Mit dem Titel „Diagnostizieren, Fordern und Fördern“ greifen Paradies, Linser und Greving ein derzeit nicht nur (schul-)pädagogisch sondern auch schulpolitisch gängiges Vokabular auf. Der im Zusammenhang mit der PISA 2000 Studie offenkundig gewordene Mangel an diagnostischer Kompetenz von Lehrkräften führte zu verschiedenen schulpolitischen Forderungen, welche ihrerseits Fragen der Umsetzung und Machbarkeit bei Lehrkräften aufwarfen. So stehen einige Lehrkräfte und gar manche Kollegien vor den Fragen, auf welche Weise was überhaupt diagnostiziert, wie es dokumentiert und welche Art von Förderung durchgeführt werden kann und soll. In diese zugleich marktwirtschaftliche und berufsbezogenes Wissen betreffende Lücke zielt das Versprechen der Entlastung durch „zahlreiche Kopiervorlagen, die sofort im Unterricht eingesetzt werden können“ (Umschlagstext). Die Autoren wollen den Weg zur von ihnen „gewünschten ‚Diagnose-, Förder- und Forderschule’“ (120) ebnen, der nach ihrem Verständnis über „die notwendige Reform unserer ‚Leistungsschule’“ (9) führt. Einen Beitrag dazu leisten schulinterne Programme und Curricula ebenso wie je nach Bundesland die „Profilschule“, die „eigenverantwortliche Schule“ usw. Die Autoren wenden sich an Praktiker. Was bietet das Buch?
Der 192seitige Text, den mehrere erläuternde Skizzen und Abbildungen ergänzen, ist in sieben Kapitel, eine vierseitige Literaturliste und ein dreiseitiges Register untergliedert. Während die Einleitung in das Themenfeld einführt, erwarten den Leser im zweiten Kapitel „Grundlagen für die Diagnose, zum Fördern und zum Fordern“. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der „Diagnosekompetenz“ auf Seiten der Lehrkräfte, während das vierte Kapitel die „Lernkompetenz“ von Schülern anspricht. Im fünften Kapitel äußern sich die Autoren zu Test- und Beobachtungsverfahren. Damit endet die eher theoretische Auseinandersetzung und es folgen zwei „Praxiskapitel“, die auf über 70 Seiten oben erwähnte Kopiervorlagen und Kriterienkataloge sowohl für die „Schülerselbstbeobachtung und –wahrnehmung“ (Kap. 6) als auch für die „Arbeit mit Lernplänen und Lernvereinbarungen“ (Kap. 7) bieten. Außerdem werden exemplarisch Auszüge aus Schulprogrammen und aus fach- sowie jahrgangsbezogenen Arbeits- und Themenplänen ausgewählter Schulen dargestellt.
Für Lehrkräfte, die rasch einsetzbares Material suchen, sind möglicherweise die „Praxiskapitel“ von besonderem Interesse. Immerhin handelt es sich um eine Zusammenstellung mutmaßlich erprobter Pläne, Bögen oder Listen, die sich teilweise – allerdings mühevoller – in ähnlicher Form auch aus Internetpublikationen z.B. der Bildungsserver oder einzelner Schulen zusammensuchen ließen. Dadurch mag die Hürde relativ niedrig sein, um mit dem „Diagnostizieren, Fordern und Fördern“ zu beginnen. Jedoch lassen Ankündigungen von Kopiervorlagen in Büchern, die sich mit theoretischen Grundlagen befassen (sollten), in manchem Ohr Alarmglocken erklingen. Mit Blick auf die Auswahl bzw. Nichtauswahl bestimmter Kriterien kann man über die Zusammenstellung einiger Kopiervorlagen trefflich streiten. Damit ist das Buch keineswegs diskreditiert, denn solche Diskussionen können die Qualität künftiger auf Förderung ausgerichteter Arbeit durchaus erhöhen. Zudem weisen die Autoren von sich aus auf die Möglichkeit der Abwandlung Ihrer Vorschläge hin.
Eine andere Kritik wiegt dagegen schwerer. Die vereinfachte Darstellung der Folgerungen aus Ergebnissen aktueller Schulleistungsstudien könnte das Verständnis erleichtern. Die Darstellung der vom Niedersächsischen Kultusministerium vertretenen Auffassung von einer „Dokumentation der individuellen Lernentwicklung“ mag sinnvoll und die äußerst knapp angeführten „Grundlagen“ mögen hinreichend sein, wenn man bei der Lesart einer möglichst niedrigschwelligen Hürde für vermeintlich theorieferne Praktiker bleibt. Doch diese Form der Aufbereitung steht einer systematischen Darbietung pädagogischer Diagnostik entgegen. Für ein tiefer gehendes Verständnis kommen zudem die Thematisierung des Menschenbildes – sowohl vom Diagnostizierten als auch des Diagnostizierenden selbst – und die Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden Normen sehr kurz.
Studierenden und Lehrkräften empfehle ich das Buch trotz der angesprochenen Monita zur kritischen Lektüre. Das Buch kann andere Werke zur pädagogischen Diagnostik sicher nicht ersetzen. Aber es bietet hilfreiche Anregungen für einen praxisnahen Zugang zu dieser Thematik. Von seiner Anlage her nicht auf ein bestimmtes Unterrichtsfach bezogen, hält es allgemeine Informationen zur Erhebung, Analyse und Interpretation diagnostischer Daten und zur Planung sowie Evaluation von Sequenzen zum Fordern und Fördern bereit. Es ermöglicht, am Verständnis einer professionellen Lernprozessbegleitung zu arbeiten. Inwiefern dies entlastend wirkt, müssen die Lehrkräfte in ihren „Diagnoserealitäten ‚vor Ort’“ (17) entscheiden.
EWR 6 (2007), Nr. 2 (März/April 2007)
Diagnostizieren, Fordern und Fördern
Berlin: Cornelsen Scriptor 2007
(192 S.; ISBN 978-3-589-22167-7; 16,95 EUR)
Daniel Blömer (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Blömer: Rezension von: Paradies, Liane / Linser, Hans Jürgen / Greving, Johannes: Diagnostizieren, Fordern und Fördern. Berlin: Cornelsen Scriptor 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978358922167.html
Daniel Blömer: Rezension von: Paradies, Liane / Linser, Hans Jürgen / Greving, Johannes: Diagnostizieren, Fordern und Fördern. Berlin: Cornelsen Scriptor 2007. In: EWR 6 (2007), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978358922167.html