Gebrauchsanweisungen haben in der Pädagogik, namentlich unter Didaktikern, keinen guten Ruf. Man verbindet damit technologische Betriebsanleitungen und rezeptförmige Informationsvermittlungen, die instruieren, aber nicht zum Selberdenken anregen. Solche Bevormundung, hat Andreas Gruschka einmal bemerkt, „hält die Menschen, ohne daß sie dies überhaupt noch merken, unmündig“ [1]. Ungeachtet solcher Bedenken hat Christian Niemeyer, Professor für Sozialpädagogik an der TU Dresden, „eine Art Gebrauchsanweisung“ (12) vorgelegt. Ihre Zielgruppe sind interessierte (Erst-)Leser/innen des Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900), der mittlerweile, wenn nicht zum engeren, so doch zum erweiterten Kanon der Pädagogik gehört.
Dass zum Verständnis seiner Ansichten eine regelrechte Bedienungshilfe nötig sein soll, will einem wie Hohn auf dessen freigeistige Gedankenwelt vorkommen. Vielleicht, so vermutet man, ist der Untertitel ja ironisch gemeint, so wie einst bei Georges Perec, der einen Roman „Das Leben. Gebrauchsanweisung“ betitelte. Doch von der spielerischen Leichtigkeit des französischen Dichters ist Niemeyer weit entfernt, ihm ist es bitterernst. Das vorliegende Buch verdankt sein Entstehen nämlich der Verärgerung des Autors „über die Entschlossenheit, mit der in jüngerer Zeit wieder einmal die dunklen, die schwer verständlichen, gar schwer verdaulichen Seiten Nietzsches ans Licht gezerrt und angeprangert werden“ (191). Niemeyer – das sollte man wissen, um sein Buch einordnen zu können – ist ein bekennender Nietzsche-Enthusiast. In keinem seiner Schlag auf Schlag erscheinenden Bücher hält er sich bei den problematischen, ja mitunter verheerenden („schwer verdaulichen“) Werkpassagen des Philosophen auf, dafür zieht er umso grimmiger gegen jene zu Felde, die nicht nachlassen, ihre Finger darauf zu legen. Diese „Gebrauchsanweisung“ darf auch nicht mit einer Einführung in das Denken Nietzsches verwechselt werden, dafür lässt sie sich zu wenig auf dessen Argumentationslogik ein, und sie verliert sich bisweilen in Detail- und Hintergrundwissen. In der Hauptsache geht es in dem Buch um das Beiseiteräumen von angeblichen Fehldeutungen und um das Entkräften von Interpretationen, die der „wahren Intention Nietzsches“ (147) entgegen stünden. Das dürfte eher ein Fachpublikum ansprechen.
Dass sich Nietzsche-Experten allerdings von den in Imperativen gefassten Kapitelüberschriften angesprochen fühlen, ist schwer vorstellbar. Sieben Gebotstafeln hat Niemeyer aufgestellt (zum Glück, möchte man sagen, sind es nicht zehn geworden). Das erste Gebot lautet: „Du musst den Zusammenhang von Leben und Werk beachten!“ Niemeyer plädiert für biographische Lesarten, in denen die Lebensumstände des Autors maßgeblich die Werkhermeneutik bestimmen. Auf die Fallstricke dieses Ansatzes kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Bedeutsam ist, wie Niemeyer ihn begründet. Angebracht wäre hierfür eine Auseinandersetzung mit einschlägigen Denkern wie etwa Roland Barthes, der Textauslegungen, die sich auf die „Person“ oder auf mutmaßliche „Intentionen“ des Autors stützen, mit triftigen Argumenten zurückgewiesen hat [2]. Niemeyer geht auf diesen Diskurs nicht ein. Er versucht seine Position in Absetzung von anderen Nietzsche-Interpretationen zu rechtfertigen. Auch das geschieht allerdings nicht wirklich argumentativ, wenn man darunter eine nachvollziehbare Wiedergabe von Argumenten und die Formulierung von Gegenargumenten versteht. Niemeyer indes führt lediglich eine Reihe von Interpreten auf (darunter befindet sich auch der Rezensent, dessen Nietzsche-Monographie, was ausgeblendet wird, immerhin rund 100 Seiten Biographieforschung enthält). Die Positionen der einzelnen Interpreten werden summarisch für „ähnlich“ (14) erklärt, was sie freilich nur oberflächlich, nämlich in der Ablehnung der biographischen Hermeneutik, nicht aber in ihren Begründungsmustern sind, die nicht zur Sprache kommen. Eine stichhaltige Widerlegung der einzelnen Positionen glaubt Niemeyer schuldig bleiben zu dürfen: „Urteile wie diese richten sich selbst“. Warum? „Sie sind dogmatisch“ (14). Was an begründeten und in der Literaturwissenschaft vielfach akzeptierten Positionen dogmatisch sein soll, bleibt ebenso unbestimmt, wie die Tatsache verblüfft, dass Niemeyer seinen eigenen, recht begründungsschwach eingeführten hermeneutischen Ansatz offenkundig für undogmatisch hält.
Biographische Werkinterpretationen können selbstverständlich durchaus erhellend sein, davon kann man sich auch in diesem Buch überzeugen. Doch der philosophischen Erkenntnis ist nicht damit gedient, wenn gewichtige Gedankenzusammenhänge „in der Hauptsache“ (16) als verschlüsselte Abrechnungen mit Familienmitgliedern ausgewiesen und im Grunde zu einer Privatangelegenheit erklärt werden; Nietzsches Philosophie verlöre dadurch schlagartig an Relevanz, was glücklicherweise nicht zu befürchten ist. Ebenso fragwürdig scheint mir der tendenziöse Einsatz biographischer Kontextualisierung. Diese kommt überwiegend zum Zuge, um unliebsame (dunkle, schwer verdauliche) Aussagen Nietzsches, ja ganze Werkphasen zu neutralisieren, während seine „lichten“ Erkenntnisse ohne Weiteres für sich sprechen dürfen. Unbedingt der Schattenseite seiner Philosophie zuzurechnen sind seine Bemerkungen zur Züchtung und Eugenik. Man weicht ihrer schockierenden Brisanz aus, wenn man sie mit dem biographischen Hinweis bagatellisiert, sie müssten „im Zusammenhang seiner Krankengeschichte sowie der seines Vaters gelesen werden“ (34).
Niemeyers zweites Gebot besagt, man müsse um die Editionsgeschichte des Werkes wissen, da durch grobe Textverfälschungen die Rezeption auf Abwege geraten sei. Das ist richtig und wichtig. 40 Seiten zu dieser Thematik verlangen den Nietzsche-Einsteigern allerdings einiges an Durchhaltevermögen ab. Auf Seitenhiebe wie die, dass die Herausgeber des „Historischen Wörterbuchs der Pädagogik“ aus „Schlampigkeit“ (35) versäumt hätten, Nietzsche im Personenregister aufzuführen (obgleich er häufiger genannt werde als sie selbst), hätte man verzichten können; sie tragen kaum zum Verständnis Nietzsches bei.
Im dritten Gebot versucht Niemeyer den Nachweis zu erbringen, Nietzsches gesamtes Frühwerk (darunter die bedeutsame Tragödienschrift und die Bildungsvorträge) sei aufgrund einer „Vaterübertragung Nietzsches auf Wagner“ (83) als unauthentisch zu verwerfen – ein Psychologismus, der schwerlich überzeugt. Die restlichen Gebote befassen sich mit dem Antisemitismus Nietzsches – der als ein „rhetorischer“ (136) entschärft wird –, seiner bellizistischen Gesinnung – die mit dessen „wahre(r) Intention“ (147) nichts zu tun habe –, seiner angeblichen Zerstörung des Wahrheitsbegriffs und schließlich mit dem Übermenschen, den Niemeyer zum wiederholten Male als ein „bildungsphilosophisches Konstrukt“ (168) anpreist.
In dem Buch steckt eine Menge Wissenswertes, die Informationsdichte ist beeindruckend. Am Ende aber, ein wenig erschöpft von halsstarrigen Attitüden und hermeneutischen Grabenkämpfen, möchte man ein achtes Gebot hinzufügen: „Du musst, um Nietzsche zu verstehen, vor allem eines tun: ihn ohne Gebrauchsanweisung lesen, lesen, lesen!“
[1] Andreas Gruschka: Negative Pädagogik. Einführung in die Pädagogik mit Kritischer Theorie. Wetzlar: Büchse der Pandora 1988, S. 287.
[2] Roland Barthes: Literatur oder Geschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969.
EWR 12 (2013), Nr. 5 (September/Oktober)
Nietzsche verstehen
Eine Gebrauchsanweisung
Darmstadt: Lambert Schneider 2011
(240 S.; ISBN 978-3-650-23823-8; 24,90 EUR)
Timo Hoyer (Karlsruhe)
Zur Zitierweise der Rezension:
Timo Hoyer: Rezension von: Niemeyer, Christian: Nietzsche verstehen, Eine Gebrauchsanweisung. Darmstadt: Lambert Schneider 2011. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365023823.html
Timo Hoyer: Rezension von: Niemeyer, Christian: Nietzsche verstehen, Eine Gebrauchsanweisung. Darmstadt: Lambert Schneider 2011. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978365023823.html