Lehramtsstudierende und auch Lehramtsanwärter bemängeln an der ersten Ausbildungsphase immer wieder den fehlenden Praxisbezug, also die fehlende Verknüpfung von Theorie und Praxis. Gleichwohl gelten Praxiserfahrungen und Berufsfeldorientierungsanteile nicht erst in den derzeitigen Reformdiskussionen rund um das Lehrerstudium als Qualitätsmerkmal. In der vorliegenden Dissertation geht es darum, den Wunsch nach „mehr Praxis“ aus Sicht ehemaliger Studierender aufzuschlüsseln. Livia Makrinus stellt das Verhältnis von Theorie und Praxis in den verschiedenen Lehrämtern zunächst im historischen Wandel – insbesondere für die Bundesrepublik Deutschland dar. Gegenwärtig ist die erste, in der Universität verortete und auf „den Erwerb der Wissens- und Reflexionsbasis für die spätere Lehrtätigkeit“ (71) ausgerichtete Phase der Lehrerbildung in Deutschland auf Länderebene unterschiedlich geregelt. Makrinus unterscheidet grob drei verschiedene Formen von Praktika in der ersten Phase der Lehrerbildung (72): Praktika mit direktem Einbezug in die Schulpraxis dienen überwiegend der Sammlung erster Erfahrungen im zukünftigen beruflichen Feld, der Selbstvergewisserung der Berufswahl, dem Einblick in die Vielfalt der Anforderungen des Berufsfeldes, dem Perspektivwechsel von der Schüler- zur Lehrerrolle, der Verbindung der Studieninhalte mit der Schulpraxis im Sinne einer Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Die Auseinandersetzung mit dem professionellen Handeln anhand der Rekonstruktion von konkreten Fallbeispielen innerhalb einer zweiten Praktikumsform ist nach Makrinus mit dem Anspruch der reflexiven Vermittlung zwischen Theorie und Praxis verbunden. Auf organisatorischer Ebene wird dieser Ansatz in Form von Fallseminaren verfolgt, in denen häufig auch Materialien der Studierenden (Videomitschnitte, Stundenprotokolle) einbezogen werden. Oft werden wissenschaftliche Analysemethoden aus der qualitativen Forschung eingesetzt. Der Fokus liegt auf der Vermittlung einer reflexiven Distanz zur Schulpraxis. Unter der langfristigen Einbindung in pädagogische Kontexte werden schließlich Praxisprojekte verstanden, die – anders als die schulpraktischen Studien – nicht an Schulklassen und die Rahmenbedingungen des Schullalltags geknüpft sind, also z. B. die Leistungsförderung oder sozialpädagogische Förderung von Schülerinnen und Schülern im Nachmittagsbereich.
Die Autorin führt eine Vielfalt von Studien und Forschungsergebnissen zu individuellen Aneignungs- und Deutungsmustern von Studierenden in Studium und Praktika an, die dokumentieren, dass Praktika im Lehramt aus Sicht der Studierenden eine große Relevanz haben und als berufsvorbereitendes Element wahrgenommen werden. Viele studentische Erwartungen werden im realen Vollzug der Praktika gebrochen. Rückblickend beziehen sich Lehramtsanwärterinnen und -anwärter gerade dann auf den Wunsch nach mehr Praxis, wenn Konflikte und Krisen im Zusammenhang von Studium und Praktika auftraten.
Makrinus stellt zudem zahlreiche Forschungsergebnisse zur zweiten Phase der Lehrerbildung vor. So benennen etwa Wernet und Wernet / Kreuter (2007) in ihrer qualitativen Studie den Rollen- und Statuswechsel als möglicherweise problematische Konstellation im Referendariat und begründen damit das latent diffuse, kaum fassbare Unbehagen der Referendare. Nach Hänsel und Gecks (1990) stellt sich die zweite Ausbildungsphase „als Prozess der Anpassung an die institutionellen Anforderungen von Schule und Unterricht“ (88) dar.
Vor dem Hintergrund der Forschungsergebnisse zu erster und zweiter Ausbildungsphase formuliert Makrinus als Forschungsfragen: Wie stellen Lehramtsanwärter ihre studienbegleitenden Praxiserfahrungen im berufs- bzw. studienbiographischen Rückblick dar? Wie gestaltet sich der Übergang vom Studium in den Vorbereitungsdienst? Wie wird die gegenwärtige Handlungspraxis zu den Praxiserfahrungen während des Studiums in Bezug gesetzt? Makrinus führte elf narrative Interviews, die sie mit der Narrationsanalyse nach Schütze auswertet. Für die Fallauswahl im Buch wurden vier Lehramtsanwärterinnen und -anwärter einbezogen, die sich zur Zeit der Erhebung in der ersten Hälfte des Vorbereitungsdienstes befanden und die in Art und Intensität unterschiedliche Formen von Praktika vor Eintritt in die zweite Phase der Ausbildung erlebt haben. Alle vier hatten ein Lehramtsstudium an derselben Universität absolviert, bis auf einen Fall hatten alle Lehramt an Sonderschulen studiert. Die Fallanalysen werden ausführlich dokumentiert und jeweils zwei Fälle, die sich maximal kontrastierend darstellen, miteinander verglichen. Es wird in den Interviews Raum gelassen „für die ganze Lebensgeschichte“ (115).
Vor dem Hintergrund der Fallkontrastierungen werden über die typologische Verdichtung der Einzelfälle Ansätze einer Typologie des Studierens herausgearbeitet, die sie als Modus der Abwicklung und der Aneignung des Studiums benennt. Die Lehramtsanwärter, die ihr Studium im Abwicklungsmodus absolvierten, „erleben den Übergang in den Vorbereitungsdienst als Erlösung vom alten, als deprivierend empfundenen Status. Die Lehramtsanwärter, die ihr Studium im Modus der Aneignung absolvierten, nehmen den Übergang in den Vorbereitungsdienst eher als Bruch wahr, als Statuswechsel von der Rolle des mündigen Studenten in die des belehrten und bezwungenen Schülers.
Die Interviews unterstützen die oben genannten standardisiert erfassten Forschungsergebnisse und die Verfasserin stellt fest, dass Studierende mit unterschiedlichen Motivlagen und Einstellungen zum Studium die erste Ausbildungsphase in ähnlicher Art und Weise durchlaufen. Trotz struktureller Unzulänglichkeiten werden die Praktika in ihrer Gesamtheit von den Interviewten als wichtiges, teils wichtigstes Studienelement bewertet, studienbegleitende Praxiserfahrungen – zusätzlich zu den obligatorischen Praktika – als wichtige Entwicklungs- und Entfaltungsräume wahrgenommen. Übereinstimmend beschreiben die Interviewten den Vorbereitungsdienst als eine von Krisen gekennzeichnete Lebensphase.
Livia Makrinus hat den zahlreichen Büchern zur Praxisphase ein weiteres hinzugefügt. Sie hat Theorien, Studien und Forschungsergebnisse zu diesem Thema übersichtlich zusammengefasst. Was das Buch besonders interessant macht, sind die ausführlich präsentierten Fallanalysen. Sie zeigen, wie biographische Hintergründe die Wahl des Studiums und die Art und Weise der Durchführung des Studiums beeinflussen und auch die Wahrnehmung der Praxisphasen in der ersten Ausbildungsphase sowie den Übergang in den Vorbereitungsdienst mitbestimmen. Die ausführlichen Falldarstellungen sind für diejenigen lesenswert, die mit der Gestaltung der Praxisphasen im Lehramtsstudium und des Vorbereitungsdienstes befasst sind. Die analysierten individuellen Erfahrungen und Wahrnehmungen der Praxisphasen aus der Perspektive der Lehramtsanwärter im vorliegenden Buch könnten dazu beitragen, gute Gelingensbedingungen für künftige Lehrkräfte zu schaffen.
EWR 13 (2014), Nr. 4 (Juli/August)
Der Wunsch nach mehr Praxis
Zur Bedeutung von Praxisphasen im Lehramtsstudium
(Reihe „Studien zur Schul- und Bildungsforschung“ Band 43)
(Reihe „Studien zur Schul- und Bildungsforschung“ Band 43)
Wiesbaden: Springer VS 2013
(261 S.; ISBN 978-3-658-00394-4; 39,95 EUR)
Gabriela Zaremba (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gabriela Zaremba: Rezension von: Makrinus, Livia: Der Wunsch nach mehr Praxis, Zur Bedeutung von Praxisphasen im Lehramtsstudium (Reihe „Studien zur Schul- und Bildungsforschung“ Band 43). Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 4 (Veröffentlicht am 25.07.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365800394.html
Gabriela Zaremba: Rezension von: Makrinus, Livia: Der Wunsch nach mehr Praxis, Zur Bedeutung von Praxisphasen im Lehramtsstudium (Reihe „Studien zur Schul- und Bildungsforschung“ Band 43). Wiesbaden: Springer VS 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 4 (Veröffentlicht am 25.07.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365800394.html