In der Einleitung des Jahrbuchs für Pädagogik erinnern die Redakteur:innen an den Anspruch des Anfang der 1990er Jahre gegründeten Periodikums: Den Jahrbuch-Herausgeber:innen gehe es zum einen darum, gesellschaftliche Entwicklungen und Problemlagen, die das Verständnis und die Bedingungen von Erziehung und Bildung beeinflussen, im Sinne einer kontroversen Zeitdiagnostik aufzugreifen. Zum anderen ziele das Jahrbuch darauf ab, kritisch zu diskutieren „wie diesen Bedingungen pädagogisch begegnet werden“ (9) könne.
Das interdisziplinär angelegte Jahrbuch 2018 verfolgt ebendiesen Anspruch mit (pädagogischen) Analysen und Kritiken zum Begriff und der Idee von Political Correctness. Bünger und Czejkowska verstehen Political Correctness dabei als einen „zur Chiffre verkürzten Ausdruck einer Gesellschaftsdiagnose“ (13), im dem problematische Implikationen über das Pädagogische enthalten sind. Ihre Einleitung bietet einen guten Einstieg in die Problem- und Diskursfelder der Thematik. Die Redakteur:innen schlagen ein analytisches (statt pejoratives) Verständnis des Begriffs Political Correctness vor und zielen darauf ab, pädagogische Verhältnisse im Zusammenhang einer unabgeschlossenen Demokratisierung von Demokratie sowie Kultivierung von Dissens zu begreifen (ebd.).
Der inhaltliche Schwerpunkt ist in drei Teile gegliedert, denen je vier bis sechs Beiträge zugeordnet sind. Er wird durch ein historisches Stichwort, einen Jahresrückblick und Rezensionen zu den Themenkomplexen Ideologiekritik, Radikalisierung und (antikapitalistische) Alternativen sinnvoll ergänzt, die jedoch nicht Gegenstand dieser Rezension sind.
Den ersten Teil „Political Correctness – Begriffliche Erkundungen zwischen Politik und Moral“ eröffnet Robert Feustel mit dem lesenswerten Text „Viel heiße Luft: Political Correctness und ihre Kritiker“. Der Politikwissenschaftler geht von der These aus, dass die Kritiker:innen von Political Correctness sich eine sprachliche Ungenauigkeit des Begriffs zu Nutzen machen: Während mit dem Konzept ethisch-politische Interventionen im Sinne von Antidiskriminierung gemeint seien, suggeriere der Begriff der Korrektheit eine Dichotomie von richtig und falsch, die von Kritiker:innen zu erlaubt und verboten weitergedreht werde. Es gelingt Feustel in erhellender Weise, Problematiken rund um die Wortbedeutung und den Einsatz von Political Correctness herauszuarbeiten, ohne linken Verkürzungen des Konzepts die Verantwortung für die rechte Kritik an der aktuellen PC-Diskussion zuzuschieben.
Marc Fabian Erdls Beitrag „Zu wenig, zu spät und am Ziel vorbei“ analysiert mehrere gescheiterte Versuche deutscher Linker in den 1990er Jahren, Political Correctness als linkes Projekt zu retten. Erdl rekonstruiert die Bemühungen der Musikzeitschrift Spex sowie eines Kongresses um die Zeitschrift konkret, die darauf abzielten, einen affirmativen Bezug auf Political Correctness zu etablieren. Beide Versuche konnten, so Erdl, aufgrund diskursimmanenter Probleme keine Wirkkraft entfalten. Die Linke hätte es also bisher versäumt, den Mythos Political Correctness zu versittlichen.
Heidrun Kämper argumentiert in ihrem Beitrag zu „Sprachlicher Gewalt und Political Correctness“, „[w]arum es vernünftig ist, dass Sprachgebrauch ethischen Regeln folgt“, so der Titel. Die Philologin und Politologin sieht die Idee von Political Correctness in Aufklärungsethik und Menschenrechten begründet und plädiert – der Sache nach verständlich, aber in ihrer Argumentation bisweilen irritierend – für eine Selbstverpflichtung zur Einhaltung ethischer Regeln. Der erste Teil schließt mit Alfred Schäfers Beitrag zu „Kritik – Repräsentation – Schuld“. Der Erziehungswissenschaftler formuliert eine ausladende Kritik an – nicht näher spezifizierten – diskriminierungskritischen Diskursen, die das doppelte Repräsentationsproblem von Diskriminierungskritik durch Moralisierung in problematischer Weise aufzulösen suchen.
Den zweiten Teil des Jahrbuchs „Zugehörigkeit und Differenz – Identität als Bezugspunkt der Kritik“ leitet Mona Singer mit einem lesenswerten Beitrag zu Identitätspolitik und Political Correctness ein. Sie kritisiert den Begriff „linke Identitätspolitik“ und argumentiert für eine klare Unterscheidung zwischen einer „rechten Politik des Natürlichen“ und einer „Politik des Widerstands gegen das so Identifiziert-Werden“ (87), die sich als „Interessenspolitik“ (91) bezeichnet. Politische Korrektheit in der Sprache, so Singer, sei ein „demokratisches Schutzschild“, das darauf abziele, dass „eine Politik des Natürlichen – Rassismus und Antisemitismus, Sexismus und Homophobie – so nicht mehr öffentlich gesprochen werden kann.“ (98)
Florian Cristobal Klenk geht in „Kritik an Queer – Queere Kritik“ der spannenden Frage nach, warum Diffamierungen der Gender und Queer Studies nicht nur bei rechten Akteur:innen Konjunktur haben. Anhand des Sammelbandes „Beißreflexe“ und der Debatte um „Sprechverbote“ im Magazin EMMA analysiert er diskursive Strategien der Komplexitätsreduktion und Verzerrung im Sprechen über queer-feministische Positionen. Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive sieht er die Gründe für diese anti-pluralistischen Diskurse in gesellschaftlichen Prekarisierungsprozessen.
Athina Paraschou und Katja Andresen stellen in ihrem Beitrag „Political Correctness unter dem Aspekt der Anerkennung in der Migrationsgesellschaft“ eine „kritische Reflexion von Schulbüchern in der Primar- und Sekundarstufe“ vor. Sie erweitern den Blick von Sprache auf Bilder und analysieren konstruktive Ansätze sowie Limitierungen einer Reflexion von Political Correctness anhand von Schulbüchern aus Ethik und Sachunterricht.
Wie Paraschou und Andresen wirft auch Anke Wischmann explizit pädagogische Fragen auf. Die Erziehungswissenschaftlerin reflektiert theoriebasiert über die Möglichkeiten „rassismuskritischer Lehre aus weißer Sicht“. Bezogen auf ihre eigenen Positionalität als weiße Lehrende stellt sie den Ansatz Race Traitor vor, den sie für pädagogische Kontexte als produktiv einschätzt. In Anerkennung der Widersprüche von Repräsentation und ‚Befreiungspädagogik‘ sieht sie die Möglichkeit universitärer Lehre nicht zuletzt im Gewahrwerden der Grenzen des eigenen Denkens.
Micha Brumlik geht in seinem Kommentar „Blinde Selbstkritik“ von Political Correctness als Imperativ aus, Menschen nicht abschätzig zu kategorisieren. Auf Basis mehrerer ‚Mini-Studien‘ über linke (Selbst-)Kritik, die „Gestalt des Rechtsintellektuellen“, die identitäre Bewegung und den „Auschwitz-Mythos“ schlussfolgert er, dass es die Würde des Menschen ist, die von den Kritikern Politischer Korrektheit angegriffen wird.
Kerstin Jergus widmet sich im letzten Beitrag des zweiten Teils dem „Verhältnis von Sprache und Gewalt zwischen Normalisierungsbegehren, Pädagogisierung und Kritik“. Bezugnehmend auf den Philologen Victor Klemper nehmen ihre sprachphilosophischen Analysen normierte Sprache und gewaltförmige Identifizierung in den Blick. In Anerkennung des Begehrens nach einer nichtverletzenden Sprache plädiert die Erziehungswissenschaftlerin dafür, auf die Ungerechtigkeiten in und durch Sprache aufmerksam zu machen und gleichzeitig der Illusion einer gewaltfreien, neutralen und unschuldigen Sprache zu entsagen (177).
Den dritten Teil des Bandes „Ambivalenzen und Perspektiven – Zur Analyse aktueller Entwicklungen“ leitet eine kritische Bestandsaufnahme von Christiane Thompson ein, die mit „Akademischer Redefreiheit und das Drama der PC“ überschrieben ist. Der Beitrag widmet sich der Kritik an Political Correctness als moralisierender Zensur und überzogener Sicherheitsorientierung. Am Beispiel einer Resolution des Deutschen Hochschulverbands 2017 arbeitet die Erziehungswissenschaftlerin anschaulich heraus, wie die Verkürzungen der Kritik diese zu einer „Ressentiment geladenen Kommentierungspraxis“ (92) verkommen lassen.
Jennifer Eickelmann widmet sich Online-Diskursen um Political Correctness anhand der pointierten Gegenüberstellung von Hassrede und Redefreiheit. Die Soziologin argumentiert, dass beide Diskurse an einem vermeintlich konsensualen Universalismus orientiert sind, der eine Entpolitisierung des Internet befördere, und schlägt als Perspektivenverschiebung die Begriffe Virtualität und Verletzbarkeit vor. Katharina Schell, Mitglied der Chefredaktion der Austria Presse Agentur, reflektiert in ihrem Beitrag „Was ich nicht hören will. Was du nicht schreiben darfst“ über die Entwertung und Umdeutung der „Killerphrasen“ Fake News und Political Correctness“, die eine differenzierte (mediale) Auseinandersetzung untergraben.
In ihrem Beitrag zur „(Ent-)Subjektivierung als ‚Klassensubjekt‘ angesichts ‚politisch inkorrekten‘ Sprechens“ konstatiert Sophie Phries Künstler einen Wandel im Sprechen über Erwerbslose und Empfänger:innen stattlicher Transferleistungen seit Anfang der 2000er Jahre. Sie analysiert ‚politisch inkorrektes‘ Sprechen als Ausdruck neoliberaler Regierungsstrategien der Unsicherheit und fragt nach den Effekten für politische Handlungsfähigkeit.
Der letzte Text von Marie Frühauf und Fabian Kessl ist einer jener Beiträge, die sich explizit auf pädagogische Fragestellungen beziehen. Unter dem Titel „Das verletzliche Subjekt als Anker politischer Korrektheit“ problematisieren die Autor:innen am Beispiel von (sozial)pädagogischen Programmen zu Diversitätssensibilität und Kinderschutz die Begründungsfiguren des verletzlichen Kindes und der potentiell gefährlichen Erwachsenen. Sie argumentieren, dass Moralisierung eine (selbst-)kritische Reflexion erschwere und die risikobehaftete Dimension pädagogischen Handelns potentiell verdränge.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Jahrbuch 2018 seinem Anspruch gerecht wird und spannende Analysen und Kritiken rund um die Chiffre Political Correctness versammelt, die für theoriegeübte Leser:innen erhellend sein können.
Für Einsteiger:innen sowie an Handlungsorientierung Interessierte eignet sich der Band eher nicht – das ist jedoch auch nicht sein Anspruch.
Der Band kann darüber hinaus als Beitrag zur einer differenzierten gesellschafts- und bildungswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit (rechten) Diffamierungen (diskriminierungs)kritischer Wissenschaft und Praxis gelesen werden.
Für Leser:innen, die mit Diskursen im Kontext der Intersektionalitätsforschung oder Migrationspädagogik vertraut sind, mag irritieren, dass manche Beiträge von diesen wenig informiert wirken – etwa wenn sich Brumlik fragt, ob der Begriff Rassismus für die Abwertung sexueller Minderheiten angemessen sei – und zudem in einem scheinbar unbeteiligten Stil geschrieben sind.
In der Zusammenschau der Beiträge lassen sich einige als wichtig einzuschätzende Argumentationen ausmachen, die wiederholt auftauchen: Einer Kritik unterzogen werden unter anderem moralisierende und entpolitisierende Diskursmuster, die Schließung des Konzepts im Sinne eines ‚richtig-oder-falsch‘ sowie insbesondere die (bewusst) verzerrende Bezugnahme auf PC, die vermeintliche Kritik zur Diffamierung verkommen lässt. Die Autor:innen beziehen sich durchwegs positiv auf die Anliegen, die sie dem Konzept Political Correctness zuschreiben; Perspektiven oder Strategien, wie der Begriff als emphatischer Bezugspunkt für die aktuellen Fragen zu retten ist, finden sich jedoch nicht. Die angesprochenen Herausforderungen um diskriminierungskritische Sprache, Angriffe rechter Akteur:innen sowie eine gerechtigkeitsorientierte und demokratisierende politische und pädagogische Praxis sind jedenfalls hochaktuell.
Die expliziten Bezüge auf pädagogische Fragestellungen und Kontexte sind im Band nicht allzu zahlreich, die bildungswissenschaftliche und pädagogische Relevanz der Fragestellungen ist jedoch zweifelsohne gegeben. Für jene Leser:innen, die in Überlappungsbereichen von (Erziehungs-)Wissenschaft sowie pädagogischer und politischer Praxis tätig sind, mögen insbesondere jene Beiträge spannend sein, die ihre theoriefundierte Analyse und Kritik auf konkrete Diskurs-Beispiele beziehen, wie dies etwa bei Feustel, Erdl, Singer, Klenk, Wischmann und Thompson der Fall ist. Die Lektüre des Bandes kann das Begehren danach wecken, die Analysen und aufgeworfenen Fragen weiterzudenken – nicht zuletzt auch im Sinne von politischen Interventionsmöglichkeiten und pädagogischen Handlungsspielräumen.
EWR 20 (2021), Nr. 2 (März/April)
Political Correctness und pädagogische Kritik
Jahrbuch für Pädagogik 2018
Online frei zugänglich
Online frei zugänglich
Berlin: Peter Lang 2020
(307 S.; ISBN 978-3-631-81426-0; 36,00 EUR)
Marion Thuswald (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marion Thuswald: Rezension von: Bünger, Carsten / Czejkowska, Agnieszka (Red.): Political Correctness und pädagogische Kritik, Jahrbuch für Pädagogik 2018 Online frei zugänglich. Berlin: Peter Lang 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.04.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363181426.html
Marion Thuswald: Rezension von: Bünger, Carsten / Czejkowska, Agnieszka (Red.): Political Correctness und pädagogische Kritik, Jahrbuch für Pädagogik 2018 Online frei zugänglich. Berlin: Peter Lang 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.04.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363181426.html