EWR 6 (2007), Nr. 3 (Mai/Juni 2007)

Rudolf M. Kühn
Theodor Ballauff - Revolutionär pädagogischer Denkungsart
Ein Porträt
Frankfurt am Main u.a.: Lang 2007
(104 S.; ISBN 978-3-631-56001-3; 19,80 EUR)
Theodor Ballauff - Revolutionär pädagogischer Denkungsart Ein Porträt versucht in aller Regel, einen bestimmten Menschen in künstlerischer oder literarischer Absicht so darzustellen, dass in der Abbildung seines Antlitzes zugleich auch Charakteristisches seiner „Persönlichkeit“ zum Ausdruck kommt. Auf diese Weise soll durch ein Porträt selbst denjenigen, die den Porträtierten nicht kennen, ein treffendes Bild vermittelt oder auch der Nachwelt ein Eindruck dieses Menschen gegeben werden. Für ein gelungenes Porträt scheint es daher nahezu unumgänglich zu sein, dass derjenige, der das Porträt anfertigt, den Porträtierten auch kennt – zwar nicht unbedingt persönlich, aber doch so, dass er über dessen Leben und Eigenschaften gut genug Bescheid weiß.

Rudolf M. Kühn bringt diese notwendige Voraussetzung eines Porträtisten mit, beschäftigt er sich doch bereits seit den frühen 1970er Jahren mit Theodor Ballauff (1911-1995) und dessen zuweilen als schwierig und sonderbar bezeichneten Pädagogik. Diese langjährige Auseinandersetzung findet nun nach einigen früheren Veröffentlichungen des Autors ihren Niederschlag in dem wissenschaftlichen Porträt über Ballauff, der darin – in Anlehnung an eine Formulierung Immanuel Kants – als „Revolutionär pädagogischer Denkungsart“ vorgestellt wird.

In der kurzen Einleitung (7-12) wird von den Anfangsjahren des akademischen Werdegangs Ballauffs ausgehend in dessen philosophisch-pädagogisches Lebenswerk eingeführt und anhand einiger bedeutender Schriften zugleich schon die Besonderheit und Eigenständigkeit des ballauffschen Ansatzes markiert. Diese vorrangig aus biografischen Anmerkungen heraus entwickelten Erläuterungen werden für eine gelungene Porträtierung jedoch als unzureichend empfunden, und so wirft Kühn im Folgenden einen intensiveren Blick auf das vorliegende Gesamtwerk, das er in sechs thematischen Abschnitten vorstellt und diskutiert. Das erste Kapitel (13-20), das sich Ballauffs bildungstheoretischer Begründung der Pädagogik annimmt, führt in zentrale Begrifflichkeiten und wesentliche architektonische Merkmale der Konzeption ein. Um zu verdeutlichen, wie Ballauff den Ausgang der Pädagogik von der Frage nach dem Sinn und Maß der Bildung begründet, gibt Kühn wichtige Passagen aus Ballauffs Texten wieder, stellt zwischen ihnen Zusammenhänge her und kommentiert sie. Neben der Abgrenzung einer philosophisch fundierten Pädagogik gegenüber der empirisch forschenden Erziehungswissenschaft und der Explikation der Idee der Menschlichkeit als den im Verständnis Ballauffs für eine pädagogische Systematik wegweisenden Bezugspunkten steht im Zentrum dieses Kapitels zudem die so genannte „historische Empirie“, ein spezifisches Modell Ballauffs, das zur Untersuchung pädagogischer Problemzusammenhänge empirisch-faktische und historische Momente aufeinander bezieht.

Im darauf folgenden, zweiten Kapitel „Bildung als Wende zur Menschlichkeit“ (21-33) geht es um eine weitere Erläuterung der Fundamente von Ballauffs Pädagogik. Die Einsicht, dass es der Pädagogik nicht um den Menschen geht und deshalb auch keine Anthropologie als Ausgang und Grund für Erziehung, Bildung und Unterricht fungieren kann, sondern als systematischer Leitbegriff nichts anderes als Menschlichkeit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen habe, führt bei Ballauff zu einer fundamentalontologischen Begründung des Menschen und seiner Betrachtung des In-der-Welt-seins. M.a.W.: „Jede Anthropologie greift zu kurz, erreicht nicht die Menschlichkeit des Menschen, wenn sie von dem transzendierenden Bezug des Menschen zum Sein im Ganzen absehen und sich auf den Menschen als ‚Tatsache der Natur‘ oder der ‚Historie‘ einschränken zu können glaubt“ (22). Aus der Kritik an der anthropologischen Begründung der Pädagogik entwickelt Ballauff so einen Gedankengang, der die modernen menschlichen Selbstbeschreibungen zurückweist, den Ursprung des Menschlichen im Denken und in der Wahrheit freilegt und den Menschen zum „Sprecher der Wahrheit“ erklärt: Die Zugehörigkeit zur Wahrheit und der Ausgang vom Denken erhebe den Menschen in eine Selbstlosigkeit und lasse ihn zum Anwalt des Seins von Dingen, Wesen und Mitmenschen werden. Diesen Aspekten widmet Kühn auf den folgenden Seiten seine ganze Aufmerksamkeit und entwickelt auf diese Weise eine Darstellung der Konzeption Ballauffs, die – gemessen am „pädagogischen Mainstream“ – das Revolutionäre dieser Bildungstheorie deutlich vor Augen führt.

Das knapp ausgefallene dritte Kapitel untersucht „Die Infragestellung der traditionellen ‚Persönlichkeitsbildung‘“ (35-38), das an der bislang herausgearbeiteten Terminologie weiter entlang geführt wird und zu demonstrieren versucht, was es heißt, dass Ballauff „den Menschen als Sachwalter und Mitmenschen in selbstloser Verantwortung der Wahrheit“ (35) versteht. Ballauffs Zurückweisung des traditionellen humanistischen Bildungsziels der Persönlichkeit und seine Absage einer an Sittlichkeit orientierten Pädagogik werden hier beleuchtet und in die Darlegung der antithetischen Konstitution einer modernen Bildungstheorie überführt, in der das besonnene und selbstlose Ermessen, was zu denken, zu sagen und zu tun ist, zum Leitgedanken und alternativen Bildungsideal formuliert wird.

Die nun folgenden drei Kapitel behandeln die im weitesten Sinne unterrichts- und schultheoretischen Schriften Ballauffs. Anhand der „Skeptischen Didaktik“ von 1970, den „Funktionen der Schule“ von 1982 und der kleinen Abhandlung „Lehrer sein einst und jetzt – Auf der Suche nach dem verlorenen Lehrer“ von 1985 verdeutlicht Kühn, wie Ballauff seine theoretisch-pädagogischen Überlegungen konsequent in diesen Schriften weiterführt. Das Kapitel „Skeptische Didaktik – eine provokante Theorie?“ (39-49) liefert unter den Überschriften „Didaktik als ‚Kathegetik’“ und „Kathegetische Skepsis“ eine Zusammenfassung, die die von Ballauff in dieser Schrift entwickelten Thesen nachzeichnet. Damit versucht Kühn zugleich zu verdeutlichen, wie radikal Ballauff die Annahmen traditioneller Didaktik, etwa die zur Motivation oder die zur Planbarkeit des Unterrichts, in Frage stellt und sie um- und weiterdenkt. So geht es einer Kathegetik, wie sie Ballauff entwirft, nicht um die Vermittlung von Können und Wissen im Unterricht, sondern um die Verwicklung in Gedankengänge und die Überantwortung der Schüler ans Denken. Mit dem durchaus paradoxen Ergebnis der Skeptischen Didaktik, dass es heute an der Zeit sei, das Lernen zu verlernen, um „Selbständigkeit im Denken“ zu ermöglichen, kommt Kühn, die Frage der Kapitelüberschrift aufgreifend, zu dem Ergebnis, dass „die Rede von einer ‚provokanten Theorie‘ nicht unzutreffend sein“ (49) dürfte.

Auch das fünfte Kapitel (51-63), das auf die Schule und ihre Funktionen blickt, betont das Revolutionäre und Außergewöhnliche. Die aus einer historischen Analyse heraus gewonnene Systematik von mehr als 30 Funktionen der Schule bringt nämlich „in der Tat recht ungewöhnliche, bisher kaum ins Bewusstsein getretene Funktionen ans Licht“ (54), und vor allen Dingen scheint hierbei überraschend, dass von diesen nur wenige etwas mit Bildung zu tun haben. Dass es Ballauff jedoch nicht bei der Erarbeitung der verschiedenen Funktionen belässt, sondern diese unter dem explizierten Bildungsgedanken umwendet und so eine Schultheorie entwickelt, die das traditionelle Verständnis von Schule im dialektischen Sinne aufhebt, wird im weiteren Verlauf des Kapitels beschrieben. Das auf die gleiche Weise von Ballauff entwickelte alternative Konzept von Lehrersein, das er auf seine bildungstheoretischen Überlegungen aufbaut, ist Gegenstand des sechsten Kapitels (65-76). Als Gegenentwurf zu den heutigen Bildern, die den Lehrer vorrangig als Vermittler oder Lernhelfer zeichnen, charakterisiert Ballauff den Lehrer aus historisch-systematischer Forschung heraus als „Mittler sachlicher Einsicht um der Wahrheit willen“. Diese drei Kapitel informieren kurz und bündig über den Inhalt der behandelten Schriften, sind jedoch in Wort und Aufbau äußerst stark von der Primärliteratur beeinflusst und bleiben deshalb auch vorrangig auf deskriptivem Niveau.

Die beiden darauf folgenden Kapitel widmen sich nun nicht mehr einzelnen Aspekten der „Programmatik“ von Ballauffs Pädagogik oder bestimmten Werken, sondern nehmen sich zum einen der „Einwände“ (77-79) an, die gegenüber diesem Ansatz immer wieder vorgebracht werden und legen zum anderen „Bemerkungen zur Rezeption“ (81-83) vor, geben somit also Hinweise zum Status von Ballauffs Bildungslehre in der Erziehungswissenschaft. Bei der Diskussion der Einwände greift Kühn drei der seiner Auffassung nach wichtigsten Kritikpunkte heraus, stellt sie knapp in ihren zentralen Thesen dar und versucht aufzuzeigen, warum diese Bedenken erhebenden oder gegen Ballauffs Bildungstheorie argumentierenden Stellungnahmen keine Geltung beanspruchen und Anerkennung finden können. Alle drei Einwände – derjenige, der dem ballauffschen Ansatz Abstraktheit und Utopismus vorwirft, derjenige, der die Überlegungen zu einer non-egologischen Bildungstheorie dem Vorwurf eines radikalen Verlusts des Selbst aussetzt sowie derjenige, der aus der Perspektive der pädagogischen Praxis darin das Fehlen fester Bezugspunkte und Maßstäbe moniert – sollen entkräftet werden, indem sie in der Konfrontation mit den Originalworten Ballauffs die Stichhaltigkeit ihrer Aussagen einbüßen. Dieses Vorgehen Kühns wird der Tragweite der Einwände allerdings kaum gerecht, und es scheint zu einfach, ihnen auf diese Weise ihre reklamierte Geltung abzuerkennen. Zwar lassen sich die Einwände zweifellos durch den Verweis auf werkimmanente Einzelaussagen abwehren, überzeugend kann sich ein solches Vorgehen allerdings nicht nennen, wenn eine eigenständige und inhaltliche Prüfung damit umgangen wird.

Die anschließenden Ausführungen, die die Rezeption der Pädagogik Ballauffs in den Blick nehmen, können nun insofern als eine Fortsetzung der Beschäftigung mit Einwänden betrachtet werden, als sie zwei weitere Vorwürfe aufgreifen: Zum einen die häufig unterstellte Bindung an die zuweilen mit Argwohn betrachtete Philosophie Martin Heideggers und zum anderen die zahlreiche Verwendung von Latinismen und Gräzismen in den Texten Ballauffs. Beide Aspekte werden als mögliche Ursachen für eine „dem gedanklichen Reichtum und der Differenziertheit seiner Veröffentlichungen“ (81) nicht gerecht werdende Stellung des ballauffschen Ansatzes innerhalb der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft betrachtet. Inwiefern die Pädagogik Ballauffs aber eine in zahlreicher Hinsicht beeindruckende und anspruchsvolle Konzeption darstellt, möchte Kühn herausstellen, indem er erneut Ballauffs Formulierungen aufgreift sowie Aussagen ihm „wohlgesinnter“ erziehungswissenschaftlicher Fachvertreter rezitiert. Eigenständige Überlegungen werden jedoch auch hier nicht vorgebracht, so dass die in Aussicht gestellte Einordnung von Ballauffs Denken in den gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen Diskurs letztlich nicht erfolgt bzw. unbefriedigend bleibt. Hierzu erfährt man anderenorts Spannenderes: Etwa bei Christiane Thompson [1] oder bei Jörg Ruhloff und Andreas Poenitsch [2], den Herausgebern von zentralen Schriften Ballauffs aus dessen Nachlass.

Eine schlichte schematische Übersicht über „Konstruktionsprinzipien pädagogischer Systematik“ (87f.), in der zentrale Themen der Pädagogik Ballauffs aufgelistet und hinsichtlich ihres antithetischen, gleichsam „revolutionären“ Charakters verdeutlicht werden, sowie der Wiederabdruck eines schwer zugänglichen und aufschlussreichen Interviews zwischen Theodor Ballauff und Rainer Winkel aus dem Jahr 1989, das mit dem Titel „Die Pädagogik der Selbstlosigkeit oder: Liegt die Wahrheit bei den Ketzern?“ (89-96) überschrieben ist, stellen im Anhang zusätzliches Material zur Porträtierung bereit. Das Literaturverzeichnis (97-104) schließlich, das vielmehr eine Bibliografie ist, präsentiert zum einen „eine Auswahl von Titeln, die für Theodor Ballauffs weitverzweigten Denkweg stehen“ (97), und stellt zum anderen eine Übersicht der Sekundärliteratur bereit, die zur weiteren Auseinandersetzung mit dem ballauffschen Ansatz wichtige und hilfreiche Hinweise gibt.

Rudolf M. Kühn bietet in seinem Porträt über Theodor Ballauff einen Überblick über das facettenreiche Werk dieses außergewöhnlichen Pädagogen und beleuchtet es aus den verschiedenen Richtungen, sodass ein Einblick in die anspruchsvolle Bildungstheorie ermöglicht wird. Allerdings wird dabei kaum Neues präsentiert, und auch die einzelnen Kapitel sind in ihrer Anlage weder so innovativ, dass sie bislang unentdeckte Zusammenhänge aufzeigen könnten, noch so didaktisch arrangiert, dass sie die Pädagogik Ballauffs leichter verständlich in Szene setzten. Durch die starke und mitunter apologetische Anlehnung an die Sprache Ballauffs, die in einzelnen Kapiteln über die längere Aneinanderreihung von Originalzitaten erreicht wird, nimmt die Porträtierung mitunter den Stil einer Hommage an. Dieser Eindruck wird zudem auch durch die vorschnelle Beseitigung der Einwände und die Klage Kühns über die zu geringe Beachtung von Ballauffs Ansatz in der Pädagogik befördert. Vom Autor geäußerte kritische Töne zur besprochenen Bildungstheorie sucht man gar vergeblich. Nichtsdestotrotz mag das wissenschaftliche Porträt über Theodor Ballauff eine gewisse Hilfe bei der Beschäftigung mit einer als sperrig geltenden Bildungstheorie sein, vor allen Dingen für diejenigen, die sich nur kompakt und auf wenigen Seiten über diese Pädagogik zu informieren suchen.

Der Künstler oder Literat, der mit seinem Werk nicht nur den porträtierten Menschen darstellen, sondern mit seiner Leistung auch Beachtung und Anerkennung erfahren möchte, sollte wohl auch zeigen können, dass Kreatives, Beeindruckendes und Neues in seinem Werk zum Ausdruck kommt. Gelingt ihm das nicht und ist er nicht der erste, der ein Porträt dieses bestimmten Menschen angefertigt hat, dann muss das nicht unbedingt heißen, dass das Porträt misslungen ist, allerdings erscheint dann die Frage berechtigt, ob andere Porträts desselben Menschen und dessen Werk nicht mindestens ebenso gelungen oder sogar noch aufschlussreicher sind. Dies wird wohl auch für wissenschaftliche Porträts gelten dürfen.

[1] Thompson, Christiane (2003): Selbständigkeit im Denken. Der philosophische Ort der Bildungslehre Theodor Ballauffs. Opladen: Leske + Budrich.
[2] Ruhloff, Jörg/Poenitsch, Andreas (Hrsg.) (2004): Theodor Ballauff – Pädagogik der »selbstlosen Verantwortung der Wahrheit«. Weinheim/München: Juventa.
Thorsten Fuchs (Gießen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thorsten Fuchs: Rezension von: Kühn, Rudolf M.: Theodor Ballauff - Revolutionär pädagogischer Denkungsart, Ein Porträt. Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 3 (Veröffentlicht am 12.06.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363156001.html