
Der Band gliedert sich in drei thematische Abschnitte, was eine grobe Sortierung ermöglicht. Den ersten Abschnitt âBildungsreformdebatten und fachliche Diskurseâ eröffnet der Beitrag âBildung, Geschichte und Nationâ von Julia Kurig. Ausgehend von der âTheseâ, âdass die Schwelle zwischen spĂ€tem Mittelalter und frĂŒher Neuzeit eine fĂŒr die Entwicklung neuzeitlicher pĂ€dagogischer Argumentationsmuster in Deutschland bedeutsame Periode warâ (37) arbeitet Kurig heraus, wie sich um 1500 im Anschluss an den italienischen Humanismus ein deutscher Humanismus formiert, der das Historische als argumentatives Muster aufgreift, um durch âneue âruhmvolleâ historische Narrative und Konstruktionenâ (47) zur Nationenbildung beizutragen. Sabrina Sattler schlieĂt mit âHistorische Legitimationsstrategien der mehrsprachigen Bildungsplanung des Luxemburger Schulwesens seit dem 19. Jahrhundertâ an und untersucht, wie das Historische schon wĂ€hrend der Nationenbildung âals sprachplanerische[r] Legimitationsbezugâ (57) herangezogen wurde. In Luxemburg stehen bis heute verschiedene Sprachen in Konkurrenz zueinander, wobei Luxemburgisch als ââSprungbrettspracheââ (S. 70) vom Deutschen hin zum Erwerb des Französischen gilt; eine Annahme, die selbst als historisches Narrativ zu verstehen ist. Es folgt der Beitrag zu âGeschichtsbezĂŒgen in westdeutschen Bildungsreformdebatten der 1960er und 70er Jahreâ der Herausgeber:innen Gather, Grube und Schwerdt. Anhand von drei Bildungsreformdebatten zeichnen die Autor:innen unterschiedliche argumentative Verwendungen des Historischen nach: âGeschichte als Unausweichlichkeit und Auftrag zur Ăberwindung von Vergangenheitâ (79), âGeschichte als Handlungsimperativâ (86) und das âHistorische als Struktur des âAllgemein-Bedeutsamenââ (93). Deutlich wird hier, wie das Historische insbesondere implizit Bedeutung erlangt und eher im Sinne einer âgeteilte[n] VerstĂ€ndnisbasisâ (99) agiert. Im den Themenblock abschlieĂenden vierten Beitrag fragt Sebastian GrĂ€ber nach dem âGeschichtsbegriff und seiner argumentativen Funktion bei Herwig Blankertzâ. GrĂ€ber arbeitet ein Changieren von Blankertzâ Geschichtsbegriff âzwischen Geisteswissenschaftlicher PĂ€dagogik und Kritischer Theorieâ mit der Absicht, diese âzu harmonisierenâ (109), heraus. Eine Analyse von Blankertzâ Lehrunterlagen und Briefen offenbart drei Phasen seines Umgangs mit Geschichte: Auf die Ăbernahme des historisch-systematischen Ansatzes der geisteswissenschaftlichen PĂ€dagogik folgt eine die Kritische Theorie affirmierende Gegenposition, was schlieĂlich im Versuch ihrer Synthese mĂŒndet.
Den Abschnitt âBildungspolitische Ambitionen in sozialen Bewegungenâ eröffnet der Beitrag von Elija Horn zur âdoppelten Historisierungâ (134) der IndienbezĂŒge in Jugendkulturen des 20. Jahrhunderts: Zum einen finden sich, wie bei Paul Natorp und im Wandervogel, um 1918 zahlreiche BezĂŒge auf ein vergangenes Indien als Wiege der Menschheit im Allgemeinen und des Deutschen im Besonderen, die letzten Endes auf eine âdoppelte Aufwertung Deutschlandsâ hinausliefen: âeinmal durch die vermeintlich geistig-stammesgeschichtliche Verwandtschaft mit dem âaltenâ Indien und durch die gegenĂŒber dem nun zurĂŒckgebliebenen Indien erlangte Ăberlegenheitâ (141). Zum anderen arbeitet Horn am Beispiel der religiösen 68er-Bewegung der Neo-Sannyasins deren Praxis einer âSelbst-Orientalisierungâ (143) heraus, in der Indien wiederum als verlorenes Paradies imaginiert wird. Die jeweiligen Indienbilder fungieren je als pĂ€dagogischer Impuls, an dem sich die Erziehung der âneuen Menschenâ (148) ausrichten soll. Andrea De Vincenti und Andreas Hoffmann-Ocon analysieren anschlieĂend âBezugnahmen auf Vergangenes in Debatten um Schule und Kindergarten in der ZĂŒrcher Lehrer:innenbildung der 1960er und 70er Jahreâ. U.a. am Beispiel der Methodiklehrerin Barbara Haug zeigen sie, wie âdas Kindâ eine vergangene Idealwelt verkörpert, die der âals dekadent gezeichneten Gegenwartâ (157) in Reformabsicht entgegengesetzt wird. Dem zugrunde liegt das historische Argument, âĂŒber eine Bewahrung des ursprĂŒnglichen Selbst oder dann ĂŒber eine VerĂ€nderung des eigenen Selbst könne auch die Bezugsgruppe oder gar die Gesellschaft verĂ€ndert werdenâ (168).
Den letzten Block zu âErinnerungs- und geschichtspolitischen Diskursenâ eröffnet der Beitrag von Habbo Knoch, der Adornos Postulat der âAufarbeitung der Vergangenheitâ als âunvollendetes Projektâ beschreibt. Adornos Forderung nach einer Aufarbeitung der Shoa habe sich von einer normativen Zukunftserwartung zur Retrospektion einer vermeintlichen Erfolgsgeschichte gewandelt. Anstatt jedoch die HerrschaftsverhĂ€ltnisse abzuschaffen, die die Shoa ermöglichten, habe die Narration der Aufarbeitung die lĂ€ngste Zeit im âParadigma der opferbezogenen Erinnerungâ (186) gestanden und sei mittlerweile versöhnlich in das Selbstbild der deutschen Gesellschaft als âerfolgreiche[r] Fluchtpunktâ (191) einer positiven SelbsterzĂ€hlung integriert. Den Abschluss bildet Johannes Richters Beitrag zu Verschickungskindern in Kurheimen um Hamburg zwischen 1945 und 1980. Richter fragt nach den Motiven âaktuelle[r] Aufarbeitungsdiskurseâ und danach, weshalb diese âzur Historisierung neigenâ (199). Die Debatte um Kindesmissbrauch in den zur Rehabilitation eingerichteten Heimen berge interessanterweise keinen AktualitĂ€tsbezug, sofern ihre Politisierung nicht mit der Forderung nach einer Reform pĂ€dagogischer Praxis verbunden wird. Richter plĂ€diert abschlieĂend dafĂŒr, dieses Fehlen eines Gegenwartsbezugs als einen besonderen âModus des Gebrauchs von Geschichteâ (213) zu diskutieren.
Der Sammelband bietet einen guten Einstieg in die Thematik des Historischen als Argument und regt zur kritischen Reflexion von impliziten wie expliziten historischen Argumentationsmustern an. Angesichts der Verflochtenheit von Erziehung, Bildung und Geschichte wĂ€re in der Gesamtschau des Bandes sicherlich eine stĂ€rkere Systematisierung der BeitrĂ€ge hinsichtlich des Erkenntnisgewinns des Historischen als Argument wĂŒnschenswert gewesen. Diese wird insbesondere durch die zeitlichen und geografischen SprĂŒnge zwischen den BeitrĂ€gen erschwert. Doch auch wenn angesichts dieser HeterogenitĂ€t nicht alle Leser:innen sĂ€mtlichen BeitrĂ€gen mit demselben Interesse begegnen werden, liegt in diesem breiten Spektrum gleichsam eine StĂ€rke des Bandes, da die jeweiligen historischen Argumentationsfiguren in sĂ€mtlichen Texten so interessant wie lesbar herausgearbeitet werden. Dadurch kann der Band einem breiten bildungsgeschichtlich interessierten Publikum zur LektĂŒre empfohlen werden.
[1] Kluchert, Gerhard (2018). Bildungsreform und Bildungsgeschichte. Ăberlegungen zu einer schwierigen Beziehung. In Wilfried Göttlicher, Jörg W. Link & Eva Matthes (Hg.), Bildungsreform als Thema der Bildungsgeschichte. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt, S. 15â34, hier: S. 16.