Ausgehend von den Annahmen der Bedeutungssteigerung des Kindergartens als Bildungsort und steigender Anforderungen an die Professionalität von Erzieherinnen und Erziehern, beschäftigt sich Beate Beyer in ihrer Dissertation – vor dem Hintergrund der Idee des frühen Ausgleichs negativer familialer Herkunftseffekte für schulische Erfolge – mit der Frage nach den tatsächlichen Bedingungen und Möglichkeiten der Erhöhung von Chancengleichheit im Kindergarten. Mit der Beobachtungsstudie soll ein Blick in den Alltag des Kindergartens geworfen werden. Zentrale Fragen sind, wie Erzieherinnen und Erzieher mit Kindern aus unterschiedlichen sozialen Milieus umgehen und ob bereits im Kindergarten ungleiche Umgangsweisen aufgrund unterschiedlicher habitueller Vorlieben der Kinder auftreten.
Um diese Fragen zu beantworten, geht die Autorin u.a. auf zentrale ungleichheitstheoretische Ansätze zur Erklärung von Bildungsungleichheiten ein (Kap. 2). Im Anschluss an Pierre Bourdieus knapp skizzierten Erklärungsansatz zur Rolle der Institution Schule bei der Reproduktion von Bildungsungleichheit fokussiert die Autorin v.a. Lehrkräfte als Vertreter der in einer Gesellschaft legitim geltenden Regeln und Normen, die „mit der Begründung von Begabungsunterschieden […] vor allem nach gesellschaftlich verankerten Werten und Fähigkeiten selektieren“ (37). Bei der Vorstellung empirischer Studien zu den Effekten des Kindergartens auf die Fähigkeiten von Kindern konstatiert Beyer, dass keine der Studien der Frage nachginge, „wie genau die Erzieherinnen die unterschiedlichen Voraussetzungen bei Kindern unter Berücksichtigung unterschiedlicher Lebenslagen […] meistern“ (41).
In Kapitel 3 schließt Beyer an die ungleichheitstheoretischen Überlegungen Bourdieus an, indem sie das Konzept der kulturellen Passung zwischen Familie und Bildungsinstitution, welches v.a. in der Schulforschung etabliert ist, auf den Kindergarten überträgt. Aus Sicht der Autorin ist hier die Frage zentral, wie Erzieherinnen und Erzieher mit Unterschieden zwischen Kindern umgehen. Um dies zu beantworten, verfolgt Beyer einen praxeologischen Forschungsansatz. Die Datengrundlage für die Auswertung bilden Interviews mit vier Erzieherinnen und zwei Leitungskräften von insgesamt drei Kindertageseinrichtungen sowie Videodaten des pädagogischen Alltags in den Einrichtungen. Sowohl die Interviews als auch das Videomaterial wurden mithilfe der Dokumentarischen Methode (Kap. 4) ausgewertet. Entsprechend der Daten trennt Beyer die Systemebenen ‚“Institution“ (Leitungsinterviews), „Interaktion“ (Videodaten) und „Individuum“ (Erzieherinnen- und Erzieherinterviews) in der fallorientierten Ergebnispräsentation (Kap. 5). Informationen zu den jeweiligen Einrichtungen sowie Orientierungen aus den beiden Leitungsinterviews werden den vier Fällen (Erzieherinnen und Erzieher) vorangestellt. Abschließend werden die vorgestellten Fälle kontrastiert und im Sinne einer sinngenetischen Typenbildung fallübergreifend dargestellt (Kap. 6). Beyer identifiziert drei verschiedene Typen von „Einstellungs- und Handlungspraktiken“ (216) des Umgangs mit Heterogenität, die sich – so die Autorin – auch im Hinblick auf stärker ex-oder inkludierende Praktiken unterscheiden. Die genannten Typen werden u.a. im Hinblick auf das „Passungsverhältnis Erzieherin – Kind“ (217) beleuchtet. So wird z.B. herausgearbeitet, dass der bildungsorientierte Typus B besonders gut zu solchen Kindern passe, die von den Erzieherinnen und Erziehern als sprachversiert wahrgenommen werden. Im Kontext der Anerkennungstheorie von Axel Honneth interpretiert, sei nur einer der von Beyer rekonstruierten Typen in der Lage, (benachteiligten) Kindern auf verschiedenen Ebenen angemessene Anerkennung entgegen zu bringen.
Die Ergebnisse werden im theoretisierenden Kapitel 7 im Zusammenhang mit der Herstellung von Ungleichheit erörtert. Dies geschieht entlang der Darstellung der herausgearbeiteten Differenzlinien wie z.B. Aktivität und Selbstständigkeit. So werden beispielsweise Kinder, die bereits in ihrem Herkunftsmilieu gelernt haben, ihren eigenen Bedürfnissen nachzugehen, als aktiver wahrgenommen und erfahren größere Anerkennung.
Abschließend gibt Beyer u. a. einen Ausblick im Sinne von Schlussfolgerungen für die Aus- und Weiterbildung von Erzieherinnen und Erziehern (Kap. 8). So hebt sie z.B. hervor, dass die Erzieherinnen Wissen über die Bedeutung herkunftsbedingter Unterschiede für die Entwicklung von Kindern benötigen und eigene Normalitätsvorstellungen kennen sollten.
Insgesamt greift die Autorin mit der Untersuchung der (Re-)Produktion von sozialer Ungleichheit im Kindergarten als Bildungsort ein bislang kaum untersuchtes Phänomen auf und leistet damit einen wichtigen Beitrag für die frühpädagogische Forschungslandschaft. Erkenntnisinteresse, die Bezugnahme auf ungleichheitstheoretische Überlegungen Bourdieus und das Untersuchungsdesign – hier v. a. die Trennung der Analyseebenen, die sich in den unterschiedlichen Erhebungsmethoden spiegeln – sind innovativ und vielversprechend.
Kritisch ist anzumerken, dass einige zentrale Aspekte, die in Einleitung und Theorieteil postuliert werden, nicht konsequent umgesetzt werden. So soll „auf eine normative Sichtweise von Bildung und Erziehung weitgehend verzichtet und es sollen anhand vergleichender Analysen die Alltagspraktiken“ (50) beleuchtet werden. Dass der Dissertation trotz gegenteiliger Behauptung eine implizite Norm von „richtiger“ Bildung und Erziehung unterliegt, zeigt sich u.a. in den Fallrekonstruktionen. So wird die Erzieherin Frau Radisch bereits in den Anmerkungen zum Verlauf des Interviews (106f) in einem wenig deskriptiven Sprachduktus als „ausweichend“ im Hinblick auf klare Positionierungen beschrieben. Die sich andeutende Defizitperspektive auf Frau Radischs Orientierungen wird in der zusammenfassenden Betrachtung mit Interpretationen ihres Handelns als „Missachtung“, „Ignorieren“ und „Passivität“ (114f) bilanziert. Der „distanziert-resignative“ Typus C wird damit deutlich defizitorientiert präsentiert, wobei die Norm implizit bleibt, an der der genannte Handlungstypus gemessen wird.
Was hier am Beispiel von Frau Radisch geschieht, ist auch implizit im Forschungsinteresse angelegt: Da nach dem Beitrag der Verhaltens- und Interaktionsmuster einzelner Erzieherinnen und Erzieher an der Ungleichbehandlung von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft gefragt wird – und gleichzeitig festgestellt wird, dass manche Verhaltensmuster günstiger als andere sind – wird eine individualisierende Zuschreibung der Reproduktion sozialer Ungleichheit an die Erzieherinnen und Erzieher vorgenommen. Dies widerspricht einer bourdieuschen Perspektive, die konsequent deskriptiv von (milieuspezifisch)unterschiedlichen Handlungs-, Bewertungs- und Wahrnehmungsschemata ausgeht, die je nach Stellung im sozialen Raum bzw. Feld differieren und relational miteinander verknüpft sind. Hieraus ergeben sich Machtverhältnisse und normative Zuschreibungen besseren oder schlechteren (pädagogischen) Handelns, die, je nach Feld- bzw. Gesellschaftsverhältnissen, letztlich willkürlich sind. Erzieherinnen und Erzieher sind ebenfalls Teil des Feldes, ihr Handeln wird hier durch eine spezifische Brille – in diesem Fall eine wissenschaftliche mit einem spezifischen Erkenntnisinteresse – wahrgenommen und auf dieser Basis auf- bzw. abgewertet. Dieser konstitutive Teil des bourdieuschen Denkens, die Reflexion des eigenen wissenschaftlichen Standpunkts und notwendig einhergehender Zuschreibungen, fehlt der Arbeit.
Mit theoretischem Rückgriff auf Bourdieu ist es letztlich nicht möglich, professionelles Handeln von einem externen, objektiven Standpunkt aus zu bestimmen. Genau dies wird jedoch versucht, indem für die „professionelle Rolle der Erzieherin“ (229) gefordert wird, dass sich „eigene Normalitätsvorstellungen“ (ebd.) mit „gängigen, empirisch bestätigten Vorstellungen zur Entwicklung von Kindern decken“ (ebd.). So konstatiert die Autorin – ihre Defizitperspektive auf das Handeln der Erzieherinnen konsequent aufrechterhaltend – abschließend, dass „ein professioneller Umgang mit Diversität […] in dieser Studie nicht festgestellt werden [konnte]“ (237).
Im Kontext dieser negativen Bilanzierung der empirischen Ergebnisse überrascht, dass eine Bezugnahme auf professionstheoretische Überlegungen auch im entsprechenden Abschlusskapitel „Professionstheoretischer Ausblick“ gänzlich ausbleibt. Um gehaltvolle „professionsbezogene Anknüpfungspunkte“ (247) zu erarbeiten, hätte eine entsprechende professionstheoretische Einbettung als Interpretationsfolie für die empirischen Ergebnisse abschließend fruchtbar sein können.
EWR 13 (2014), Nr. 3 (Mai/Juni)
Soziale Ungleichheit im Kindergarten
Orientierungs- und Handlungsmuster pädagogischer Fachkräfte
Wiesbaden: Springer VS 2013
(251 S.; ISBN 978-3-658-00660-0; 39,95 EUR)
Stefanie Bischoff (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Stefanie Bischoff: Rezension von: Beyer, Beate: Soziale Ungleichheit im Kindergarten, Orientierungs- und Handlungsmuster pädagogischer Fachkräfte. Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365800660.html
Stefanie Bischoff: Rezension von: Beyer, Beate: Soziale Ungleichheit im Kindergarten, Orientierungs- und Handlungsmuster pädagogischer Fachkräfte. Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365800660.html