EWR 19 (2020), Nr. 4 (September / Oktober)

Beatrix Vincze/ Katalin Kempf / AndrĂĄs NĂ©meth (Hrsg.)
Hidden Stories – the Life Reform Movements and Art
Erziehung in Wissenschaft und Praxis, Band 13, Herausgegeben von Johanna Hopfner und Claudia Stöckl
Berlin, Bern, Bruxelles u.a.: Peter Lang 2020
(372 S.; ISBN 978-3-631-81148-1; 69,95 EUR)
Hidden Stories – the Life Reform Movements and Art Die europĂ€ische Lebensreformbewegung um 1900 gilt in den historischen Wissenschaften als weithin gut erforscherter Gegenstand. Der Forschungsstand stellt einen erkennnisreichen Aufschluss ĂŒber die damaligen Reformbestrebungen, deren Insitutionen, Personen sowie deren ideengeschichtliche Verflechtungen bereit. Mit Blick auf die Gegenwart wurde und wird dabei oftmals betont, dass die nun schon weit ĂŒber einhundert Jahre alten Konzepte von einer Reformierung des Lebens in all seinen AusprĂ€gungen betrĂ€chtlich in die verschiedenen SphĂ€ren des öffentlichen, privaten und wissenschaftlichen Diskurses des 20. Jahrhunderts hineinspielten. Ob bspw. Vegetarismus, Naturfixierung, Esoterik oder die Vorstellungen von einem der urbanisierten, industrialisierten oder rationalisierten Umwelt gegenĂŒbergestellten „neuen“ oder „authentischen“ Menschen, auch in unserer Gegenwart haben diese historischen Ideen und Praktiken – wenngleich auch mit anderen und zeitgenössischeren Denkmustern amalgamiert – ĂŒberlebt.

In Folge der Ausstellung „Hidden Stories – the Life Reform Movements and Art“ in der Kunsthalle Budapest im Jahr 2018 wurde zu den historischen VerĂ€stelungen der Lebensreformbewegungen und deren Zusammenspiel mit dem Nachdenken ĂŒber die Kunst und die PĂ€dagogik eine international ausgerichtete Konferenz veranstaltet. Deren BeitrĂ€ge sind nun in einem gleichnamigen Sammelband dokumentiert. Die Konferenz wie der Sammelband verstehen sich als interdisziplinĂ€res Projekt; die beitragenden Pesonen stammen hier aus den Fachbereichen der Kunstgeschichte, der Psychologie und der historischen, vergleichenden und allgemeinen Erziehungswissenschaft. Der Fokus liegt zwar auf der historischen Reformbewegung in Europa, eingegrenzt wird diese recht weitgefasste örtliche Konstellation jedoch auf die Verbindungen zwischen dem deutschsprachigen und ungarischen (auch tschechischen) Kulturraum. Zeitlich visieren die BeitrĂ€ge Personen, Institutionen und Reformideen an, die vor allem ab dem Ende des 19. bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts wirksam waren. Die These oder vielmehr der Anspruch des aus der Ausstellung und der Konferenz entstandenen Bandes ist es, die im Titel enthaltene Behauptung von den verborgenen Geschichten bezĂŒglich der Lebensreform und deren Verbindung zu den KĂŒnsten plausibel zu machen.

Um es gleich vorwegzunehmen: Dies gelingt dem Sammelband insgesamt nur teilweise. Bekannt dĂŒrfte bspw. sein, dass mit der KĂŒnstlerkolonie Monte VeritĂ  in der Schweiz, der Gartenstadt Hellerau in Dresden oder auch mit personellen Referenzen auf Jean-Jacques Rousseau, Friedrich Nietzsche, Rodolf von Laban, Mary Wigman oder Rudolf Steiner u.v.w.m. verschiedene Kontexte abgesteckt sind, die keineswegs unerwartete oder gar verborgene Geschichten erzĂ€hlen. Die Kritik an der Urbanisierung, Industrialisierung, Rationalisierung (und den spĂ€teren Kriegserfahrungen) der damaligen Zeit, das oftmals propagierte ZurĂŒck zur Natur! oder die Schaffung eines ausgeglichenen neuen und ganzen Menschen sowie das Abdriften bestimmter Konzepte in völkisch-antisemitische, nationalistische oder anarchistische AusprĂ€gungen dĂŒrften ebenso das Maß des Bekannten nicht ĂŒbersteigen. Viele BeitrĂ€ge, die eher einen zusammentragenden Charakter besitzen (etwa die AufsĂ€tze von Ehrenhard Skiera, Nicoletta Mongini, Agnes Trattner, Christine Mayer oder BĂ©la PukĂĄnszky), lesen sich daher tendenziell als ĂŒberblickshafte Darstellungen bereits vorhandener Forschungsliteratur etwa zu den Themen Gemeinschaft, Tanz, Monte VeritĂ  oder zur Jugendbewegung.

Jedoch hĂ€lt der Sammelband tatsĂ€chlich zahlreiche Geschichten bereit, die die bisherigen Forschungen zu dem Gegenstand gewinnbringend erweitern. Allerdings, und das betrifft auch die vorher erwĂ€hnte Gruppe der BeitrĂ€ge, lĂ€sst sich methodisch wie stilistisch hier kaum eine einheitliche Herangehensweise feststellen. Mal eher essayistisch, mal affirmativ oder prosaisch, mal nĂŒchtern oder systematisch, hierin unterscheiden sich alle AufsĂ€tze deutlich voneinander. Einzig die thematische Gliederung des Sammelbandes vermag es, das zusammengestellte Material plausibel zu sortieren. Entlang der Gliederung ist es möglich, beispielhaft einzelne BeitrĂ€ge hervorzuheben, die dem Anspruch des Sammelbandes entgegenkommen.

In dem ersten Teil Life Reform in Central Europe – International Contexts stechen hauptsĂ€chlich die AufsĂ€tze von AndrĂĄs NĂ©meth und Ágnes Boreczky hervor. WĂ€hrend NĂ©meth in seiner kenntnis- wie materialreichen Studie nachzeichnet, wie in Ungarn die Lebensreform in Verbindung mit der Kunst in den verschiedensten Bereichen (etwa Jugend-, Tanz- und religiösen/spirituellen Bewegungen) gerade nach 1918/19 zunehemend auf nationalistische wie rassistische Aspekte zielte (vgl. 45), ermittelt Boreczky anhand soziologischer Kategorien das Spezifische der ungarischen modernen Tanz-Szene: Das kulturelle Geschlecht der Frau, welches aus der bĂŒrgerlichen oberen bzw. Mittelschicht stammte und zum Teil auf eine assimilierte jĂŒdische Vergangheit und Gegenwart blickte, bildete den Anfang jener Bewegung in Ungarn und entwickelte fĂŒr sich spĂ€ter eher eine pĂ€dagogische, denn eine kĂŒnstlerische Karriere (vgl. 112).

Im zweiten Teil zu Life Reform, Art and Education arbeitet TomĂĄĆĄ Kasper ideengeschichtliche Verbindungslinien zwischen den von Eduard Ć torch (1878–1956) angestellten Reflexionen zur PĂ€dagogik (und deren zeitweiser Umsetzung) und zu den Kreisen innerhalb der sog. tschechoslowakischen Eubiotischen Gesellschaft heraus; es handelt sich dabei um eine Art von an Darwin geschulter Bewegung (hier bspw. Břetislav Foustka), die auf Heilung, Hygiene und Harmonie setzte, um eine bestimmte Form des humanistischen Sozialismus zu kreieren (vgl. 163 und 173). JĂșlia TĂ©szabĂł zeichnet wiederum in ihrem Aufsatz luzide nach, dass in Europa schon lange vor dem Bauhaus ĂŒber die Gestaltung von (modernen) Kinderzimmern nachgedacht wurde; hier betont sie das Ineinandergreifen verschiedener und gerade internationaler ReformbemĂŒhungen um 1900 ff.
Im dritten (Esotericism, Eastern Religions and Life Reform), vierten (Literature, The Art of Movement and Life Reform) und fĂŒnften (Artist Colonies, Garden Cities and Communa Movement) Teil des Bandes heben Melinda FöldinĂ© Irtl und Lajos KomĂĄr kaum erzĂ€hlte Verweise zwischen der Theosophischen Gesellschaft, dem Hinduismus und Buddhismus sowie zu dem ungarischen lebensreformerischen Personal der damaligen KĂŒnstlerkreise hervor; ein Unterfangen, welches angesichts und trotz des detailreichen Materials noch weitere verborgene ZusammenhĂ€nge aufdecken könnte (vgl. 245). Der Aufsatz von RenĂĄta Földesi im vierten Teil arbeitet am Beispiel des Arztes und PĂ€dagogen AndrĂĄs Pető (1893–1967) heraus, dass Konzepte wie die von ihm mitgegrĂŒndete Konduktive Förderung nicht ohne den Einfluss der europĂ€ischen Reformbewegung denkbar gewesen wĂ€ren (vgl. S. 278). Und schließlich stellt im fĂŒnften und letzten Teil des Bandes Beatrix Vincze in ihrem Beitrag zum ungarischen Schriftstellers LĂĄszlĂł NĂ©meth (1901–1975) besonders gut dar, wie verschiedene Ideen zusammen gedacht wurden, die als utopische Alternative zum Kapitalismus und Kommunismus eine Form des gemeinschaftlichen Lebens in Form von GartenstĂ€dten und darĂŒber hinaus anzusehen wĂ€ren (vgl. 360 f.). Freilich erinnert auch hier der Gestus an so manche Idee um die Jahrhundertwende (bspw. die Gartenstadtkonzeption Ebenezer Howards), doch Vincze stellt in ihrem Kulturvergleich an der Person NĂ©meths resĂŒmierend fest: „Compared to the German-speaking reagions, utopias were more characteristic of Hungary. In Austria, Germany and Switzerland, the life reformers implemented more practical solutions. The novelty of his NĂ©meths; C. B. solution lied in the fact that he had a firm belief in humanistic values, and by mediating them, he believed the nation could be saved without violence, i.e. without revolution.” (vgl. 360.)

Man mag darĂŒber streiten, ob dieser These zuzustimmen ist oder ob die utopischen Vorstellungen so vieler ProtagonistInnen der Reformbewegung in pĂ€dagogischer und kĂŒnstlerischer Hinsicht tatsĂ€chlich solche klaren nationalen Differenzen aufweisen. Der Vorzug des Sammelbandes liegt nun auch darin, solche Diskussionen zuallererst zu ermöglichen und mit neuen Befunden auszustatten. Die verborgenen Geschichten, von denen der Sammelband trotz seiner in ihm enthaltenen redundanten wie bekannten ErzĂ€hlungen zu berichten weiß, tragen dazu sicherlich einen Teil bei, sie können zumindest Dialoge und aufeinander aufbauende Forschungen begĂŒnstigen. Und die zuletzt doch noch einmal aufgeworfene Frage danach, worin nun der Nutzen weiterer (und verborgener) ErzĂ€hlungen zur Lebensreformbewegung besteht, kann mithilfe des Bandes ebenso beantwortet werden. Einerseits beschreibt er deren verschiedene AusprĂ€gungen als teilweise esoterische, spiritualistische, nationalistische wie völkisch-antisemitische Bewegungen des sich in der Krise befindenden BĂŒrgertums am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts. Man kann daraus lernen, dass so manche ihrer neueren Ausformungen von heute die Tendenz oder eine klare Ausrichtung beinhalten könnten, weltabgewandte, unpolitische, verblendete oder gar rechts-nationale Lebensrezepte zu verbreiten und zu begĂŒnstigen. Andererseits verweist gerade der utopische Gehalt derjenigen Konzepte, die nicht diesem Spektrum zuzurechnen sind, darauf, wie heute noch mit der Geschichte umzugehen wĂ€re. In einem Beitrag des Bandes, der an den Anfang des zweiten Teils zu Life Reform, Art and Education platziert wurde und auch als Anfangs- oder Schlussbeitrag des gesamten Bandes hĂ€tte dienen können, findet sich dazu eine treffende Reflexion bzgl. des VerhĂ€ltnisses von Erziehung und Utopie. Johanna Hopfner, als einzige Person im Band mit einem dezidiert allgemein-erziehungswissenschaftlichen Aufsatz vertreten, schreibt dazu am Ende ihres Beitrags: „One would do well not to prematurely dismiss the utopias of a human education without `swimming attempts` alone with references to their practical impracticability.“ (129) Es ist wohl auch dieser Gedanke, mit dessen Verve eine bildungshistorische Forschung ihre Erkenntnisse aus den Hidden Stories ziehen könnte.
Clemens Bach (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Clemens Bach: Rezension von: Beatrix, Vincze, / Katalin, Kempf, / AndrĂĄs, NĂ©meth, (Hg.): Hidden Stories – the Life Reform Movements and Art. Berlin, Bern, Bruxelles u.a.: Peter Lang 2020. In: EWR 19 (2020), Nr. 4 (Veröffentlicht am 20.11.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363181148.html