Das österreichische Schulsystem ist dadurch gekennzeichnet, dass nach der vierjährigen gemeinsamen Grundschule die Weichen für unterschiedliche Schullaufbahnen gestellt werden, die die Lebenswege und die beruflichen Laufbahnen Jugendlicher beeinflussen. Die Sekundarstufe I gliedert sich in die Hauptschule und die Unterstufe der Allgemeinbildenden höheren Schule (kurz: AHS; Gymnasien). Seit den 1970er Jahren gibt es die Diskussion über die organisatorische und inhaltliche Ausrichtung der Schule der 10-14-Jährigen. Österreich behielt nach einer Phase der Schulversuche das separierende System aber auch nach 1980 bei, obwohl die Evaluationsergebnisse aus den Schulversuchen für eine gemeinsame Schule sprachen. Die gegenwärtige Bildungsforschung in Österreich fühlt sich zunehmend dem Paradigma einer „evidenzbasierten“ Forschung verpflichtet und versucht dazu beizutragen, die Stärken und Schwächen des Schulsystems zu diagnostizieren und damit eine Informationsbasis für sinnvolle Weiterentwicklungen zu schaffen.
In diesem Band werden die Ergebnisse von Bildungsforscher/innen berichtet, die sich auf die Hauptformen der Sekundarstufe I (Hauptschule und Unterstufe der AHS) beziehen und Fragestellungen aus den Reihen der Bildungspolitik, der Schüler/innen, der Lehrer/innen, der Eltern, der Interessenvertretungen etc. berücksichtigen. Die Situation der Sekundarstufe I und das Verhältnis der beiden Schulformen zueinander werden dokumentiert und analysiert. Dadurch soll Wissen für bildungspolitische Entscheidungen bereitgestellt werden.
Dieser Band enthält sechs „evidenzbasierte“ Analysen zu den Themenbereichen Leistungsvergleiche, attraktive und entwicklungsfördernde Lernumwelten, Vergleiche der Unterrichtsqualität und der Rahmenbedingungen, Funktion und Wirkung äußerer Differenzierung, Bildungs- und Berufslaufbahnen, Wahlgründe, Zufriedenheit und Einstellungen der Eltern – jeweils bezogen auf die Hauptschule und die Unterstufe der Allgemeinbildenden höheren Schule. Dem schließen sich drei Synopsen zu den Themenbereichen differenzielle Entwicklungsmilieus, Leistungen der beiden Schulformen im Hinblick auf die Reformziele der österreichischen Schule und zukünftige Anforderungen an die Schule an.
Im Gesamtresümee zur Sekundarstufe I (Vergleich Hauptschule und gymnasiale Unterstufe) wird konstatiert, dass die Fragen zur Qualität des Unterrichts aufgrund der nicht zufrieden stellenden Datenlage nur ansatzweise beantwortet werden können. Die Hauptschule weist im Hinblick auf die Erreichung allgemeiner Ziele des Bildungswesens, etwa Leistungsförderung, Chancengleichheit, Integration und Gerechtigkeit zwar ein höheres Potenzial zur Integration auf, vermag in der bestehenden Form die Erwartungen nach Leistungsförderung, Chancenausgleich und Gerechtigkeit nur unzureichend oder überhaupt nicht zu erfüllen (330). Demgegenüber wird der Unterstufe der AHS (Gymnasien) ein großes Potenzial zur Hervorbringung eines hohen Leistungsniveaus zugeschrieben. Ihr Potenzial auf Integration und Inklusion erscheint jedoch gering.
Die Vergleiche der Schulmodelle sind vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Unterschiede zwischen einzelnen Klassen (in einer Schule) oder einzelnen Schulen wesentlich größer sind als jene zwischen den einzelnen Modellen. Damit werden die Schulmodelle zu differentiellen Entwicklungsmilieus, die für die Schüler/innen unterschiedliche Chancen und Risiken haben können, deren Realisierung jedoch von der konkreten Situation am Standort abhängt. Hinsichtlich der Lernumgebungen erscheint die Diskrepanz zwischen Soll- und Ist-Zustand erheblich größer als die Unterschiede zwischen den Schulformen. Insofern weisen beide Schulformen generell große Defizite auf, wenn man ihre Praxis des schulischen Lernens mit den Anforderungen an ein wirksames und zukunftsfähiges Schulsystem konfrontiert. Das legt den Schluss nahe, dass die Sekundarstufe I sich dahingehend entwickeln müsse, dass das Lernen in den Schulen systematisch verändert werden muss, damit die Lernenden nachhaltige Ergebnisse erreichen können.
Das Herausgeberteam macht Vorschläge hinsichtlich schulischer Rahmenstrukturen und meint, dass die Verzahnung dieser Strukturen mit einer neuen Kultur des Lernens die Lernenden in einen nachhaltigen und zukunftsfähigen Lernprozess involvieren muss. Die Daten schreiben freilich nicht vor, welche Konsequenzen aus ihnen zu ziehen sind. Sie erfordern zunächst eine sorgfältige Wahrnehmung, Interpretation und Bewertung. Die Herausgeberin und der Herausgeber sind der Ansicht, dass das vorliegende Buch hinsichtlich der Sekundarstufe in Österreich einen Beitrag dazu leisten kann. Lesenswert ist das Buch für Personen, die sich im deutschsprachigen Raum mit der Sekundarstufe I (Aus-, Fortbildung, Bildungsbeauftragte, etc.) beschäftigen. Es enthält Diskussionsanregungen zu den Lernumgebungen in der Sekundarstufe I, bei denen es noch Verbesserungsmöglichkeiten gibt.
EWR 10 (2011), Nr. 3 (Mai/Juni)
Schule auf dem Prüfstand
Hauptschule und gymnasiale Unterstufe im Spiegel der Forschung
Münster u.a.: LIT 2010
(331 S.; ISBN 978-3-6435-0250-6; 39,90 EUR)
Erika Rottensteiner (Graz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Erika Rottensteiner: Rezension von: Eder, Ferdinand / Hörl, Gabriele (Hg.): Schule auf dem Prüfstand, Hauptschule und gymnasiale Unterstufe im Spiegel der Forschung. Münster u.a.: LIT 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978364350250.html
Erika Rottensteiner: Rezension von: Eder, Ferdinand / Hörl, Gabriele (Hg.): Schule auf dem Prüfstand, Hauptschule und gymnasiale Unterstufe im Spiegel der Forschung. Münster u.a.: LIT 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978364350250.html