Integration oder Inklusion? Das ist hier nicht die Frage. Sowohl der Herausgeber als auch viele Autorinnen und Autoren verwenden in Bezug auf die Werke Georg Feusers den Begriff der Integration im Sinne der Aufhebung von Aussonderung mit dem Ziel „einer uneingeschränkten, auf Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit beruhenden Teilhabe der (noch immer in ontologischer Manier) als „behindert“ klassifizierten Menschen an der Gesamtheit des kulturellen Lebens“ (5). Ein Beitrag widmet sich aber doch der Begriffsdebatte. Anne-Dore Stein arbeitet darin heraus, dass der kulturhistorische Ansatz schon immer die Ziele der Inklusion verfolgt habe und es daher „zumindest in der deutschsprachigen Diskussion keine theoretisch begründete Notwendigkeit gibt, den Integrationsbegriff durch den der Inklusion zu ersetzen“ (35). Viel entscheidender als eine Begriffsdiskussion erscheinen ihr sorgfältige sozialpolitische und ökonomische Analysen jener Prozesse, die zum partiellen Scheitern der Idee der unteilbaren Integration geführt haben sowie das zukünftige Gelingen der noch offenen Transformationsprozesse auf der pädagogisch-didaktischen und der gesellschaftspolitischen Ebene.
Und damit sind wir beim Hauptanliegen des vorliegenden Bandes: Kulturhistorische Begründungszusammenhänge für den momentanen Stand der Entwicklung und die notwendige Weiterentwicklung von Theorie und Praxis eines nicht selektiven Bildungssystems zusammenzustellen, inhaltliche Diskussionen aufzuzeigen, Konzepte vorzustellen, zentrale Begriffe zu diskutieren und somit einen „Beitrag zur Behindertenpädagogik als reflexive Wissenschaft“ zu liefern (14). Dieses Vorhaben kann als durchaus Gelungen bezeichnet werden. In insgesamt vier Abschnitten finden sich zusammengefasst Grundaussagen bekannter Arbeiten von Vygotzkij, Leont’ev, Galperin, Luria, Feuser und Jantzen, erweitert um bisher weniger rezipierte Literatur (z.B. Davydov, El’konin) und um die vielfältigen individuellen Zugänge der Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Italien, Spanien, Russland, Großbritannien und Norwegen.
Im ersten Abschnitt wird der Fokus auf die „Wissenschaft und soziale Strukturen“ gelegt. Neben der bereits erwähnten Begriffsdiskussion findet sich ein Beitrag von Seth Chaiklin, der zuerst die Besonderheiten kulturhistorischer Forschung beschreibt und dann vehement für einen gemeinsamen und internationalen Dialog eintritt: „There is a need for so called ‚special education’ researchers to be included within the general community of cultural-historical researchers“ (26). Andrea Canevaro beschreibt den Integrationsprozess in der Region Emilia-Romagna von seinen Wurzeln her mit dem Schwerpunkt der Öffnung und Reorganisation von Institutionen durch die Aufwertung der sozialen Rollen und dem Einsatz von Vermittlern. Im Beitrag „Learning in and for cross school working“ wird ein Forschungsprojekt zur Kooperation zwischen einer Sonderschule, vier Sekundarschulen und kreativen Institutionen (z.B.: Galerien, Museen) vorgestellt.
Im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts stehen grundsätzliche Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Entwicklung und Unterricht, zwischen interpsychischem Vorhandensein und intrapsychischem Aufbau der höheren kognitiven Funktionen. Zuerst zeigt Wolfgang Jantzen aufgrund näherer Analysen des Spätwerks von Vygotzkij, dass mit der Zone der nächsten Entwicklung mehr gemeint ist als „jener Bereich, in dem ein Kind das, was es noch nicht kann, mit Hilfe anderer vollbringt“ (97). Anschließend stellt der Herausgeber des Bandes das Konzept des entwickelnden Unterrichts und seine Verbindungen zur kulturhistorischen Schule und der integrativen Pädagogik vor. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stehen didaktische Momente, die den Individuen Lerntätigkeiten zur Aneignung der Umwelt auf dem Niveau der jeweiligen Entwicklung ermöglichen.
Neben der bekannten kulturhistorischen Kritik an Schonraumpädagogik und Reduktionismus der Sonderschulen stellt Siebert bis dato kaum rezipierte Arbeiten von Davydov und El’konin vor, „die in umfassender Weise die Erforschung von Grundfragen der psychologischen Didaktik beinhalten, die in der entwicklungslogischen Didaktik jedoch zunächst wenig Berücksichtigung fanden“ (110). Im Zentrum steht die Ausbildung des begrifflichen Denkens durch theoretische Verallgemeinerung, die als „Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten“ bezeichnet und als Lerntätigkeit über eine Reihe von Lernhandlungen umgesetzt wird (122). Als mögliche Methoden werden spielerisches, erforschendes, entdeckendes Lernen, die eigenständige Konstruktion neuer Lernaufgaben und die Dramatisierung genannt. Wie beim Konzept der entwicklungslogischen Didaktik Georg Feusers wird aber auch bei Siebert die Frage einer praktikablen Umsetzung des entwickelnden Unterrichts auf notwendige weitere Forschungen verschoben (127). Den Abschluss dieses Abschnitts bilden die Überlegungen Manfred Jödeckes, der für das Schulalter, die Pubertät und die Adoleszenz Entwicklungsdynamiken auf der Basis des von El’konin kreierten Modells der Periodisierung der Alterstufen skizziert.
Die nächsten vier Beiträge setzen sich intensiv mit Fragen der „Diagnostik und Kompensation“ auseinander. Reimer Kornmann stellt sein in langjähriger Berufserfahrung entwickeltes förderdiagnostisches Konzept auf der Basis der Tätigkeitstheorie vor. Die Kompensation von Lernschwierigkeiten über Interiorisation im Rahmen der „Schule der Aufmerksamkeit“ steht im Mittelpunkt des russischen Beitrags.
Willehad Lanwer macht die integrierte Therapie im Rahmen der gemeinsamen Erziehung und Bildung zum Gegenstand seines Beitrages. Dabei stützt er sich einerseits auf Feusers Integrationskonzept und andererseits auf seine praktischen Erfahrungen als Physiotherapeut in integrativen Settings. Als wesentliche Aufgabe der integrierten Physiotherapie sieht er nicht das Ziel der „Bereicherung des Bewegungsrepertoirs, sondern die Erweiterung der Gebrauchsstrategien“ (192ff).
Die rehistorisierende Diagnostik nach Jantzen steht gemeinsam mit der Theorie Bourdieus im Zentrum der grundlegenden Auseinandersetzung Kerstin Ziemens mit dem Kompetenzbegriff. Sie arbeitet heraus, dass Diagnostik nicht in einem individuellen Kompetenzbeschreibungskatalog enden kann, sondern auch biografische Aspekte, Syndromanalyse und momentanes Umfeld des Kindes berücksichtigen muss. Ziel muss sein, anstelle von Einzelmaßnahmen „entsprechende pädagogisch-didaktische Ideen abzuleiten, die letztendlich Möglichkeits- und Begegnungsräume für Entwicklung darstellen“ (206).
Im vierten Abschnitt finden sich sechs Beiträge zur „Pädagogik und Didaktik“ im vorschulischen und schulischen Bereich auf der Basis langjähriger Praxis der Autor/innen. Christel Manske nimmt die handlungsorientierte Unterrichtung von Kindern mit Down-Syndrom als Anlass, Grundsätze zum Gemeinsamen Lernen aller Kinder zu beschreiben, bei dem auch die Differenz anerkannt wird. Die beiden nächsten Beiträge zeigen praktische Umsetzungsmöglichkeiten der kulturhistorischen Theorie in der vorschulischen Erziehung in Bremen bzw. St. Petersburg.
Das Spiel nimmt auch eine wichtige Rolle im Beitrag von Sigrid Heinze ein, die mit kulturhistorischen Konzepten den entwickelnden Erstunterricht darstellt, bevor Andre Zimpel sein Konzept der Gegenstandsanalyse vorstellt, das sich von der Sachanalyse insofern abgrenzt, indem es nicht die objektive Bedeutung sondern den subjektiven Sinn analysiert. „Ergebnis einer Sachanalyse ist die innere Differenzierung des Unterrichtsstoffes nach Lernvoraussetzungen (dem von außen festgestellten unterschiedlichen Förderbedarf); Ergebnis der Gegenstandsanalyse ist die innere Differenzierung des Stoffes nach Lernmotiven auf verschiedenen Zeichenebenen (dem tatsächlich inneren Bedürfnis nach Orientierung)“ (297).
Den Abschluss bildet der Beitrag von Lopez Melero, der nochmals ausführlich die wichtigsten Aussagen der kulturhistorischen Schule zusammenfasst und (s)eine Schule ohne Ausschluss, entwickelt und evaluiert im Projekt ROMA, vorstellt.
Der vorliegende Band kann in der Summe als ein wichtiger Beitrag zur Umsetzung einer nicht selektiven Pädagogik und eines nicht selektiven Bildungssystem auf der Basis der Kulturhistorischen Theorie gesehen werden. Vielfältige Zugänge erlauben eine tiefere Durchdringung der Theorie und geben so Ansätze und Beispiele zur praktischen Umsetzung. Bezüge zur Praxis beschränken sich allerdings auf den vorschulischen und frühen schulischen Bereich. Die wesentlichen Elemente einer integrativen Pädagogik werden umfassend kulturhistorisch begründet und analysiert. Dementsprechend wird der Band seinem eigenen Anspruch gerecht, ein Beitrag zur Behindertenpädagogik als eine reflexive Wissenschaft zu sein. Besonders wertvoll ist die Erweiterung der deutschsprachigen Diskussion um viele Beiträge aus anderen Ländern. Die drei englischsprachigen Artikel sind auch sprachlich gut zu lesen.
EWR 10 (2011), Nr. 2 (März/April)
Integrative Pädagogik und die Kulturhistorische Theorie
Frankfurt/Main: Peter Lang 2010
(338 S.; ISBN 978-3-6315-5520-0; 34,00 EUR)
Ewald Feyerer (Linz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Ewald Feyerer: Rezension von: Siebert, Birger (Hg.): Integrative Pädagogik und die Kulturhistorische Theorie. Frankfurt/Main: Peter Lang 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.04.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363155520.html
Ewald Feyerer: Rezension von: Siebert, Birger (Hg.): Integrative Pädagogik und die Kulturhistorische Theorie. Frankfurt/Main: Peter Lang 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.04.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978363155520.html