Studien belegen, dass Schüler/-innen mit Migrationshintergrund im Durchschnitt weniger qualifizierte Schulabschlüsse erwerben als Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund. Hinzu kommt, dass viele von ihnen nicht nur Schwierigkeiten haben, eine höhere Schulart zu besuchen, sondern auch, sich dort zu halten. Dafür gibt es vielfältige Ursachen. „Im wissenschaftlichen Diskurs ist man sich jedoch weitgehend darüber einig, dass [beispielsweise; TvDS] zu geringe Kompetenzen in der deutschen Sprache eine entscheidende Erklärungsvariable sind […]“ (14). Nach Gerald Fischer sprechen diese Schüler/-innen häufig in ihrem Elternhaus eine andere Familiensprache und die deutsche Sprache wird als Zweitsprache erlernt. Dies kann sich negativ auf den Erwerb der im (deutschen) Bildungswesen relevanten Bildungssprache auswirken. Die Zweitspracherwerbsforschung konzentriert sich hauptsächlich auf den Elementar- sowie Primarbereich, wohingegen das Gymnasium bislang kaum in Studien berücksichtigt wird. Fischer nimmt sich dieser Leerstelle an. Ihm geht es um die Klärung der drei Fragen, inwieweit sich Multikulturalität und Mehrsprachigkeit der deutschen Migrationsgesellschaft auf das Gymnasium und seinen Schulalltag auswirken (Kapitel 2), inwiefern womögliche Besonderheiten des gymnasialen Unterrichts und dessen Unterrichtssprache zu einem geringen Bildungserfolg von Schüler/-innen mit Migrationshintergrund am Gymnasium beitragen (Kapitel 3) und schließlich, wie ein zukünftiges Sprachförderkonzept, mit dem Fokus auf die Verbesserung schriftsprachlicher Kompetenzen, an der gymnasialen Unterstufe aussehen könnte (Kapitel 4).
Nach einer Einleitung mit Angaben zu Aufbau und Zielsetzung beschäftigt sich Kapitel 2 vor allem mit der Bedeutsamkeit einer migrations- und schulspezifischen Deutschförderung für das Gymnasium. Fischer problematisiert den Begriff „Migrationshintergrund“, und er kritisiert, dass die amtlichen Schuldaten selbst nach jüngeren Neuerungen ungenau bleiben. So sei etwa davon auszugehen, dass der Indikator „Familiensprache“ weiterhin zu irreführenden Angaben führen kann, da dieser auf einer Selbsteinschätzung der Erziehungsberechtigten beruht. Viele Erziehungsberechtigte geben aus Angst vor möglichen Konsequenzen – so Fischer – an, zu Hause Deutsch zu sprechen, selbst wenn dies nur bedingt der Fall ist. Außerdem gelten die Schüler/-innen häufig in den Schulen als „deutschsprachig“, sobald mindestens eine Familiensprache Deutsch ist. Deutlich wird, dass Multikulturalität und Mehrsprachigkeit de facto für Gymnasien und deren Schulalltag von Relevanz sind und bisher allzu wenig institutionell und konzeptionell beachtet wurden.
Das dritte Kapitel ist den besonderen Bedingungen des Zweitspracherwerbs im Kontext des gymnasialen Unterrichts gewidmet. Die Annäherung erfolgt aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Einerseits aus der der Lernenden, welche die deutsche Sprache als Zweitsprache erwerben, andererseits aus der Perspektive der gymnasialen Unterrichtssprache und ihren spezifischen Anforderungen als Bildungssprache. Es werden „Befunde aus der Zweitspracherwerbsforschung, der Linguistik, der Lernpsychologie und [der; TvDS] Kommunikationstheorie sowie die offiziellen Anforderungen im Abitur“ (16) dargelegt. Fischer arbeitet heraus, welche sprachlichen Bereiche mehrsprachigen Schüler/-innen im Vergleich zu ihren einsprachigen Mitschüler/-innen besondere Schwierigkeiten bereiten können. Dabei analysiert er exemplarisch die bayerische Abiturprüfung aus dem Jahr 2011 in den Fächern Deutsch und Mathematik. Zudem wurde in einer empirischen Fallstudie in sieben verschiedenen Klassen der fünften Jahrgangsstufe (n = 152 Schüler/-innen) an einem Münchener Gymnasium ein Sprachtest (C-Test) durchgeführt. Zusätzlich wurden mit einem Elternfragebogen u.a. das Geburtsland und die Familiensprache abgefragt. Dadurch lässt sich nachweisen, dass Schüler/-innen mit nichtdeutscher Erstsprache signifikante Leistungsrückstände gegenüber ihren Mitschüler/-innen haben. Ein Vergleich der Aussagen zu den erwarteten Sprachkompetenzen in Lehrwerken aus der vierten und fünften Jahrgangsstufe der Fächer Deutsch, Mathematik, Heimat- und Sachunterricht sowie dem Fach Geographie zeigt, dass die Schüler/-innen bereits kurz nach dem Übergang von der Primarstufe in die gymnasiale Sekundarstufe mit deutlich mehr Elementen einer konzeptionell schriftlichen Sprache konfrontiert werden. Durch diese Untersuchung konnten ferner die Befunde aus früheren Studien, dass Schüler/-innen mit Migrationshintergrund häufiger in bildungsfernen und sozial benachteiligten Elternhäusern leben als ihre Mitschüler/-innen, bestätigt werden. Es lässt sich festhalten, dass sich die Schüler/-innen mit nichtdeutscher Herkunftssprache in einem Spannungsfeld zwischen Zweit- und Bildungssprache sowie dem Leistungsdruck befinden. Das Gymnasium steht – so Fischer – vor einem didaktisch-methodischem-Grunddilemma: Zum einen die Schüler/-innen mit Deutsch als Zweitsprache und den damit oftmals verbundenen geringen Sprachstand zu berücksichtigen und zum anderen das hohe gymnasiale sprachliche und fachliche Niveau zu vermitteln.
Aus einem Überblick über den aktuellen Forschungsstand und einer daran anknüpfenden Diskussion leitet Fischer in Kapitel 4 Leitlinien einer gymnasialen Zweitsprachenförderung ab, die als Orientierung dienen sollen. Anhand von qualitativen Experteninterviews an vier Münchner Gymnasien (aus einem fünften berichtet Fischer selbst) wurden konkrete Fördermaßnahmen rekonstruiert. Dazu wurden Deutschlehrkräfte befragt, die in zusätzlichen Sprachförderkursen eingesetzt oder für die Koordination bzw. Organisation der Deutschförderung verantwortlich waren. Im Mittelpunkt stehen Konzepte für Schüler/-innen der gymnasialen Unterstufe. Anschließend wird ein beispielhaftes Konzept zur Förderung von Schüler/-innen mit nichtdeutscher Erstsprache an Gymnasien entworfen. Folgt man Fischer, so ist beachtenswert, dass die Zweitsprachenförderung in ein übergeordnetes Deutschförderkonzept eingebunden ist, um die Bedürfnisse aller Schüler/-innen zu berücksichtigen. Der Autor betont mehrfach die Notwendigkeit der durchgängigen Sprachförderung für Schüler/-innen mit Deutsch als Zweitsprache, die v.a. in Bezug auf die fachspezifische Bildungssprache als durchgängige Sprachförderung, in allen Fächern, am Gymnasium von Bedeutung ist. Abschließend werden exemplarisch Umsetzungsmöglichkeiten aufgezeigt, deren Übertragbarkeit auf andere Schulen u.a. von vorhandenen Rahmenbedingungen abhängig sein wird. Die sich ergebenden Anforderungen an Lehrpersonen bringen eine deutliche Mehrarbeit mit sich.
Kapitel 5 fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen und bietet einen Ausblick sowie Vorschläge für die Weiterentwicklung des Gymnasiums als Schulform. Nach Fischer ist es eine wichtige Grundvoraussetzung, dass der „Anteil der Lehrkräfte mit einer Zusatzqualifikation in „Deutsch als Zweitsprache“ (386) erhöht wird.
Zusammengenommen zeigt die Dissertation anhand fundierter Daten und zusätzlicher praxisnaher Erkenntnisse aus fünf Münchener Gymnasien den Stellenwert der Deutschförderung von mehrsprachigen Schüler/-innen auf. Am Ende skizziert Fischer auf seinen Ergebnissen beruhend einen Leitfaden zur gymnasialen Zweitsprachenförderung. Durch die zahlreichen Abbildungen und Tabellen können sich Lesende nicht nur einen schnellen Überblick verschaffen, sondern eigenen Interessen folgend die vorliegende Publikation nutzen. Die beigefügte CD ermöglicht es zudem, einzelne Datenmaterialien separiert zu betrachten. Die Dissertation ergänzt somit bisherige Beiträge zur Theoriebildung der Zweitsprachenförderung an Gymnasien und trägt zu einer Schärfung des Problembewusstseins der Sprachförderung insbesondere für mehrsprachige Schüler/-innen bei.
EWR 15 (2016), Nr. 2 (März/April)
Das Gymnasium der Migrationsgesellschaft
Deutschförderung für mehrsprachige Schüler zwischen Zweit- und Bildungssprache
Reihe: Studien zur Pädagogik der Schule, Band 38
Reihe: Studien zur Pädagogik der Schule, Band 38
Frankfurt am Main: Peter Lang 2015
(457 S.; ISBN 978-3-631-66057-7; 74,95 EUR)
Tina von Dapper-Saalfels (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Tina von Dapper-Saalfels: Rezension von: Fischer, Gerald: Das Gymnasium der Migrationsgesellschaft, Deutschförderung fĂĽr mehrsprachige SchĂĽler zwischen Zweit- und Bildungssprache Reihe: Studien zur Pädagogik der Schule, Band 38. Frankfurt am Main: Peter Lang 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 2 (Veröffentlicht am 24.03.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363166057.html
Tina von Dapper-Saalfels: Rezension von: Fischer, Gerald: Das Gymnasium der Migrationsgesellschaft, Deutschförderung fĂĽr mehrsprachige SchĂĽler zwischen Zweit- und Bildungssprache Reihe: Studien zur Pädagogik der Schule, Band 38. Frankfurt am Main: Peter Lang 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 2 (Veröffentlicht am 24.03.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363166057.html