Involvierung in eine Situation sowie das Wissen, das für Differenzfähigkeit von Bedeutung ist).
Den Befragten wurde ein Bild vorgelegt, auf dem ein Junge an einem Schultisch, der in die Kamera schaut, und eine Tischreihe weiter eine sitzende und stehende kleine Gruppe von Mädchen, die aufeinander bezogen zu sein scheinen, zu sehen ist. Papier und geöffnete Mäppchen liegen auf den Tischen. Ein freier Stuhl neben dem Jungen ist zu sehen. Die Aufgabe an Studierende bzw. Lehrpersonen lautet: „Schauen Sie sich das Bild genau an. Was passiert hier gerade? Beschreiben Sie bitte die Situation“ (86).
Von dem Ansatz, mit Bild- und / oder Textvignetten zu arbeiten, wird sich versprochen, nicht nur deklaratives Wissen zu evaluieren, sondern (wenn schon nicht ‚knowing-in-action’), immerhin ‚knowing-on-action’, also nachträglich, sich auf einzelne Situationen beziehende Reflexionen. Die Auswahl des Bildes wird mit seiner Offenheit bzw. Unbestimmtheit begründet. Es eigne sich als Vignette, so die Autorin, weil es Raum für Interpretationen lässt. Die semantischen Lücken, die seitens der Forschergruppe in dem Bild ausgemacht werden, sollen von den Befragten gefüllt werden. Durch den Situationsbezug – so die Begründung – könnten sich in den Texten der Befragten auch implizite Wissenskomponenten zeigen, die gerade beim Umgang mit Heterogenität wichtig erscheinen.
Mit der Wahl qualitativer Instrumente wird versucht, sowohl einer entdeckenden als auch überprüfenden Forschungslogik zu folgen (20). Mit der Befragung von Studierenden am Anfang und am Ende des Studiums wird dabei ein künstlicher Längsschnitt eingesetzt, um den Zuwachs an Kompetenzen zu erfassen. Zusätzlich werden Praxislehrpersonen mit einigen Jahren Berufserfahrung als weitere Vergleichsgruppe befragt.
Das eigene Verständnis von Kompetenzen wird aus der Zusammenführung des kompetenztheoretischen und des strukturtheoretischen Ansatzes der Professionstheorie entwickelt: Will man Differenzfähigkeit von Lehrpersonen nicht nur als „Problemlöseverhalten“ – wie der kompetenztheoretische Ansatz vorschlägt –, sondern auch als Reaktionen auf Unerwartetes und Überraschendes auf die Offenheit und Unverfügbarkeit von Situationen erheben, bedarf es einer Verknüpfung beider Konzeptionalisierungen professionellen Handelns. Dass in der Darlegung der Kontroverse zwischen beiden Denkrichtungen zuweilen auf Sekundärliteratur Bezug genommen wird, ist etwas irritierend, zum Beispiel dann, wenn die von Werner Helsper entwickelten Antinomien pädagogisch professionellen Handelns mit Ewald Terhart zitiert werden (49). Im Kontext des von der EPIK-Gruppe – EpiK steht für „Entwicklung von Professionalität im internationalen Kontext“; zu ihr gehören u. a. Michael Schratz, Johannes Kainz, Julia Köhler, Fritz Lošek, Angelika Paseka, Ilse Schrittesser, Ramona Uhl, Silvia Wiesinger – entwickelten handlungs- und professionstheoretischen Rahmens wird sich für die eigene Untersuchung auf die unterrichtsbezogene Differenzfähigkeit konzentriert.
Im Ergebnis werden nach einem mehrschrittigen Kodierverfahren drei Texttypen herausgearbeitet: Texte mit reiner Beobachtungssprache, denen eine nicht-reflektierte Beobachterposition zugewiesen wird, Texte mit reflexiven Elementen, denen eine reflektierte Beobachterposition zugewiesen wird und Interpretationstexte, denen eine Nicht-Beobachterposition zugewiesen wird. Die letzte Gruppe von Texten kam am häufigsten vor. Gruppe 1 und 2 treten hingegen eher seltener auf (4% bei den Studierenden, 7-8% der Praxislehrpersonen). Dieser Befund ist ernüchternd, mangelt es folglich in allen befragten Gruppen an der Fähigkeit der Distanznahme zur eigenen Perspektive, zu eigenen Annahmen und Selbstverständlichkeiten.
Interessant für die Weiterentwicklung methodischer Designs sind zudem die Parameter, die für die Beschreibung und Beurteilung der Texte ausgemacht wurden: Beobachtertexte sind demnach von einer – man kann sagen – künstlichen, also bewussten Enthaltsamkeit gekennzeichnet. Texte mit modalen Aussagen und Begründungen gelten als reflektierte Beobachtertexte, Texte, die von Zuschreibungen ohne Indizien gekennzeichnet sind, nicht. Als zentrale Parameter, anhand derer die Texte beurteilt werden können, werden insbesondere der Grad der Reflexivität (Modus der Darstellung), der Projektion (Zuschreibungen) sowie der Sinn für Kontext und Komplexität herausgearbeitet.
Was in der Darstellung des Designs nicht offen gelegt wird, ist, in welcher Art von Lehrveranstaltungen die befragten Studierenden Differenzfähigkeit erwerben können, inwieweit sie in das Arbeiten mit Bildern dabei eingeführt sind, welche Voraussetzungen sie also mitbringen, um die Aufgabe zu verstehen. Zudem wird in der Ergebnisdarstellung das Potential verschenkt, das in der exemplarischen Analyse ausgewählter Texte liegt, um Facetten von Differenzfähigkeit zu verdeutlichen. So bleiben bei der Lektüre der Studie letztlich die Deutungsmuster von Studierenden eigentümlich blass, über die Art der Zuschreibungen und wie sie im Zusammenhang eines Textes entstehen, erfährt man wenig. Auch wird das methodische Vorgehen, z. B. die Annahmen, die in die Auswahl des Bildes eingehen, an keiner Stelle kritisch reflektiert. In die Entwicklung des Forschungsdesgins könnte zudem eine Auseinandersetzung mit vorliegenden Instrumenten der Untersuchung von Vorurteilen, Rassismus etc. einfließen. Wenngleich der gewählte Untersuchungsansatz der vorliegenden Studie plausibel ist, liegt der Gewinn eher in der Weiterentwicklung methodischer Instrumente, denn in den Ergebnissen selbst. Insgesamt bietet die Studie damit einen ersten Einblick in die Entwicklung qualitativer Instrumente und eine mögliche Heuristik zur Untersuchung von Differenzfähigkeit von Lehramtsstudierenden.
EWR 13 (2014), Nr. 4 (Juli/August)
Differenzfähigkeit bei Lehramtsstudierenden
Eine Vignettenstudie
Wiesbaden: Springer VS 2013
(219 S.; ISBN 978-3-658-01440-7; 39,99 EUR)
Kerstin Rabenstein (Göttingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kerstin Rabenstein: Rezension von: Rosenberger, Katharina: Differenzfähigkeit bei Lehramtsstudierenden, Eine Vignettenstudie. Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 4 (Veröffentlicht am 25.07.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365801440.html
Kerstin Rabenstein: Rezension von: Rosenberger, Katharina: Differenzfähigkeit bei Lehramtsstudierenden, Eine Vignettenstudie. Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 4 (Veröffentlicht am 25.07.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365801440.html