„Sweet Bird of Youth“ – die bürgerliche Jugendbewegung ist seit langem ein bevorzugter Gegenstand der Historischen Erziehungswissenschaft. Umso bemerkenswerter, wenn man es dennoch vermag, dem Thema neue Erkenntnisse abzuringen. Antje Harms gelingt das, indem sie sich nachdrücklich von der Legende einer unpolitischen Jugendbewegung distanziert, an der nicht zuletzt die Historiografie mitgestrickt habe. Im Folgenden beschränke ich mich darauf, Ansatz, Aufbau und Argumentation ihrer umfangreichen Arbeit zu diskutieren.
In ihrer vergleichend angelegten Studie, die auf einer 2018 an der Universität Freiburg angenommenen Dissertation beruht, befasst sich Harms mit Gruppen und Einzelpersonen, die sich klar im linken oder rechten Lager positionierten. Damit zusammen hängt ein zeitlicher Fokus auf die sogenannte freideutsche Phase von 1913 bis 1923, deren politische Heterogenität weder zuvor beim Wandervogel noch danach in der bündischen Jugend vorzufinden war. Harms verortet ihre Arbeit in der historischen Sozialisationsforschung und erweitert deren Perspektive um Ansätze aus der Generationen- und Geschlechter-, Sozial- und Kulturgeschichte. Methodisch legt sie eine Kollektivbiografie vor, für die sie ein nicht-repräsentatives Sample von hundert Personen erstellt hat: linken wie rechten, männlichen wie weiblichen, bekannten wie unbekannten. Das Quellenkorpus setzt sich vorrangig aus Egodokumenten, ergänzt um weiteres Archivmaterial und publizierte Quellen, zusammen.
Die Arbeit besteht aus drei Teilen. Der erste ist organisations- und ideengeschichtlich und gibt einen Überblick zur 1913 auf dem Hohen Meißner gegründeten Freideutschen Jugend. Diese fungierte als Sammelbecken für Gruppierungen mit höchst unterschiedlichen Weltanschauungen. Obwohl sie zahlenmäßig kleiner als der Wandervogel war, übte sie großen Einfluss auf die Jugendbewegung in toto aus. Im Mittelpunkt steht ansonsten das politische Selbstverständnis diverser Verbände, Zeitschriften und Netzwerke, die trotz gegensätzlicher Standpunkte der Freideutschen Jugend angehörten oder nahestanden. Geteiltes Merkmal der jugendbewegten Rechten war ihre dezidiert völkische, bisweilen offen antisemitische Gesinnung, die im Zweifelsfall die Nation der Generation vorzog. Im Kontrast dazu forderte die linke Strömung, die zunächst deckungsgleich mit der Jugendkulturbewegung um Gustav Wyneken war und der so illustre Personen wie Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld angehörten, vornehmlich die Autonomie der Jugend sowie eine weitreichende Schulreform. Erst infolge staatlicher Repressionen sei aus ihrem Unbehagen an der wilhelminischen Gesellschaft ein politisches Bewusstsein erwachsen.
Harms schafft es, die politische Heterogenität der bürgerlichen Jugendbewegung anschaulich darzulegen. Der konzeptionelle Rahmen ruft indes Widerspruch hervor. Obwohl sie in einem Kapitel die Fallstricke politischer Kategorisierungen erörtert, folgt sie unbesehen einem extremismustheoretischen Hufeisenmodell, wie der plakative Titel demonstriert. Allerdings deckt sich diese Prämisse nicht mit ihren Befunden. Wie Harms selbst ausführt, war die vermeintliche Mitte alles andere als demokratisch, sondern vertrat ebenfalls völkisch-nationalistische Sichtweisen, nur dass sie diese nicht als politisch wahrnahm. Das hielt sie aber nicht davon ab, zusammen mit offen rechten Gruppierungen zeitweilig linke Akteur:innen aus der Freideutschen Jugend hinauszudrängen.
Im zweiten Teil widmet sich die Studie der politischen Sozialisation im Kaiserreich. Vermittels des erwähnten Samples untersucht Harms zunächst die Sozialstruktur. Wenngleich nicht alle Ergebnisse unerwartet sind, vermitteln sie einen differenzierteren Blick auf die bürgerliche Jugendbewegung, deren soziales Profil vielschichtiger war als gemeinhin angenommen. In Bezug auf die politische Sozialisation wird die soziokulturelle Prägung allem voran durch die Familie akzentuiert. Trotz der Kritik am Bürgertum seien die Jugendlichen von dessen Werten nachhaltig beeinflusst worden. Das Gros der Protagonist:innen habe sogar die politische Orientierung seiner Eltern übernommen, womit Harms sowohl die These des Generationenkonflikts als auch die des unpolitischen deutschen Bürgertums relativiert.
Entscheidend für die Politisierung sei allerdings die jugendbewegte Subkultur gewesen. Erst durch sie sei eine kollektive Identität in Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft entstanden, die auf einem geteilten Habitus, spezifischen sozialen Praktiken und der Erfahrung von Gemeinschaft beruhte. Dies habe zu einem kritischen Bewusstsein geführt, das bei den politischen Rändern, so Harms, durch das Eintreten für Deutschtum respektive Jugendkultur gewachsen sei. Die subkulturelle Prägung eigener Normen habe auch die Geschlechterrollen betroffen. Bei der öffentlich erregt diskutierten Frage adoleszenter Sexualität vertraten die beiden Strömungen gleichwohl abweichende Positionen. Während man auf der Linken ein Recht auf jugendliche Erotik einklagte, hielt man auf der Rechten zu strenger Abstinenz an. Obschon das Kapitel zu den spannendsten zählt, mangelt es mitunter an einer intensiveren Auseinandersetzung mit der sexualitätsgeschichtlichen Forschung. Dies mag dem Beharren auf einer lebensweltlichen Perspektive geschuldet sein, deren Augenmerk weniger der breiten Kontextualisierung sowie der Performativität des Sexualitätsdiskurses und dessen Ambivalenzen gilt.
Der dritte Teil befasst sich mit Kriegserfahrungen und -deutungen sowie Reaktionen auf die Revolution. Der Erste Weltkrieg traf die Jugendbewegung unvorbereitet, entfachte aber bis in die Linke Begeisterung, nicht zuletzt, weil er sich mit eigenen Deutungsmustern des gemeinschaftlichen Aufbruchs der Jugend in eine neue Zeit vereinbaren ließ. Die Realität des modernen Krieges habe allerdings rasch zu Enttäuschungen geführt. Relevanter für die Politisierung war Harms zufolge die „Heimatfront“, wo sich das zunehmende Engagement des rechten Flügels auf den „Kampf gegen den inneren Feind“ konzentrierte, während sich links pazifistische Initiativen formierten bis hin zur illegalen Unterstützung von Deserteuren. Entsprechend begrüßte die linke Jugendbewegung den politischen Umsturz, an dem viele aktiv teilnahmen. Die rechte Jugendbewegung reagierte auf die Kriegsniederlage ihrerseits mit einer Radikalisierung, und aus ihren Reihen zog es nicht wenige zu den Freikorps. Allerdings entfremdete sich auch ein Teil der Linken mit der Zeit von der Republik und schloss sich der KPD an. Eine besondere Enttäuschung habe für sie der Weimarer Schulkompromiss dargestellt, mit dem lange gehegte Hoffnungen auf eine umfassende Schulreform endgültig erledigt schienen.
Zwei Punkte sind abschließend anzumerken. Zum einen ist die breitere Einordnung der Ergebnisse in eine Neubewertung des Kaiserreichs, wie sie zurzeit in der Geschichtswissenschaft mit lange nicht gesehener Schärfe diskutiert wird, nicht immer überzeugend. So sprechen etwa Harms Befunde zur Schule eher für das angeblich antiquierte Bild einer „autoritären Matrix“ (Hans-Ulrich Wehler) der wilhelminischen Gesellschaft. Zum anderen eröffnet der Blick von den Rändern zwar eine frische Perspektive, aber um den Preis eines blinden Flecks, denn die vermeintlich unpolitische Mitte der Jugendbewegung wird so nur schemenhaft erkennbar. Hier ist weitere Forschung erforderlich. Ungeachtet dieser Einwände hat Antje Harms eine detailreiche, gut zu lesende und thesenstarke Studie vorgelegt, die historisch interessierten Leser:innen zur Lektüre empfohlen ist.
EWR 20 (2021), Nr. 4 (Juli/August)
Von linksradikal bis deutschnational
Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik
(Geschichte und Geschlechter, Bd. 76)
(Geschichte und Geschlechter, Bd. 76)
Frankfurt am Main/New York: Campus 2021
(580 S.; ISBN 978-3-5935-1292-1; 49,00 EUR)
Jens Elberfeld (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jens Elberfeld: Rezension von: Harms, Antje: Von linksradikal bis deutschnational, Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik (Geschichte und Geschlechter, Bd. 76). Frankfurt am Main/New York: Campus 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978359351292.html
Jens Elberfeld: Rezension von: Harms, Antje: Von linksradikal bis deutschnational, Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik (Geschichte und Geschlechter, Bd. 76). Frankfurt am Main/New York: Campus 2021. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978359351292.html