Die Bezugnahmen auf Bourdieus Habitustheorie sind im Fachdiskurs vielfältig und Bourdieus Beiträge zum Habitusbegriff keineswegs in sich theoretisch konsistent. Daher streben die Herausgeber des Bandes eine Klärung der im Habitusbegriff generell angelegten theoretisch und empirisch differenten Konnotationen und Widersprüchlichkeiten an. Der thematische Schwerpunkt liegt dabei auf den Relationen Bildung, Herkunft, Schule und Schüler/-innen. Der Band gliedert sich in drei Themenbereiche: neben theoretischen und methodologischen Grundlagen zur Analyse des Schülerhabitus (1) werden die Bereiche Schülerhabitus, Familie und Peers in ihrer Verhältnisbestimmung und in empirischen Analysen thematisiert (2). Der letzte Themenbereich widmet sich Studien zum Schülerhabitus in unterschiedlichen Schulformen und -kulturen (3).
Die Beiträge von Ralf Bohnsack, Helmut Bremer und Andrea Lange-Vester sowie von Jürgen Budde thematisieren aus unterschiedlichen Perspektiven methodologische Implikationen und Desiderate der Habitusforschung. Bohnsack entwickelt und erörtert in seinem Beitrag eine Folie zur mehrdimensionalen Kategorienbildung entlang der Termini Habitus, Norm und Identität. Seine exemplarischen Analysen zum Schülerhabitus verdeutlichen, wie sich normative Ansprüche in sozialen Identitätsentwürfen niederschlagen und in die Handlungspraxis der Einzelnen übergehen. Demgegenüber diskutieren Bremer und Lange-Vester die Zusammenhänge von Habitus, Milieu und sozialer Klasse. Sie stellen ein Methodenrepertoire an qualitativen und quantitativen Zugängen vor, mit deren Hilfe die von Bourdieu formulierten allgemeinen wissenschaftstheoretischen Positionen zur Habitusanalyse konkretisiert und exemplarisch anhand ausgewählter empirischer Ergebnisse zu milieuspezifischen Habitusmustern von Lehrkräften diskutiert werden. Budde diskutiert den Zusammenhang von Habitus und Geschlecht. In seinem Beitrag zeigt er Potenziale und Grenzen einer Analyse des männlichen Habitus in Unterrichtspraktiken von Schülerinnen und Schülern: Praktiken des Wettbewerbs, komplizenhafter Solidarisierungen sowie symbolische Formen der Verweiblichung. Dabei ergibt sich in der Erforschung von Habitus ein grundlegender Widerspruch: Empirische Analysen setzen ein Habituskonzept voraus, das eigentlich erst in der Analyse ermittelt werden soll. Analysepotenziale des Schülerhabitus zeigen sich in der Erfassung sozialer Pluralität und der Bedeutung von Differenzkategorien für den individuellen Habitus.
Die Beiträge von Fabian Niestradt und Norbert Ricken sowie von Werner Helsper legen den Schwerpunkt auf theoretische Implikationen und Weiterentwicklungen des Habituskonzepts. Niestradt und Ricken thematisieren Potenziale und Grenzen einer stärkeren Verzahnung der Konzepte Habitus und Bildung. Sie skizzieren ein Spannungsverhältnis zwischen den Polen Transformativität und Reproduktion und plädieren für eine stärkere Verknüpfung der Begriffe Bildung und Habitus. Der sogenannte Bildungshabitus wird als ein in Bildungsprozessen gebildetes „opus transformatum“ und zugleich als bildender „modus transformandi“ begriffen. Demgegenüber nimmt Helsper die Erfassung von Individuationsprozessen im Rahmen der Habitusgenese in den Blick. Dabei gelangt er zu dem Schluss, dass eine ontogenetische Theorie zur Grundlegung einer individuellen Habitusgenese notwendig ist, aber bisher fehlt. Zugleich wird auf Leerstellen in Bourdieus Sozialisationstheorie hinsichtlich der Bedeutung spezifischer Lebensalter verwiesen. Eine Schließung der Leerstellen erfolgt mit dem strukturtheoretischen Konzept zur Ontogenese und zur Entstehung des Neuen nach Oevermann. Die Individuation wird demnach als Abfolge struktureller Krisen resp. Ablösungen beschrieben und anhand des Kindes- und Jugendalters konkretisiert.
Die theoretischen und empirischen Bestimmungen der kulturellen Passung im Feld der Schule werden insbesondere in den Beiträgen von Sandra Rademacher und Andreas Wernet sowie von Rolf-Torsten Kramer diskutiert. Rademacher und Wernet reflektieren das Konzept der kulturellen Passung zur Erklärung der Reproduktion sozialer Ungleichheiten im Bildungssystem. Sie problematisieren, dass Studien zur Schulkultur eine ideale und reibungslose Passung von Schulkultur und Herkunftsmilieu unterstellen. Die soziale Wirklichkeit erscheint vor diesem Hintergrund immer schon abweichend. Daher favorisieren sie das Konzept des subjektiven Habitus, in das neben Milieubedingungen die biografische Identität und familiale Dynamiken miteinfließen. Kramer hingegen bestätigt im Anschluss an die Arbeiten von Bourdieu und Passeron zum primären und sekundären Habitus die These der kulturellen Passung. Er verweist auf die Notwendigkeit der Bewährung des Habitus im jeweiligen (schulischen) Feld. Der Begriff des Schülerhabitus wird dabei auf zwei Ebenen verortet: Er umfasst individuelle Dispositionen und ihre Passung zum Feld Schule und er impliziert als institutioneller Habitus Imaginationen des idealen Schülers. Hier ergeben sich Anschluss- oder auch Ausschlussmöglichkeiten zum individuellen Habitus.
Die Beiträge von Sven Thiersch sowie Julia Labede und Mirja Silkenbeumer thematisieren u. a. den Einfluss des familialen Habitus für die Bildungsorientierungen von Schülerinnen und Schülern. Thierschs Beitrag diskutiert die Bedeutung des familialen Bildungshabitus für die Bildungskarrieren von Kindern im Übergang zur Sekundarstufe. Die Ergebnisse seiner qualitativen Studie verweisen auf die Relevanz des familialen Bildungshabitus in Bezug auf den Verlauf von Bildungskarrieren und in Bezug auf bewusste Bildungsentscheidungen von Kindern. Die beschriebenen familialen Wandlungsprozesse implizieren Spannungslagen und Konflikte. Labede und Silkenbeumer nehmen ebenso Spannungslagen von Schülerinnen und Schülern in den Blick. Im Anschluss an den Terminus des Bildungsselbst untersuchen sie familiale und milieubezogene Einflüsse auf die Bildungsorientierung von Heranwachsenden und betonen, dass adoleszente Individuations- und Ablösungsprozesse grundsätzlichen Einfluss auf den Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern nehmen.
Die Bedeutung der Peergroup für die Ausbildung habitueller, schulischer Orientierungen wird aus unterschiedlichen Perspektiven in den Beiträgen von Heinz-Hermann Krüger und Ulrike Deppe sowie von Florian von Rosenberg thematisiert. Krüger und Deppe untersuchen auf der Grundlage einer qualitativen Längsschnittstudie die Bedeutung von Peerbeziehungen für die Ausbildung schulischer Orientierungen. Die vorgestellten Studienergebnisse legen nahe, die häufig vertretene These der Homologie von familiärem Bildungshabitus und Bildungsverlauf zu differenzieren. In einem von vier rekonstruierten Längsschnittbasistypen zeigt sich eine kontinuierliche Ausdifferenzierung der Bildungsorientierung von Schülerinnen und Schülern im Rahmen von Peerbeziehungen. Der Einfluss der Klassenlage auf schulische Bildungsorientierung ist daher zu relativieren. Dies spiegelt sich ebenso in den Analysen zum Einfluss des Lebensalters / Entwicklungsstandes wider: Mit zunehmendem Alter relativieren sich familiale habituelle Orientierungen von Heranwachsenden durch die Erfahrungen in Schule und Peerwelt. Von Rosenberg beleuchtet in seinem Beitrag, inwieweit Peergroups Potenziale für Bildungsprozesse bieten. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass Peergroups aufgrund ihrer spezifischen Aneignungs- und Verarbeitungspraktiken Habitustransformationen anstoßen können, die er durchaus als Bildungsprozesse charakterisiert.
Die Relationierung von Schülerhabitus zu unterschiedlichen Schulformen und -kulturen ist Gegenstand der Beiträge von Stefan Wellgraf, Sina-Mareen Köhler, Till-Sebastian Idel, Anja Gibson, Edina Schneider und Mareke Niemann. Wellgraf beschreibt die kulturelle Passung von erfahrungsweltlichen, jugendlichen Orientierungen zur jeweiligen Schulform im Anschluss an Bourdieu als soziale Distinktionskämpfe. Er vertritt die These, dass der bildungsbürgerliche Habitus Heranwachsenden Berufs- und Karriereoptionen eröffnet, die Jugendlichen der Hauptschule weitgehend verschlossen bleiben. Köhler untersucht Peer-Praktiken unter den Bedingungen globaler Mobilität an internationalen Schulen. Sie unterstreicht die Notwendigkeit einer Differenzierung von Schüler- und Peerhabitus und eruiert diesbezüglich differente Konstellationen. Schule sollte daher die soziale Beziehungsentwicklung unter Gleichaltrigen fördern. Idel nimmt in seinem Beitrag zur schulkulturellen Passung von Institution und Schülerhabitus reformpädagogische Privatschulen am Beispiel von Waldorfschulen in den Blick. Das Besondere des Waldorfschülerhabitus liegt dabei in Formen moderaten Strebens, das einer gemäßigten waldorfpädagogischen Leistungserwartung und der Ablehnung eines starken kompetitiven Strebens nach Bildungsexzellenz entspricht. Demgegenüber thematisiert Anja Gibson das schulkulturelle Passungsverhältnis von exklusiven Internatsgymnasien. Ihre Analysen verdeutlichen, dass spezifische schulkulturelle Ausformungen der Einzelschule für Heranwachsende unterschiedliche Anknüpfungsmöglichkeiten für die von ihnen präferierten kulturellen Praktiken und Ausdrucksgestalten bieten. Insbesondere Annäherungen des familiären primären Habitus von Heranwachsenden an Figurationen des idealen Schülers sind entscheidend für eine erfolgreiche Passung. Während Schneider habitualisierte Bildungsorientierungen einer Schulformaufsteigerin untersucht und die prozessuale Bearbeitung veränderter schulischer Rahmenbedingungen vor dem Hintergrund biografischer Erfahrungen betont, widmet sich Niemann in ihren Analysen den subjektiven Verarbeitungsformen und Orientierungsproblemen von Heranwachsenden bei Schulformabstiegen. Sie resümiert, dass Schulabstiege nicht zwangsläufig zu einer besseren Passung von schulischem Anspruch und Schülerleistung führen.
Die Herausgeber setzen sich zum Ziel, mit diesem Band an Leistungen und Desiderate der Habitusforschung anzuknüpfen und zugleich grundlegende schulspezifische Fragestellungen aufzugreifen. Dies ist ihnen in jeglicher Hinsicht gelungen. Der Band bietet eine Fülle an Forschungsergebnissen und einen vertieften Einblick in wichtige theoretische Fragestellungen, Weiterentwicklungen, Desiderate sowie widersprüchliche Positionen zum Theorem der kulturellen Passung im schulischen Feld.
EWR 13 (2014), Nr. 6 (November/Dezember)
Schülerhabitus
Theoretische und empirische Analysen zum Bourdieuschen Theorem der kulturellen Passung
Reihe: Studien zur Schul- und Bildungsforschung, Band 50
Reihe: Studien zur Schul- und Bildungsforschung, Band 50
Wiesbaden: Springer 2014
(404 S.; ISBN 978-3-6580-0494-1; 49,99 EUR)
Anneke Bruning und Claudia Equit (Hagen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anneke Bruning und Claudia Equit: Rezension von: Helsper, Werner / Kramer, Rolf-Torsten / Thiersch, Sven (Hg.): Schülerhabitus, Theoretische und empirische Analysen zum Bourdieuschen Theorem der kulturellen Passung Reihe: Studien zur Schul- und Bildungsforschung, Band 50. Wiesbaden: Springer 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365800494.html
Anneke Bruning und Claudia Equit: Rezension von: Helsper, Werner / Kramer, Rolf-Torsten / Thiersch, Sven (Hg.): Schülerhabitus, Theoretische und empirische Analysen zum Bourdieuschen Theorem der kulturellen Passung Reihe: Studien zur Schul- und Bildungsforschung, Band 50. Wiesbaden: Springer 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365800494.html