EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)

Buholzer, Alois / Joller-Graf Klaus / Kummer Wyss, Annemarie / Zobrist, Bruno (Hrsg.)
Kompetenzprofil zum Umgang mit heterogenen Lerngruppen
Wien, ZĂŒrich, Berlin, MĂŒnster: LIT Verlag 2012
(77 S.; ISBN 978-3-643-80084-8; 18,90 EUR)
Kompetenzprofil zum Umgang mit heterogenen Lerngruppen Das Thema HeterogenitĂ€t hat seit einigen Jahren Hochkonjunktur. So lassen sich Veröffentlichungen fĂŒr nahezu jede Bildungsstufe finden. In einigen Publikationen wird das Thema eher theoretisch betrachtet, in anderen stehen praktische Umsetzungstipps im Vordergrund, wieder andere versuchen sich – und hier ist auch das Buch von Buholzer et al. einzuordnen – sozusagen in einer Mischform. Was bringt dieses Buch, das als erster Band in der Schriftenreihe Schule und HeterogenitĂ€t im LIT Verlag erschienen ist, Neues?

Im Mittelpunkt des Buches stehen Kompetenzen fĂŒr den Umgang mit einer heterogenen SchĂŒlerschaft. Die Autoren adressieren dabei die Lehrerbildung und die Berufspraxis (1). Beiden AnsprĂŒchen zu genĂŒgen ist ein hoher Anspruch, dem das Buch – soviel sei vorweggenommen – nur teilweise gerecht wird.

Im Mittelpunkt stehen sechs Kompetenzfelder, die das Buch in Form von Kapiteln strukturieren. (I Förderorientiert diagnostizieren, II Unterricht binnendifferenziert gestalten, III Lernprozesse steuern, IV Ressourcen vernetzen, V Sozialverhalten verstehen und steuern, VII WirkungszusammenhÀnge in Schule und Unterricht wahrnehmen und beeinflussen.)

Der Aufbau der einzelnen Kapitel ist identisch: Nach der Beschreibung des jeweiligen Kompetenzfeldes wird das zugehörige Kompetenzraster vorgestellt. Dieses Raster enthĂ€lt Unterkompetenzen mit jeweils vier Niveaustufen. Anschließend folgt eine Konkretisierung anhand ausgewĂ€hlter Konzepte oder Instrumente zum Feld (3).
An einzelnen Stellen wird anhand einer fiktiven Schulklasse die VielfĂ€ltigkeit der Anforderungen an Lehrer/innen aufgrund der HeterogenitĂ€t der SchĂŒlerschaft illustriert. Abbildungen, Grafiken und Tabellen gewĂ€hrleisten einen schnellen Überblick zu den einzelnen Kompetenzfeldern und Unterthemen.

Nach einem kurzen Vorwort zur Entstehung und zum Inhalt des Buches ist ein allgemeines Einleitungskapitel zum „Umgang mit heterogenen Lerngruppen und Kompetenzentwicklung“ (5ff) vorangestellt. Hier werden unter Rekurs auf Forschungen von Annedore Prengel und Andreas Hinz insbesondere die „PĂ€dagogik der Vielfalt“ (6f) sowie die Inklusion (7f) thematisiert und der Kompetenzbegriff geklĂ€rt. Unter Kompetenz verstehen Buholzer et al. „die FĂ€higkeit, eine Leistung in immer wieder neuen Situationen zielbezogen, effektiv und unter Beachtung ethischer Regeln zu erbringen“ (8). Dabei wird auf die Relevanz von Rahmenbedingungen hingewiesen.

Im nachfolgenden ersten Kapitel werden der aktuelle Forschungsstand zum Thema Diagnostik im Sinne einer Förderdiagnostik dargestellt sowie selektive Maßnahmen von Diagnostik kritisiert. Der Gewinn durch Beobachtung im Unterricht wird veranschaulicht und die Notwendigkeit von Kriterien bei der Diagnostik angesprochen. Des Weiteren weisen die Autor/innen darauf hin, dass eine Diagnostik stets dialogisch zwischen Lehrer/in und SchĂŒler/in entworfen werden sollte. An dieser Stelle werden Erziehungsberechtigte und andere am Bildungsprozess eines Kindes beteiligte Personen ausgeklammert.

Kapitel 2 stellt die Binnendifferenzierung in den Mittelpunkt. Unterricht soll einerseits den individuellen BedĂŒrfnissen der SchĂŒler/innen entsprechen, andererseits aber auch das gemeinschaftliche Lernen fördern. Besonders hilfreich zum nĂ€heren VerstĂ€ndnis ist die Abbildung und Besprechung der Spannungsfelder im Unterricht (29). Ein Unterkapitel wird dem offenen Unterricht gewidmet. Auch hier wird auf zahlreiche Theorien und empirische Forschungsbefunde pointiert in verstĂ€ndlicher Art und Weise eingegangen. Die UnterstĂŒtzung von Lernprozessen in Kapitel 3 wird anhand von AusfĂŒhrungen zum selbstgesteuerten Lernen, zur Metakognition sowie zum kooperativen Lernen verdeutlicht.

Mit Kapitel 2 und 3 wird die verĂ€nderte Rolle von Lehrer/innen veranschaulicht, die mit dem Ernstnehmen der unterschiedlichen BedĂŒrfnisse einer heterogenen SchĂŒler/innenschaft einhergeht. Ihre primĂ€re Aufgabe besteht in der Gestaltung von Lernumgebungen (25ff) sowie in der UnterstĂŒtzung von Lernprozessen der SchĂŒler/innen (33ff). Damit entsprechen Buholzer et al. dem aktuellen Trend der Forschung und geben Praktiker/innen hilfreiche Anregungen fĂŒr die schulische Umsetzung und betonen, dass die vielfĂ€ltigen Anforderungen eine stĂ€rkere Vernetzung innerhalb eines Kollegiums notwendig machen.

Darauf gehen die Autor/innen im 4. Kapitel explizit ein. Hier geht es um die EinschĂ€tzung persönlicher StĂ€rken sowie darum, dieses Wissen und Können gezielt im Team einzubringen. Auch die ProfilschĂ€rfung ĂŒber Weiterbildungen wird thematisiert; auf die Vernetzung mit externen Expert/innen wird dagegen nur kurz eingegangen.

Ein in der Praxis hĂ€ufig geschildertes Problem ist der Umgang mit ‚störendem‘ Sozialverhalten. Kapitel 5 enthĂ€lt dazu verschiedene Anregungen und sensibilisiert fĂŒr eine systemische Deutung von schwierigen Verhaltensweisen.

In Kapitel 6 wird abschließend auf Wirkmechanismen in Schule und Unterricht aufmerksam gemacht und vor allem die Relevanz von stetiger Unterrichts- und Schulentwicklung betont. Als praktische Hilfe werden z.B. der Index fĂŒr Inklusion sowie die Bildung demokratischer Strukturen besprochen.

Gut gelungen ist den Autor/innen, wissenswerte Forschungsergebnisse aus verschiedenen Studien einfließen zu lassen. Die verwendeten Befunde sind treffsicher ausgewĂ€hlt sowie eingesetzt und dienen der Fundierung der einzelnen Themen, wie z.B. Diagnostik oder Differenzierung. Jedes Kapitel enthĂ€lt verschiedene Umsetzungskonzepte. Die Auswahl der Beispiele ist allerdings nicht immer ganz nachvollziehbar bzw. erscheint etwas willkĂŒrlich. Ein verschenktes Potenzial liegt in der begrenzten Verwendung des HeterogenitĂ€tsbegriffes. Die mangelnde VerknĂŒpfung des HeterogenitĂ€tsdiskurses mit der Integrativen/Inklusiven Didaktik und weiteren Diskursen, wie z.B. zum JahrgangsĂŒbergreifenden Lernen, ist kein neues PhĂ€nomen [1].

Das Buch von Buholzer et al. macht einen Anfang dies zu ĂŒberwinden, durch die BerĂŒcksichtigung der PĂ€dagogik der Vielfalt und der ErwĂ€hnung der Inklusion. Leider hört die Einbeziehung in den konkreten Umsetzungskapiteln auf. Vielleicht kann ĂŒber die geplante Buchreihe des LIT Verlages eine solche ZusammenfĂŒhrung realisiert werden.

Fazit:
Die Abbildung der Kompetenzfelder in einem Raster-Modell hat zwei Seiten. Auf der einen Seite bietet dieses Vorgehen eine ĂŒbersichtliche Struktur mit vielfacher Ausdifferenzierung. Dies kann durchaus von praktischem Nutzen sein fĂŒr die persönliche Profil-Analyse von Lehrpersonen oder Teams. Auf der anderen Seite setzt jegliche Art von Kompetenzraster-Bildung dem Feld Grenzen. Bedauerlich ist an dieser Stelle die geringe Nachvollziehbarkeit der Entwicklung der Kompetenzfelder, auf die bereits hingewiesen wurde. Somit ist das Innovationspotenzial des Buches zweischneidig.

Als Praxisbuch fĂŒr interessierte LehrkrĂ€fte, die ein Manual zur Hand nehmen wollen, um das eigene Kompetenzprofil bezĂŒglich ihrer StĂ€rken, SchwĂ€chen und Weiterbildungsbedarfe im Umgang mit heterogenen Lerngruppen einschĂ€tzen zu können, ist das Buch zu empfehlen – und zwar fĂŒr den gesamten deutschen Sprachraum, auch wenn die Schweizer Perspektive der Autor/innen zu erkennen ist. Als Handreichung fĂŒr Schulleitungen zur Analyse der Kompetenzen des Lehrerteams kann es hilfreich sein, um Bedarfe fĂŒr Weiterentwicklungen zu eruieren.

Der Gewinn fĂŒr die Lehrerausbildung lĂ€sst sich aber allenfalls in AnsĂ€tzen ableiten. Das Buch kann Anregungen geben fĂŒr Seminarinhalte oder, wie die Autor/innen vorschlagen, fĂŒr die Entwicklung eigener Normen und Kriterien bei Hospitationsgruppen. Hier ist jedoch Vorsicht geboten.

Da es sich hier um keine evidenzbasierte Studie handelt, scheint der Gebrauch als ‚Kriterien geleiteter Katalog‘ oder ‚Messinstrument fĂŒr QualitĂ€tsentwicklung‘ nicht vorgesehen. Diesen Anspruch erheben die Autoren auch nicht, aber aufgrund der im Mittelpunkt stehenden Kompetenzfelder und -raster könnte das Buch diese Wirkung erzielen. Buholzer et al. geht es aber vielmehr darum, Anregungen fĂŒr verschiedene Bereiche zu geben. Das gelingt ihnen vordergrĂŒndig fĂŒr die Praxis.

[1] Feuser, G.: Behinderte Kinder und Jugendliche – zwischen Integration und
Aussonderung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995.
Katja Scheidt (Bremen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Katja Scheidt: Rezension von: Alois, Buholzer, / Klaus, Joller-Graf / Annemarie, Kummer Wyss, / Bruno, Zobrist, (Hg.): Kompetenzprofil zum Umgang mit heterogenen Lerngruppen. Wien, ZĂŒrich, Berlin, MĂŒnster: LIT Verlag . In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978364380084.html