EWR 12 (2013), Nr. 4 (Juli/August)

Arbeitskreis „Repräsentationen“ (Hrsg.)
Die ‚andere‘ Familie
Repräsentationskritische Analysen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart
Frankfurt am Main: Peter Lang 2013
(497 S.; ISBN 978-3-631-64412-6; 78,95 EUR)
Die ‚andere‘ Familie Familiale Repräsentationen sind ein wichtiges Forschungsfeld, stellen sie doch Deutungs- und Orientierungs- sowie Abgrenzungsangebote bereit und wirken hierdurch auf die Gestaltung des Familienlebens ein. Der Sammelband befragt Darstellungen der Familie in Text und Bild im Hinblick darauf, welche Lesarten, Norm- und Grenzsetzungen oder Gebrauchsweisen sie eröffnen, auf welche Weise sie produziert werden und wie dadurch gesellschaftliche Gruppen in- bzw. exkludiert werden. Von besonderem Interesse ist hierbei, wie die andere, von den jeweiligen Idealen abweichende Familie konstruiert wird sowie das interdependente Geflecht von dominanten Normvorstellungen und Devianzzuschreibungen.

In den ersten drei Beiträgen von Stefani Kugler, Peter Bell/Dirk Suckow und Steffi Hobuß werden Fragestellung, Themenschwerpunkt sowie die theoretischen Grundlagen expliziert. Kugler bietet in ihrem einführenden Text einen Überblick über das Forschungsfeld Familie sowie die behandelten Inhalte und entfaltet das Fragenspektrum. Bell/Suckow arbeiten an bildlichen Darstellungen der Familie, die den einzelnen Kapiteln vorangestellt sind, die in- bzw. exkludierenden Momente heraus, die in den Repräsentationen angelegt sind. Die Bilddokumente sind für sie keine Abbildungen der Wirklichkeit, sondern dienen dazu „die Positionen der Mehrheitsgesellschaft zu armen und fremden Familien zu beeinflussen“ (47). Hobuß erörtert die für den Sammelband leitende Auffassung des Repräsentationsbegriffs: Im Anschluss an Wittgenstein, Foucault und Butler sind Repräsentationen für sie performativ hergestellte Konstruktionen. Sie enthalten zwar bestimmte Deutungsangebote, sind aber selbst streng genommen weder affirmativ noch subversiv; vielmehr sind es die jeweiligen Gebrauchsweisen (54). Hobuß unterscheidet drei Repräsentationsebenen: Stereotype und hegemoniale Konstruktionen, die Art der Darstellung und die Interpretationsarbeit der jeweiligen Aufsätze selbst, wobei sie letzteres mit einer kritischen Reflexion der jeweils eigenen Analysearbeit verknüpft (75f). Wie sich zeigt, beziehen sich die Beiträge überwiegend auf die ersten beiden Ebenen, wohingegen die dritte – wenn überhaupt – eher implizit behandelt wird.

Die anschließenden vier inhaltlichen Kapitel decken ein breites Spektrum an unterschiedlichen Quellen und Zeiträumen ab und konzentrieren sich jeweils auf bestimmte Devianzzuschreibungen. Das erste Kapitel „Zwischen Wildnis und Wohnwagenlager“ behandelt überwiegend Nichtsesshaftigkeit und ihre Verwendung als in- bzw. exkludierendes Moment. Zu Beginn identifizieren Bell/Suckow Wiederholungen und „retardierende Episoden von Devianz und Exklusion“ (90) als stilistische Mittel in J. Callots Zyklus „Les Bohémiens“ aus dem 17. Jahrhundert, um Stereotype über Sinti und Roma zu transportieren und zeitgenössische Vorstellungen zu stützen. Christina Gerstenmayer und Juliane Tatarinov zeigen an Bittbriefen aus dem 18. bis 20. Jahrhundert auf, wie Betroffene sich gegen Devianzzuschreibungen wehren, indem sie versuchen sich normenkonform zu präsentieren. Auch Andrea Grunert verdeutlicht anhand der filmischen Fremdrepräsentationen der Irish Traveller, dass vielfach Klischees reproduziert werden und hegemoniale Repräsentationsmuster fortbestehen, selbst in Filmen, die ein differenziertes Bild dieser Personengruppe zeichnen möchten. Über Stereotype werden „die eigenen gesellschaftlichen Krisenerfahrungen“ (168) bearbeitet.

Das zweite Kapitel behandelt „Wahnsinn, Trunksucht und Degeneration“. Karen Eifler analysiert Lichtbildaufführungen britischer Wohltätigkeitsorganisationen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, deren Zielpublikum arme Familien bildeten, und in denen u.a. Alkoholismus als Bedrohung der Familie thematisiert wird. Der Unterhaltungscharakter der Aufführungen, die Integration des Publikums, Bezüge zur Lebenswelt der angesprochenen Klientel, die Art der Inszenierung von Familie sowie die Botschaft, Probleme seien durch Unterstützung lösbar, seien wesentliche Mittel gewesen, um zu einer Orientierung am bürgerlichen Familienideal zu motivieren und es zugleich zu bestärken. Jens Gründler und Iulia-Karin Patrut können am Beispiel von Dokumenten von Medizinern und Armenverwaltern, die sich mit von Armut betroffenen psychisch Erkrankten befassen, sowie an Veröffentlichungen über Sinti und Roma im 19. Jahrhundert aufzeigen, dass der Familie ein zentraler Stellenwert bei der Verhandlung von Normalität und Devianz zukommt. Die Vorstellungen von Familie spielen für sie eine durchaus ambivalente Rolle, da sie je nach Setting in- oder exkludierend wirken können.

Das Kapitel „Von machtlosen Vätern und Eh(r)ekrisen“ konzentriert sich hauptsächlich auf familiale Rollen und Beziehungen. Die Beiträge von Stefani Kugler, Anna-Lena Sälzer und Katarina Lenczowski arbeiten an Materialien wie Film und Text heraus, wie trotz etwaiger entgegengesetzter Intentionen über den Einsatz stilistischer Mittel ein bürgerliches Familienideal bzw. stereotype Vorstellungen über Sinti und Roma transportiert werden. Die Aufsätze von Clelia Caruso und Paula Giersch befassen sich jeweils mit der Konfrontation von traditionellen und modernisierten Elementen familialer Ideale. In Carusos Quellenmaterial dient die Inszenierung intergenerationaler Konflikte dazu, das Nebeneinander unterschiedlicher Normorientierungen zu thematisieren. Giersch führt aus, wie der Autor der Novellensammlung „Die Juden von Barnow“ die Inszenierung intergenerationaler Konflikte und den damals aktuellen Diskurs um die Liebesheirat nutzt, um den „westlichen Stereotypen vom ‚wilden Osten‘“ (349) entgegenzuwirken und die Inklusionsfähigkeit einer ausgegrenzten Gruppe zu demonstrieren (334).

Im abschließenden Kapitel werden Vorstellungen „[ü]ber unwürdige Armut und Müßiggang“ aufgegriffen. Sebastian Schmidt demonstriert anhand verschiedener Textgattungen der frühen Neuzeit, wie über rhetorische Mittel und assoziative Verknüpfungen arme Familien in würdige und unwürdige geteilt werden und auf diese Weise ein Instrumentarium entsteht, um Familien in die Gesellschaft zu in- bzw. exkludieren. Der Beitrag von Sylvaine Hänsel fällt ein wenig aus dem Rahmen, da es hier weniger um die arme Familie als solche geht, als vielmehr darum, inwiefern bildliche Repräsentationen von Armut in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts verwendet und als legitim betrachtet worden sind, um karitativ aktive Personen zu inszenieren. Katharina Brandes und Eva Thielen analysieren „Antragsschreiben in Not geratener Eltern im 19. und frühen 20. Jahrhundert“ (419) und kommen zu einem ähnlichen Ergebnis wie Gerstenmayer und Tatarinov: Die Bittsteller beziehen sich auf das dominante Familienideal, wobei nicht abschließend feststellbar ist, inwiefern es sich um Strategien oder ein verinnerlichtes Ideal handelt. Nikolas Immer setzt sich mit den Ambivalenzen in Zschokkes Erzählung „Das Goldmacherdorf“ auseinander, die sich für ihn darin manifestieren, dass die favorisierten Ideale – trotz positiver Darstellung – als unvermeidliche Begleiterscheinung zugleich mit der Entmündigung und Exklusion bestimmter Gruppen verbunden sind. Christian Hermes schließlich legt in seinem Aufsatz zu Bölls Roman „Und sagte kein einziges Wort“ dar, wie der Autor trotz einer vordergründigen kritischen Distanz zu katholischen Familienmodellen im Subtext eben jene idealisiert.

In der Gesamtschau finden sich einige Redundanzen in der Publikation, die allerdings bei einem thematisch eingegrenzten Sammelband nachvollziehbar sind. Die gewählte Gliederung ist einerseits nachvollziehbar, vorstellbar wäre aber auch eine andere Strukturierung der Beiträge nach folgenden Kriterien: Einige Repräsentationen wirken als Bestärkung der herrschenden Familienideale, einige entfalten eine ambivalente Wirkung und andere transportieren trotz vordergründiger Kritik an dominanten Idealen eben diese. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass familiale Repräsentationen, die die jeweils vorherrschenden Muster durchbrechen und Transformationpotenzial enthalten, in der vorliegenden Publikation erkennbar in der Minderheit sind. Das ist bedauerlich, würde es die stärkere Integration solcher Darstellungen doch ermöglichen, Wandlungsprozesse familialer Repräsentationen zu erfassen und somit das Gesamtbild abrunden.

Die herausgearbeiteten Stereotype mögen wenig überraschen, die Ausarbeitungen anhand der unterschiedlichen Quellen zu den eingesetzten Stilmitteln, den Mechanismen der Etablierung und Aufrechterhaltung oder den Gebrauchsweisen familialer Repräsentationen hingegen sind umso aufschlussreicher. Sie bilden gemeinsam mit der Erschließung eher selten genutzter Quellen sowie der Fokussierung auf Repräsentationen marginalisierter Gruppen eine Ergänzung zur existierenden Fachliteratur. Besonders interessant sind die Beiträge von Grunert, Lenczowski und Hermes, die verdeutlichen, wie vordergründig kritische Bezugnahmen auf gesellschaftlich dominante familiale Repräsentationen sich bei näherer Betrachtung in ihr Gegenteil verkehren. Positiv hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die sorgfältigen historischen Kontextualisierungen der verschiedenen Beiträge.

Der vorgestellte repräsentationskritische Ansatz eröffnet vielfältige Anschlussmöglichkeiten für erziehungswissenschaftliche und bildungshistorische Fragestellungen. In einigen Beiträgen klingt das bereits an, wenn z.B. Aspekte der Erziehung aufgegriffen werden. Hieran anknüpfend wäre es interessant, weitere bildungshistorische und erziehungswissenschaftliche Felder repräsentationskritisch aufzuarbeiten. So ließen sich z.B. Repräsentationen dahingehend befragen, inwiefern sie dazu beitragen, bestimmte Erziehungs- und Bildungsideale zu etablieren, zu festigen oder zu modifizieren und inwiefern mit ihnen Ex- oder Inklusionsprozesse angestoßen werden. Auch eine repräsentationskritische Analyse intergenerationeller Beziehungen in Familie und Schule unter Berücksichtigung der sich eröffnenden In- und Exklusionsoptionen wäre denkbar.
Christina Radicke (Göttingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christina Radicke: Rezension von: „Repräsentationen“, Arbeitskreis (Hg.): Die ‚andere‘ Familie, Repräsentationskritische Analysen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main: Peter Lang 2013. In: EWR 12 (2013), Nr. 4 (Veröffentlicht am 24.07.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363164412.html