Ein erbauliches Sachbuch, gut und rasch zu lesen, das sich gegen das diagnostizierte aktuelle Nützlichkeitsdenken in der Bildungsdebatte wendet und als Gewährsleute für einen anderen Umgang mit Bildung und Lernen Autoren des 18. Jahrhunderts und deren pädagogische Texte heranzieht. Nicht zu leugnen ist, dass auch das 18. Jahrhundert eine Zeit großer Umbrüche war; Parallelisierungen zur Gegenwart sind allerdings gewagt, weil die Kontexte, in denen die Aufklärungspädagogik formuliert wurde, andere waren als die, deren Zeitgenossen wir sind. Der Autor bezeichnet die „zentralen pädagogischen Ansichten der Aufklärer“ (17) als unser „unaufgebbares pädagogisches Erbe der Aufklärung“ (19). Sie sollen präsentiert werden, um aus der Geschichte zu lernen, wie man sich mit dem Lernen und der Bildung anders als über „employability“ etc. verständigen kann.
Overhoff arbeitet darum anhand von zehn Aufklärern und einer Aufklärerin – John Locke, Joseph Addison, Hermann Samuel Reimarus, Johann Jakob Bodmer, Christian Fürchtegott Gellert, Benjamin Franklin, Jean-Jacques Rousseau, Johann Bernhard Basedow, Moses Mendelssohn, Mary Wollstonecraft und Immanuel Kant – elf für das Lernen bedeutsame Eigenschaften heraus: Wissbegierde, Anschauung, Vernunft, Einbildungskraft, Aufrichtigkeit, Gemeinnützigkeit, Mitgefühl, Toleranz, Gottvertrauen, Chancengleichheit sowie Selbstdisziplin [1].
Mag dies als bildungspolitisch inspirierter Essay hingehen, ist doch der Ansatz wissenschaftlich problematisch. Brüche werden nicht thematisiert, auch nicht die mit der Aufklärungspädagogik zumal in Deutschland immer auch verbundene Debatte um den Nutzen von Lernen und Bildung zwischen individueller Glückseligkeit und der Schaffung von leistungsfähigen Untertanen. Dass auch bei Locke und den anderen hier genannten Autoren eine bürgerliche Zwecksetzung, sprich Arbeitsfähigkeit, jenseits des individuellen Glücks vorhanden war, wird am Ende zwar zugestanden, aber doch eher beiläufig. So ist auch dieses Buch ein Beispiel dafür, was geschieht, wenn man die wissenschaftlichen Gefilde verlässt und sich in die aktuellen Debatten einmischt: Die Differenziertheit der (bildungshistorischen) Forschungserkenntnisse geht zugunsten einer leicht nachvollziehbaren, publikumswirksamen Aussage verloren. Dass dem Leser, auch mir, einiges davon sympathisch ist, ändert an diesem Grundproblem der Popularisierung wenig.
Soll man darum solche Bücher nicht schreiben? Die Antwort kann im Allgemeinem und im Besonderen lauten: Nein. Allgemein gilt, dass sich Wissenschaften nicht aus dem öffentlichen Diskurs ausklinken sollten. Von daher sind Sachbücher und Zeitungsartikel auch von Bildungshistorikern sinnvoll und nötig, sollten sich aber des Problems der Popularisierung bewusst sein. Diese Reflexion wird aber oft ausgelassen und stattdessen „Wahrheit“ verkauft, so auch hier. Im Besonderen ist aber festzuhalten, dass es wesentlich schlechtere pädagogische Popularisierungstexte gibt als diesen.
[1] Dass im Klappentext daraus unter Hinzuziehung der Neugier, die in der Tradition des pädagogischen Denkens doch eher negativ konnotiert ist, zwölf gemacht werden, entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
EWR 9 (2010), Nr. 6 (November/Dezember)
Vom Glück, lernen zu dürfen
Für eine zweckfreie Bildung
Stuttgart: Klett-Cotta 2009
(272 S.; ISBN 978-3-6089-4171-5; 22,90 EUR)
Klaus-Peter Horn (Tübingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Klaus-Peter Horn: Rezension von: Overhoff, Jürgen: Vom Glück, lernen zu dürfen, Für eine zweckfreie Bildung. Stuttgart: Klett-Cotta 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978360894171.html
Klaus-Peter Horn: Rezension von: Overhoff, Jürgen: Vom Glück, lernen zu dürfen, Für eine zweckfreie Bildung. Stuttgart: Klett-Cotta 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 6 (Veröffentlicht am 08.12.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978360894171.html