Mit ihrer Dissertation prĂ€sentiert die Erziehungswissenschaftlerin Beate Walter eine Abhandlung ĂŒber die Situation der beruflichen Orientierung junger Menschen in Deutschland. Der Untersuchungsschwerpunkt liegt in der Ausdifferenzierung sozialisatorischer Effekte und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen hinsichtlich der Berufsorientierung sowie der pĂ€dagogischen MaĂnahmen der fĂŒr den Orientierungsprozess relevanten Institutionen. Die Arbeit greift den Ăbergang von der Schule in die Berufsausbildung bzw. den Beruf auf und expliziert deren Relevanz fĂŒr eine sich verĂ€ndernde Gesellschaft. Unter BerĂŒcksichtigung der verschiedenen Akteure im Prozess der Berufsorientierung entsteht das multiperspektivische Bild eines komplexen UnterstĂŒtzungssystems, welches insbesondere das PhĂ€nomen der Verantwortung in den Blick nimmt.
Wenngleich die Befunde zeigen, dass Familie und Eltern (noch) die Entscheidungsprozesse in Bezug auf die Berufswahl ihrer Kinder dominieren, erwĂ€chst den Schulen, aber auch anderen Institutionen, die komplexe Aufgabe, steuernd in den Prozess der beruflichen Orientierung einzugreifen. Der wachsende Einfluss von Schule und Supportsystemen grĂŒndet auf den sich schnell verĂ€ndernden Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten sowie den gesellschaftlichen und marktspezifischen Wandlungsprozessen (31f). Familien, insbesondere aus sozial schwachen Herkunftsmilieus, können dieser Entwicklung immer seltener Stand halten (36f). Die damit verbundene Verlagerung der (gesellschaftlichen) Verantwortung fĂŒhrt zu einem vielschichtigen BewĂ€ltigungsansatz, der die âberufliche Orientierung als pĂ€dagogische Querschnittsaufgabeâ charakterisiert (109). Die Schule muss hierbei, in enger Kooperation mit den weiteren Akteuren des Ăbergangsprozesses, diese Herausforderung annehmen, um nicht zuletzt der sich verschĂ€rfenden sozialen HeterogenitĂ€t entgegenzutreten (118f).
Zu Anfang ihres Buches gibt Walter eine konzise Einleitung, welche die zugrundeliegende Problematik ihrer Untersuchung strukturiert erfasst. Es folgt eine knappe, aber dennoch prĂ€zise und gröĂtenteils auf dem aktuellen Stand der Forschung verortete Systematisierung der zentralen Begrifflichkeiten.
Im folgenden Teil der Studie wird ausfĂŒhrlich auf diverse Sozialisationsaspekte rekurriert, welche die beruflichen Integrationsmechanismen unter BerĂŒcksichtigung der verĂ€nderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erfassen und die KomplexitĂ€t der EinflĂŒsse auf die Lebensphase der Jugend als Ausgangspunkt darstellen. Die Explikation der gesellschaftspolitischen Relevanz von Kontextvariablen zieht sich unterdessen wie ein roter Faden durch die verschiedenen Entwicklungsaspekte, wodurch eine fĂŒr diesen Bereich umfassende Systematik entsteht.
Das vierte Kapitel widmet sich dem komplexen PhĂ€nomen der Verantwortung, die zunĂ€chst durch eine philosophisch-soziologische AnnĂ€herung erfolgt, und konturiert, âwer mit welcher Verpflichtung und rechtlicher Kompetenzâ (106) fĂŒr den beruflichen Eingliederungsprozess eintritt. Der Autorin gelingt es, durch diese Schwerpunktlegung, einen prĂ€zisen Diskurs zu fĂŒhren, der die differenten Normen und AnsprĂŒche unter einer kollektiven Orientierungsverantwortung subsumiert und darĂŒber hinaus die âAmbivalenz der kollektiven Verantwortungâ (89) herausstellt.
Logisch darauf aufbauend wird in einem nĂ€chsten Schritt die berufliche Orientierung in der Rollenbeschreibung von Familie, Peergroups, Schule, Jugendhilfe, Wirtschaft und weiteren EinflussgröĂen dargestellt und hinsichtlich ihrer spezifischen AusprĂ€gungen definiert.
Der empirische Teil der Studie beabsichtigt, vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung, das Zusammenspiel der fĂŒr den beruflichen Orientierungsprozess maĂgeblichen Instanzen zu explorieren und eine systemĂŒbergreifende Aussage zur beruflichen Integration als SchlĂŒsselfunktion der Vergesellschaftung junger Menschen herzustellen. Das methodische Vorgehen, das in der vorliegenden Darstellung noch strukturierter und ausfĂŒhrlicher hĂ€tte dokumentiert werden können, umfasst eine schlĂŒssige Triangulation von qualitativen und quantitativen Erhebungen, die fĂŒr die Region und Stadt Leipzig umfassend realisiert wurden. Die Auswertung der Ergebnisse ergibt einen stringenten und den grundlegenden Arbeitshypothesen entsprechenden Ăberblick, der mit zahlreichen Originalzitaten der interviewten Experten untermauert und in der Konklusion folgerichtig resĂŒmiert wird.
Die betrachtete Arbeit stellt, insbesondere in ihrem ersten Teil, den Versuch dar, das nicht nur pĂ€dagogisch intensiv rezipierte Thema der beruflichen Orientierung mit all seinen immanenten Aspekten und Bedingungen umfassend zu bearbeiten. Den derzeit aktuellen Forschungsstand gibt die Arbeit dabei jedoch nur mit einer ausschnittartigen BerĂŒcksichtigung der berufspĂ€dagogischen Expertise wieder, sodass es der Abhandlung in Teilen an einer sachlichen KohĂ€renz mangelt, die sowohl das angestrebte Gesamtbild des beruflichen Orientierungsprozesses als auch die Spezifika der Ăbergangsproblematik nur eingeschrĂ€nkt widerspiegelt. Dieses Defizit ist allerdings weniger erheblich, betrachtet man die sehr gut gelungene und detaillierte Bezugnahme auf die verschiedenen Dimensionen der schulisch-beruflichen Sozialisation, die der Betrachtung eine soziologisch und sozialpĂ€dagogisch geprĂ€gte Perspektive verleihen. Der Blickwinkel, beinhaltet unter anderem die spezifische âSozialisation in modernen Lebensweltenâ (31ff), den Aspekt der âBerufsorientierung und Jugendhilfeâ (122ff) sowie die Betrachtung der âBenachteiligungsfaktoren in ihrer sozialen Durchschlagskraftâ (58ff), welche die wissenschaftliche Diskussion des schulisch-beruflichen Ăbergangs um wertvolle, ansonsten nur sporadisch behandelte Betrachtungen ergĂ€nzen.
Walter gelingt es, neben dem Spagat, den entstandenen ErklĂ€rungsansatz der beruflichen Bildung durch eine lokal begrenzte empirische Untersuchung zu stĂŒtzen, vor allem durch eine interdisziplinĂ€re Betrachtung von Berufsorientierung deren KomplexitĂ€t zu identifizieren und somit den Fokus auf die Notwendigkeit eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses zu richten.
Insgesamt handelt es sich bei der vorliegenden Publikation um einen sehr gelungenen Beitrag zur Erforschung des Ăbergangs Schule-Beruf, sodass die Autorin ihrem eigenen Anspruch, einen Teil zu einer erweiterten Perspektive des Themas beizutragen, gerecht wird. Vornehmlich die Erarbeitung des PhĂ€nomens der Verantwortung fĂŒr den beruflichen Orientierungsprozess stellt einen herausragenden Aspekt zum fachlichen Diskurs dar. Die Wahrnehmung und Umsetzung der Verantwortung von Schule und Akteuren im System der beruflichen Orientierung, verbunden mit der Thematisierung von Schuld und Scheitern, wird konkretisiert und vor dem Hintergrund ihrer politischen und gesellschaftlichen Brisanz sachlich beleuchtet.
EWR 11 (2012), Nr. 1 (Januar/Februar)
Die berufliche Orientierung junger Menschen
Untersuchungen zur Verantwortung von Gesellschaft und PĂ€dagogik
Frankfurt am Main: Peter Lang 2010
(331 S.; ISBN 978-3-6316-0342-0; 54,80 EUR)
Christian J. Gras (Weingarten)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christian J. Gras: Rezension von: Walter, Beata: Die berufliche Orientierung junger Menschen, Untersuchungen zur Verantwortung von Gesellschaft und PĂ€dagogik. Frankfurt am Main: Peter Lang 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 1 (Veröffentlicht am 24.02.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363160342.html
Christian J. Gras: Rezension von: Walter, Beata: Die berufliche Orientierung junger Menschen, Untersuchungen zur Verantwortung von Gesellschaft und PĂ€dagogik. Frankfurt am Main: Peter Lang 2010. In: EWR 11 (2012), Nr. 1 (Veröffentlicht am 24.02.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363160342.html