EWR 13 (2014), Nr. 6 (November/Dezember)

Marcus Erben
Begriffswandel als Sprachhandlung
Der Beitrag Quentin Skinners zur Methodologie und Funktionsbestimmung der pÀdagogischen Geschichtsschreibung
Frankfurt am Main: Peter Lang 2013
(375 S.; ISBN 978-3-631-64355-6; 58,95 EUR)
Begriffswandel als Sprachhandlung Der renommierte britische Ideenhistoriker Quentin Skinner, der mit seiner innovativen Methodologie einer modernisierten Intellectual History seit den 1970er Jahren international breit rezipiert worden ist und dessen Schriften seit fast einem Jahrzehnt sukzessive ins Deutsche ĂŒbertragen wurden – mittlerweile liegen sie nahezu vollstĂ€ndig in Übersetzung vor [1] –, ist in den vergangenen Jahren auch von der jĂŒngeren Historischen Bildungsforschung entdeckt worden. Seine wegweisende Methode der Kontextualisierung von bildungshistorisch bedeutsamen Schriften wurde in der pĂ€dagogischen Geschichtsschreibung bereits an mehreren Stellen fruchtbar gemacht, beispielsweise bei dem Versuch der Neuinterpretation so bedeutender AufklĂ€rungspĂ€dagogen wie Johann Bernhard Basedow und Johann Heinrich Pestalozzi [2].

Trotz dieses Befundes gilt es jedoch zugleich festzustellen, dass Skinners Methodologie bislang noch nicht in der umfassenden und systematischen Weise fĂŒr die Historische Bildungsforschung erschlossen und damit in ihren vielfĂ€ltigen Möglichkeiten fĂŒr die pĂ€dagogische Geschichtsschreibung vorgestellt und analysiert worden ist, wie das eigentlich wĂŒnschenswert gewesen wĂ€re. Lediglich in Form von einigen kĂŒrzeren, konzise formulierten AufsĂ€tzen wurde bislang von Bildungshistorikern der Versuch unternommen, die ideengeschichtlichen Überlegungen Skinners der pĂ€dagogischen Historiographie als vielversprechende methodologische Ansatzpunkte zur EntschlĂŒsselung von bildungshistorisch relevanten Textzeugnissen zu empfehlen [3].

Die vorliegende Studie von Marcus Erben, die als Dissertation an der Leuphana UniversitĂ€t LĂŒneburg entstanden ist, liefert nun jene noch fehlende, „in die Breite und Tiefe gehende Rekonstruktion der Methodologie Skinners in systematischer Absicht“ (24), um so detailliert wie möglich auszuloten und zu ergrĂŒnden, welchen Beitrag Skinner zur Methodologie und Funktionsbestimmung kĂŒnftiger pĂ€dagogischer Geschichtsschreibung leisten kann. Dabei fragt der Autor zugleich auch nach den konstitutiven Möglichkeiten der ideengeschichtlich ausgerichteten pĂ€dagogischen Historiographie ĂŒberhaupt, also nach ihrer etwaigen Erweiterung und ihren möglichen Kritikpunkten.

Erben unterteilt seine Untersuchung in drei Teile. In einem ersten, sogenannten „Referenz-Teil“ (31–96) stellt er zunĂ€chst die hierzulande gelĂ€ufigsten und vielfach noch immer genutzten Modelle einer geistes- oder ideengeschichtlich arbeitenden Bildungsgeschichtsschreibung vor. Diese Auflistung beginnt mit Herman Nohl, dessen 1935 veröffentlichte Schrift „Die pĂ€dagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie“ ein Grundlagentext der – letztlich sogar auf Wilhelm Dilthey zurĂŒckgehenden – geisteswissenschaftlichen PĂ€dagogik ist. Sodann wird Albert Rebles mittlerweile in 22 Auflagen vorliegende, doch erstmals schon 1951 publizierte „Geschichte der PĂ€dagogik“ auf ihre ideengeschichtlichen PrĂ€missen hin untersucht. Gefolgt wird dieser Paragraph von einer Analyse der bildungshistorischen Arbeiten von Herwig Blankertz, der 1982 in MĂŒnster eine Darstellung der Geschichte der PĂ€dagogik vom Zeitalter der AufklĂ€rung bis ins 20. Jahrhundert als Sozialgeschichte der Ideen konzipierte. Ein weiterer Abschnitt widmet sich den pĂ€dagogischen Reflexionen Dietrich Benners, wie er sie in seiner „Allgemeinen PĂ€dagogik“ aus dem Jahr 1987 zum Ausdruck gebracht hat, um sie dann in seiner gemeinsam mit Friedhelm BrĂŒggen herausgegebenen PĂ€dagogikgeschichte [4] zur bildungshistorischen Anwendung zu bringen. Skizziert werden schließlich noch Winfried Böhms aktuelle Gedanken zu den Möglichkeiten einer ideengeschichtlichen Bildungshistorie, die hier als „Ideen- ohne Sozialgeschichte“ (52) charakterisiert wird.

Insgesamt bietet dieser erste Teil von Erbens Studie wirklich gelungene und informative Zusammenfassungen jener wohl in der Tat wichtigsten Varianten der in den letzten Jahrzehnten in Deutschland erarbeiteten AnsĂ€tze einer pĂ€dagogischen Ideengeschichte, denen jedoch, wie der Autor konstatiert, allen ein ganz entscheidendes Manko zu eigen ist: DefizitĂ€r sind die vorgestellten Methodologien allesamt deshalb, weil sie eine Tradition der ideengeschichtlich oder geisteswissenschaftlich ausgerichteten Bildungsgeschichtsschreibung begrĂŒndet haben, die ĂŒberwiegend dekontextuell vorgeht und somit im Grunde wesentlich ahistorisch denkt. Diese Tradition mĂŒsse nun aber dringend mit einer „am Kontext orientierte[n] pĂ€dagogische[n] Geschichtsschreibung mit genuin historischem Charakter“ (23f) konfrontiert werden.

Eine solche, den Kontext der bedeutenden bildungshistorischen Texte sorgfĂ€ltige einbeziehende Methodologie der pĂ€dagogischen Historiographie bietet, so Erben, der Ansatz Skinners, weshalb der Verfasser im zweiten Teil seiner Studie – der mit etwas ĂŒber 200 Seiten den voluminösen Kern der Arbeit ausmacht – eine akribische Darstellung der methodischen Vorgehensweise des britischen Historikers vornimmt. In diesem Zusammenhang wertet Erben sĂ€mtliche verfĂŒgbaren Texte Skinners aus, sowohl die theoretisch-reflektierenden Arbeiten als auch die praktischen Beispiele seiner historischen Forschungen, etwa seine Arbeiten zu Hobbes, Machiavelli oder zur Entstehung und Entwicklung des modernen Freiheitsbegriffs. Doch auch autobiographische Zeugnisse, in denen sich Skinner zu seinem SelbstverstĂ€ndnis als Ideenhistoriker Ă€ußert, dienen Erben dazu, dessen Methodologie in allen ihren Intentionen und Implikationen möglichst grĂŒndlich zu erfassen [5].

Erbens umfassende und systematische Darstellung der Methodologie Skinners gehört zum Besten, was in dieser Hinsicht in Deutschland bislang geleistet worden ist. Etwas eleganter als von Erben geschildert wurde Skinners Ansatz womöglich bereits von Hartmut Rosa [6] – der sich in jĂŒngster Zeit als Historiker der auf Beschleunigung drĂ€ngenden Zeitstrukturen der Moderne einen Namen gemacht hat –, doch hat noch niemand vor Erben eine derartig vielschichtige Beschreibung aller Einzelaspekte der Methodologie Skinners geleistet. Alles, was Skinner zu bieten hat, alles, was fĂŒr das VerstĂ€ndnis seines Ansatzes vonnöten ist, wird von Erben einer genauen Durchsicht unterzogen: Beschrieben wird die ideengeschichtliche Herleitung seiner Methodologie, die gleichermaßen viel den Anregungen des Historikers Robin G. Collingwood verdankt wie den sprachanalytischen Reflexionen Ludwig Wittgensteins und John L. Austins (107–142); beschrieben wird auch, wie Skinner die Mythen der ‚alten‘, ohne Einbeziehung linguistischer Kontexte arbeitenden Ideengeschichten entlarvt (164–194); erörtert wird, wie die Pointe einer historischen Sprachhandlung herausgearbeitet, IntentionalitĂ€t und RationalitĂ€t von Texten analysiert und politische Stoßrichtungen historischer Schriften erkannt werden können (195–268); und vorgefĂŒhrt wird schließlich auch, welche ZusammenhĂ€nge sich zwischen dem Bedeutungswandel von politischen (oder pĂ€dagogischen) Begriffen und dem Wandel von gesellschaftlichen Strukturen und Formationen aufzeigen lassen (269–290). Dies alles liest sich trotz der hier immer wieder gebrauchten Fachterminologie in der Regel flĂŒssig und ist durchgĂ€ngig gut verstĂ€ndlich.

Im dritten und letzten Teil der Arbeit trĂ€gt Erben dann sorgfĂ€ltig argumentierend zusammen, worin seines Erachtens der Vorzug von Skinners Methodologie besteht, wenn man sie mit den im Referenz-Teil seiner Studie vorgestellten Varianten der Ă€lteren deutschen Ideen- oder Geistesgeschichte vergleicht (309–359). Im Wesentlichen handelt es sich dabei um folgende Erkenntnisse: Mit Skinners Methodologie verfĂ€llt man nicht der Gefahr, pĂ€dagogische Autoren der Vergangenheit „als virtuelle Zeitgenossen fĂŒr ĂŒberzeitliche PĂ€dagogik-Lehren“ zu verwenden (356). Zweitens besteht Skinners Beitrag zur Methode der pĂ€dagogischen Geschichtsschreibung in einer KlĂ€rung der methodologischen Bedingungen der Möglichkeiten historischer Erkenntnis, da man durch ihn versteht, dass jeder individuelle Text eines zu einer bestimmten intellektuellen Gruppierung gehörenden Autors mit bestimmten semantischen, konventionalen und hermeneutischen Bedeutungen teilnimmt „an einem ĂŒberindividuellen Kontext (ideologischen Kontext) von Ideen, Meinungen, Werten, Überzeugungen und Zielsetzungen in einer bestimmten Art von Gesellschaft“ (357). Drittens lassen sich mit Hilfe von Skinners Methodologie „historisch verborgene Alternativen“ (358) zur Lesart von klassischen Texten der PĂ€dagogik heben, wodurch wir uns die Klassiker in ganz neuer Weise erschließen können.

Auch anhand eines selbstgewĂ€hlten, rasch einleuchtenden Beispiels macht Erben klar, was Skinners Methodologie zu leisten vermag: Erben fĂŒhrt aus, dass der 1788 in MĂŒnster verstorbene Philosoph Johann Georg Hamann noch kurz vor seinem Tod den AufklĂ€rungsbegriff Immanuel Kants heftig kritisierte. War Hamann deswegen, wie viele Philosophiehistoriker [7] suggeriert haben, ein Anti-AufklĂ€rer? Stellt man Hamanns Aussagen gemĂ€ĂŸ den Prinzipien des Ansatzes von Skinner in ihren ideologischen Kontext, dann fĂ€llt auf, dass Hamann Kants Begriff von der selbstverschuldeten UnmĂŒndigkeit mit dem Begriff der selbstverschuldeten Vormundschaft konfrontierte, was er explizit deshalb tat, um der wahren AufklĂ€rung den Weg zu bahnen. Hamann war also sehr wohl, wie Erben betont, an der „Emanzipation“ (320) des menschlichen Geistes von den Fesseln der Vorurteile gelegen.

Wohltuend an Erbens Studie ist, dass der Verfasser Skinners Methodologie nicht als Wundermittel verherrlicht, sondern, viel bescheidener, als ein – immerhin ein sehr brauchbares – „Korrektiv“ versteht fĂŒr „methodologische Grundlegungen und praktische Geschichten zukĂŒnftiger pĂ€dagogischer Geschichtsschreibungen“ (356). Wer sich also daran macht, eine Geschichte der PĂ€dagogik zu erzĂ€hlen und Skinners Korrektiv begleitend bei seiner Geschichtsschreibung prĂ€sent hĂ€lt, der wird, wie Erben in seinem Fazit pointiert resĂŒmiert, „zu einer bewussteren Darstellung der Geschichte kommen als derjenige, der dies nicht tut“ (356). Und das ist keine geringe Leistung, weshalb es wĂŒnschenswert wĂ€re, wenn sich auch weiterhin jĂŒngere Bildungshistoriker, wie Erben dies ja auch anregen möchte, durch Skinners Ansatz zu neuen pĂ€dagogischen GeschichtserzĂ€hlungen inspirieren ließen.

[1] Vgl. vor allem die bei Suhrkamp erschienene Aufsatzsammlung: Quentin Skinner: Visionen des Politischen, hg. v. Heinz, M. und RĂŒhl, M., Frankfurt am Main 2009 und den grundlegenden Artikel: Skinner, Q.: Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte. In: Mulsow, M. / Mahler, A. (Hg.): Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte. Frankfurt am Main: 2010, 21–87; Skinner, Q.: Die Drei Körper des Staates. Göttingen: Wallstein 2012.
[2] Vgl. z. B. folgende Studien aus dem Bereich der Historischen Bildungsforschung, die sich von Skinners Methodologie haben inspirieren lassen: Overhoff, J.: Die FrĂŒhgeschichte des Philanthropismus (1715–1771). Konstitutionsbedingungen, Praxisfelder und Wirkung eines pĂ€dagogischen Reformprogramms im Zeitalter der AufklĂ€rung, TĂŒbingen: Niemeyer 2004; Tröhler, D.: Republikanismus und PĂ€dagogik. Pestalozzi im historischen Kontext. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006.
[3] Vgl. Drieschner, E. / Gaus, D. (Hg.): Bildung jenseits pĂ€dagogischer Theoriebildung? Fragen zu Sinn, Zweck und Funktion Allgemeiner PĂ€dagogik. Wiesbaden: 2010, bes. 145–179 und Overhoff, J.: Quentin Skinners neue Ideengeschichte und ihre Bedeutung fĂŒr die historische Bildungsforschung. In: Jahrbuch fĂŒr Historische Bildungsforschung, Band 10 (2004), 321–336.
[4] Benner, D. / BrĂŒggen F.: Geschichte der PĂ€dagogik. Vom Beginn der Neuzeit bis zur Gegenwart, Stuttgart: Reclam 2011.
[5] Vgl. z. B. Skinner, Q.: Umweg ĂŒber Chatsworth oder Wie ich Ideenhistoriker wurde. In: Zeitschrift fĂŒr Ideengeschichte 1, 2 (2007), 79–89.
[6] Rosa, H.: Ideengeschichte und Gesellschaftstheorie: Der Beitrag der ‚Cambridge School‘ zur Metatheorie. In: Politische Vierteljahresschrift 35, 2 (1994), 197–223.
[7] Hamanns schĂ€rfster Kritiker aus neuerer Zeit war der 1997 verstorbene Oxforder Ideenhistoriker Isaiah Berlin, dessen ideengeschichtliches Instrumentarium Skinner wiederum seinerseits in Frage stellte, vgl. Skinner, Q.: A Third Concept of Liberty. In: London Review of Books 24, 7 (2002), 16–18.
JĂŒrgen Overhoff (MĂŒnster)
Zur Zitierweise der Rezension:
JĂŒrgen Overhoff: Rezension von: Erben, Marcus: Begriffswandel als Sprachhandlung, Der Beitrag Quentin Skinners zur Methodologie und Funktionsbestimmung der pĂ€dagogischen Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main: Peter Lang 2013. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363164355.html