Die Lebensreformbewegungen des späten 19. Jahrhunderts und frühen 20. Jahrhunderts gelten in der historischen Forschung als kulturelle Strömung, die auf die rasanten gesellschaftlichen Umbrüche in der aufkommenden Hochmoderne um 1900 reagierte – etwa mit dem Rückbezug auf Formen des „naturgemäßen Lebens“ [1]. Erst in Ansätzen ist das Fortwirken der Lebensreform und ihrer verschiedenen Schattierungen sowie ihre Rezeption durch andere gesellschaftliche Bewegungen im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts in den Blick genommen worden [2]. Die Historikerin Eva Locher nimmt sich in ihrer Dissertation dieses Desiderats an und fragt nach der Entwicklung lebensreformerischer Ansätze in der Schweiz in den Jahrzehnten nach 1945.
Um es vorwegzunehmen: Eva Locher hat eine herausragende Studie vorgelegt, die die Entwicklung des „lebensreformerischen Milieus“ (36) entlang von drei Teilströmungen (Ernährungsreform, Naturheilkunde, Freikörperkultur), ihrer Organisationen und Akteur:innen sowie Praktiken und Diskurse in den Blick nimmt. Dabei macht nicht nur der gewählte Untersuchungszeitraum die Innovativität der Arbeit aus. Diese besticht auch durch den Blick auf die Wechselwirkungen zwischen der Lebensreform und anderen politisch-kulturellen Strömungen, die Verknüpfung nationaler mit transnationalen Entwicklungen und den Einbezug generationeller Dimensionen.
Im ersten Abschnitt untersucht Locher die Ernährungsreform primär anhand der Figur Ralph Birchers, der das Erbe seines Vaters Maximilian Bircher-Benner in Form der „Vollwertkost“ fortzuschreiben suchte. Dabei wird ein Muster deutlich, das sich auch in anderen Teilströmungen der Lebensreform zeigte: So knüpfte man an tradierte reformerische Vorstellungen und Strukturen an, passte diese aber an gewandelte gesellschaftliche Kontexte an, um sie erfolgreich zu popularisieren. Mit ihrer konservativen Kulturkritik und der Propagierung spezifischer Verzichtspraktiken kultivierten Reformer:innen wie Bircher ein Unbehagen am einsetzenden Massenkonsum der Nachkriegsjahrzehnte. Dabei arbeitet Locher anschaulich heraus, wie auch Projektionen auf angeblich gesunde und von „vollwertiger Ernährung“ (114) lebende „fremde Völker“, wie die in einer pakistanischen Bergregion ansässigen Hunzukuc, aufgegriffen wurden, um die eigenen Ernährungspraxen und -diskurse zu legitimieren. Etwas blass bleiben in diesem Abschnitt die Ausführungen zu den Reformhäusern und der Reformwarenindustrie, deren Erfolgsgeschichte und aufkommende wirtschaftliche Probleme Locher zwar konzise, aber nur überblicksartig behandelt (124-131).
Der zweite Abschnitt des Buches nimmt die Naturheilkunde bzw. verschiedene Aspekte von Gesundheit in den Blick, wobei primär der „Schweizer Verein für Volksgesundheit“ (SVVG) im Zentrum der Darstellung steht. Diese 1941 aus dem „Schweizer Verband der Naturheilvereine“ hervorgegangene Organisation warnte vor „Zivilisationskrankheiten“ und propagierte naturheilkundliche Behandlungen. Seit den 1950er Jahren expandierte der Verein rapide, so dass ihm 1980 rund 38.000 Mitglieder angehörten. Zur individuellen Lebenshilfe und „Arbeit am Selbst“ (168), die mit Narrativen der Rettung legitimiert wurde, rieten auch Lebensreformer:innen wie der Publizist Ernst Steiger. Locher zeigt, dass solche Narrative auch eine religiöse Dimension aufwiesen. Unter Rückgriff auf Foucaultsche Konzepte analysiert sie die entsprechende Ratgeberliteratur, die „Wege zur positiven Lebensgestaltung“ und „Selbstentfaltung“ (177) propagierte und damit zu Formen der Subjektivierung beitrug, die seit den 1970er Jahren hegemonial wurden. Eine entsprechende Verflechtung mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, zu denen die Lebensreform beitrug, von denen sie aber auch beeinflusst wurde, zeigt Locher auch mit Blick auf neu aufkommende Themen wie die Gefährdung durch Pestizide oder die Atomkraft.
In partieller Abkehr von ihrer ausschließlichen Orientierung auf das Individuum bezogen lebensreformerische Organisationen wie der SVVG zu diesen Fragen politisch Position und gingen Bündnisse mit anderen gesellschaftlichen Akteur:innen ein. Dabei kam es zum Rekurs auf Topoi der Neuen Rechten, aber auch zur Kooperation mit Teilen des linksalternativen Milieus. Am Beispiel alternativer Kommunen zu Beginn der 1970er Jahre, der „Bärglütli“, die den Kontakt zu lebensreformerischen Aussteiger:innen suchten, aber auch der Rezeption reformerischer Konzepte von biologischem Landbau durch Alternative zeigt Locher Interaktionen und Transferprozesse zwischen beiden Milieus auf (241-257). Dabei betont sie auch die Differenzen, etwa was Alter und soziale Stellung angeht, sowie kontroverse Positionen bezüglich des Konsums von Drogen (92-95) oder Sexualität (336-338).
Schließlich beleuchtet Eva Locher im dritten Abschnitt ihrer Arbeit die Freikörperkultur (FKK) und entsprechende Vereine und Verbände wie die „Organisation von Naturisten in der Schweiz“ (ONS), deren Wurzeln in den 1920er Jahren lagen. Als lebensreformerische Praxis entstanden, entwickelte sich die Freikörperkultur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Massenbewegung. Trotz des Anstiegs ihrer Mitgliederzahlen in den 1960er Jahren sahen sich die in der ONS zusammengeschlossenen Vereine damit konfrontiert, dass die steigende Popularität der FKK, die mit dem Boom des Nacktbadens an touristischer Bedeutung gewann, mit einem Verlust ideeller Aufladung einherging. So wandten sich große FKK-Organisationen etwa in Deutschland und Frankreich von reformerischen Vorstellungen ab. Locher zeigt, wie die ONS hier einen Kontrapunkt bildete und aus der Defensive heraus an einer internationalen Vernetzung Gleichgesinnter arbeitete.
Auf Basis einer Analyse der Mitgliederkartei der ONS arbeitet sie heraus, dass sich die FKK-Anhänger:innen primär aus gebildeten Angehörigen der Mittelschichten rekrutierten. Seit den 1970er Jahren sahen sich lebensreformerische Organisationen allerdings zunehmend in einer Krise, Vereinsbeitritte stagnierten. Auf entsprechende Probleme reagierten sie mit Projekten wie der Zeitschrift „Regeneration“, die unterschiedliche Felder der Lebensreform adressierte und vor einer Reduzierung dieser auf ein bloßes Hobby und „Sonntagsproblem“ (311) warnte. Im letzten Teil des dritten Abschnitts interpretiert Locher schließlich Nacktfotografien aus der ONS-Zeitschrift als visuelle Quellen, auf deren Grundlage sie Einstellungen der Lebensreformer:innen zu Körpern, Sexualität und Gesundheit herausarbeitet.
Eva Locher ist es mit ihrer Studie gelungen, ein breites Panorama lebensreformerischer Aktivitäten, Strukturen und Diskurse in der Schweiz der Nachkriegsjahrzehnte zu zeichnen. Mit einer Vielfalt an methodischen Zugängen beleuchtet sie Protagonist:innen der Lebensreform und folgt der Entwicklung der Milieustrukturen. Dabei zeigt sie sowohl die Kontinuität lebensreformerischer Ansätze auf als auch die zeitgenössische Aktualisierung und Reformulierung entsprechender Diskurse mit Blick auf neue gesellschaftliche Entwicklungen. Die thematische Gliederung der Studie ist nachvollziehbar, führt jedoch dazu, dass sich die großen Linien der Entwicklung erst nach und nach erschließen. So folgte auf einen Aufschwung der Lebensreform in den 1950er und 1960er Jahren – offensichtlich eine Reaktion primär bürgerlicher Akteur:innen auf Phänomene wie Wirtschaftswachstum und Massenkonsum – im letzten Viertel des Jahrhunderts eine organisatorische Krise. Paradoxerweise, und das zeigt Locher sehr anschaulich, ging dieser Verlust an Anziehungskraft der lebensreformerischen Strukturen im engeren Sinne einher mit einer Popularisierung ihrer Praktiken, von der vegetarischen Ernährung bis zur Freikörperkultur. Dazu trugen auch Transferprozesse in die breitere Öffentlichkeit bei, die etwa über das alternative Milieu verliefen – ein Feld, an das künftige Forschungen anschließen könnten.
[1] Vgl. die Überblicksdarstellungen von Wedemeyer-Kolwe, B. (2017). Aufbruch! Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt: WBG 2017. von Zabern, Ph., Kerbs, D. & Reulecke, J. (1998). Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933. Hammer. Barlösius, E. (1997). Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende. Campus.
[2] Vgl. Fritzen, F. (2006). Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert. Steiner. Für einen diachronen Vergleich, aber auch zu Transfers zwischen Lebensreform und Alternativmilieu: Siegfried, D. & Templin, D. (2019). Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert. V&R unipress.
EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)
NatĂĽrlich, nackt, gesund
Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945
Frankfurt/New York: Campus 2021
(426 S.; ISBN 978-3-593-51342-3; 45,00 EUR)
David Templin (OsnabrĂĽck)
Zur Zitierweise der Rezension:
David Templin: Rezension von: Locher, Eva: NatĂĽrlich, nackt, gesund, Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945. Frankfurt/New York: Campus 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978359351342.html
David Templin: Rezension von: Locher, Eva: NatĂĽrlich, nackt, gesund, Die Lebensreform in der Schweiz nach 1945. Frankfurt/New York: Campus 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978359351342.html