Auch wenn sich in jüngsten erziehungswissenschaftlichen Veröffentlichungen ein verstärktes Interesse an der religiösen Dimension von Pädagogik andeutet, so kann doch insgesamt kein Zweifel darüber bestehen, dass die Selbstverständlichkeit, mit der Religion noch vor einem halben Jahrhundert pädagogisch thematisiert werden konnte, heute der Vergangenheit angehört. Auf diese irreversible Verschiebung in der erziehungswissenschaftlichen Reflexionsanlage reagiert der vorliegende Band. Wie die Herausgeber – ein katholischer und ein evangelischer Religionspädagoge – im knappen Vorwort darlegen, liegt ihm die Intention zugrunde, die fraglich und diffus gewordene Stellung der Religion in der pädagogischen Theorielandschaft präziser zu kartographieren. Das ist umso mehr zu begrüßen, als der Band auch hält, was der Untertitel verspricht: Das positionelle Spektrum der 13 Stellungnahmen, die mehrheitlich aus der Feder von Fachvertretern und -vertreterinnen der Allgemeinen Pädagogik stammen, reicht tatsächlich von „der Religion als Grundlegung bis zu ihrer Bestreitung“ – wobei, um ein signifikantes Ergebnis vorwegzunehmen, die meisten Beiträge weder für das eine noch für das andere optieren.
Die Publikation gliedert sich in drei thematisch zusammengehörige Hauptteile, die von zwei religionspädagogischen Beiträgen mit Einleitungs- und Bündelungsfunktion eingerahmt werden.
In seinem Eröffnungsbeitrag sucht Hans-Georg Ziebertz nach einer vermittelnden Position zur problematisch gewordenen Verhältnisbestimmung von Religion und Allgemeiner Pädagogik. Der von ihm angebahnte Mittelweg führt über Dietrich Benners Bildungstheorie zur Konzeption einer postsäkularen Gesellschaft, wie sie von Jürgen Habermas seit 2001 – auch im Dialog mit Joseph Ratzinger – entwickelt worden ist. Diese eröffnet nach Ziebertz einen nicht nur interdisziplinär anschlussfähigen Plausibilitätshorizont, „Religion unter empirischen, theoretischen und normativen Gesichtspunkten wahrzunehmen“ (21).
Damit schlägt Ziebertz die Brücke zum ersten Hauptteil des Bandes, überschrieben mit „Religion im Wandel der Weltbilder und Wertegefüge“. Anhand einer Reihe von Entwürfen für eine Allgemeine Pädagogik von den 1960er Jahren bis zum Ende des letzten Jahrhunderts rekonstruiert Christoph Lüth den Relevanzschwund, den Religion in der allgemeinpädagogischen Wahrnehmung erlitten hat, und macht dann – wenn auch wenig spezifisch – auf den unverkennbaren Zusammenhang mit der gesellschaftlichen und kulturellen Gesamtentwicklung im benannten Zeitraum aufmerksam. Auch Norbert Hilgenheger thematisiert die Emanzipation der Pädagogik von der Theologie – allerdings erst im zweiten Schritt. Davor weist er auf der Grundlage der 14. Shell Jugendstudie auf die belegbare Säkularität jugendlicher Wertorientierungen hin: „das Wertesystem heutiger Jugendlicher scheint sich weitgehend unabhängig von ihren Gewichtungen des Gottesglaubens stabilisiert zu haben“ (63). Dieser Befund kennzeichnet nach Hilgenheger ein neuartiges Orientierungsbedürfnis, an dem sich Theologie und Erziehungswissenschaft von ihren Voraussetzungen her theoretisch neu auszurichten hätten. Für letztere habe das zur Konsequenz, dass sie sich stärker auf die Kehrseite ihres Emanzipationserfolges besinnen muss: Denn wo früher theologisch begründete Antworten auf die Frage nach dem unum necessium standen, bleibt in der Theoriedisposition heutiger Erziehungswissenschaft eine Leerstelle (75). Annette Scheuenpflug wiederum fragt nach den theoretisch-konzeptionellen Implikationen der Globalisierung für die interdisziplinäre Wechselwirkung zwischen Erziehungswissenschaft und Religionspädagogik. Für eine solche Kooperation bedarf es ihrer Ansicht nach einer „klinischen“ Wahrnehmungsperspektive, die allen Beteiligten metatheoretische Äquidistanz gewährt (81). Besondere Leistungsfähigkeit bescheinigt sie dabei system- und evolutionstheoretischen Forschungsansätzen, deren Erschließungspotential sie anschließend in knapper Form entfaltet, und zwar unter Einbeziehung der religionspädagogischen Diskussion und – expliziter als in den meisten anderen Beiträgen – auch ihrer eigenen Biographie. Abgeschlossen wird der erste Beitrag durch eine kommentierende Replik Friedrich Schweitzers, der für einen differenzhermeneutischen Umgang mit der religiösen Dimension der wissenschaftlichen Pädagogik plädiert. Erforderlich sei eine „materiale Dialogfähigkeit“, die auf „Verständigung nicht oberhalb aller Gegensätze, sondern durch die Unterschiede und Gegensätze hindurch“ abzielt (99).
Der zweite Teil, enger fokussiert auf die „religiöse Dimension pädagogischen Denkens und Handelns“, beginnt mit zwei Beiträgen, welche die religiöse Gebundenheit pädagogischer Praxis in einer Schärfe herausstellen, die sich zweifellos vom Mainstream der Allgemeinen Pädagogik abhebt. Für Jürgen Rekus sind pädagogische Lernprozesse irreduzibel religiös, weil sie an nicht-empirische und somit „transzendentale“ Voraussetzungen gebunden sind, die sie nicht selber hervorbringen können. Wird mit diesem Rekurs auf die Grenzen der Pädagogik ein klassischer Topos erziehungswissenschaftlicher Reflexion revitalisiert, so knüpft Volker Ladenthin an eine Begründungsfigur an, die noch tiefer in der pädagogischen Denktradition namentlich des Katholizismus verwurzelt ist: Er versteht Religiosität als eine anthropologische Anlage, die dem Menschen, der sich ja zur Tatsache seiner eigenen Endlichkeit verhalten muss, mit seinem Menschsein mitgegeben ist. Insofern dieses Verhalten bewusst gestaltet werden soll, gehört Religion nach Ladenthin zum Bildungsprozess dazu, ja noch mehr: Sie ist „ein Moment der Bildung selbst“ (121). Auch dieser Teil schließt mit einer religionspädagogischen Stellungnahme ab: Günter R. Schmidt beleuchtet die divergierenden Motive für die pädagogische Thematisierung des Christentums in der Allgemeinen Pädagogik einerseits und der christlichen Religionspädagogik andererseits.
Bereits der Titel des dritten Teils kündigt eine Zäsur an: Nun geht es um „Religion als alternative Konfessionalität“. Was damit gemeint ist, kann zunächst Lutz Kochs erziehungswissenschaftlicher Aktualisierung der Religionsphilosophie Immanuel Kants entnommen werden. Er empfiehlt dessen ethisch bestimmte Konzeption einer „natürlichen Religion“ als pluralismustauglichen Ausweg aus den bisherigen Dilemmata religiöser Bildung. Denn ein integrativer Religionsunterricht auf dieser Basis sei „für jedermann gangbar“, entspreche dem Bedeutungsverlust der etablierten Religionsgemeinschaften und zeichne sich schließlich durch den (vom Vf. dann freilich nicht ausgewiesenen) Vorzug aus, „unterhalb der Religionsdiversität so etwas wie eine religiöse Gemeinsamkeit stiften zu können“ (152). Kersten Reich wiederum nähert sich der Religion persönlich-biographisch von einem atheistischen Standpunkt aus und epistemologisch aus konstruktivistischer Perspektive. Die kritische Außenbetrachtung beeindruckt und ernüchtert durch den Nachdruck, mit der sie den geschichtlichen Religionen, die gelegentlich mit einem Überschuss an Polemik auf ihre Intoleranzstruktur festgelegt werden, nicht nur Pluralitätsfähigkeit, sondern auch Bildungsrelevanz abspricht. Die Option einer disziplinären Neuausrichtung zu einer „Pädagogik der Religionen“, die Reich abschließend der Religionspädagogik anrät, regt zu kritischer Selbstbesinnung an, evoziert aber ihrerseits Rückfragen hinsichtlich ihrer Pluralismuskompatibilität. Auch für Wolfgang Nieke ist es angesichts der spezifischen Bildungsanforderungen in einer pluralistisch strukturierten Demokratie an der Zeit, die obsolet gewordenen Organisationsformen religiöser Bildung in der Schule von Grund auf zu erneuern: Das bisherige Wahlpflichtfach Religionslehre soll durch ein neues Pflichtfach „Weltorientierung“ ersetzt werden. Als Basisorientierung dient dabei „ein naturwissenschaftlich fundiertes Standardweltbild aus Kosmologie und Darwinismus“ (204), in dessen Rahmen auch die Religionen thematisiert werden sollen, allerdings nicht „doxisch, sondern religionswissenschaftlich“ (191). Diese und sämtliche allgemeinpädagogische Beiträge des Bandes werden dann von Rudolf Englert aufgenommen und im Zusammenhang der religionspädagogischen Lehrplanfrage erörtert.
Insgesamt wird der Sammelband, der durch ein Nachwort von Ulrich Schwab abgerundet wird, seiner interdisziplinären Fundierungsintention vollauf gerecht. Indem er die positionelle Pluralität erstmals ohne Ausblendungen abbildet und zudem erste Ansätze einer verschränkenden Zusammenschau bietet, erhält der Diskurs über den Stellenwert von Religion in der Allgemeinen Pädagogik, der – wie die Herausgeber zurecht hervorheben – noch „am Anfang“ steht (8), eine tragfähige Basis. In welche Richtung die Diskussion geht, bleibt mit Spannung abzuwarten.
Vor dem Hintergrund der Lektüreeindrücke scheinen mir zwei Verständigungsaufgaben vordringlich zu sein: Zunächst fällt auf, dass der Religionsbegriff in den verschiedenen Beiträgen und zum Teil auch innerhalb der Einzelargumentationen sehr unterschiedlich gefüllt wird. Das erschwert auch insofern die Kommunikation, als das jeweils rezipierte Religionsverständnis – wie den Beiträgen dieses Bandes ablesbar – auch die reflexionsleitende Gesellschaftsdiagnostik entscheidend vorprägt. Substantielle Deutungen verstärken die Säkularisierungswahrnehmung, während funktionale Begriffsbestimmungen dieselben Phänomene als Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse erscheinen lassen.
Ein weiteres Problem scheint auf, wenn man den Blick von der Gegenstands- auf die Disziplinebene verschiebt: Anders als der Fokus auf die Religionsthematik vermuten lässt, spielt nämlich die religionspädagogische Gegenwartsforschung in den allgemeinpädagogischen Beiträgen so gut wie keine Rolle. Damit führt der Band ein Grunddilemma der pädagogisch-religionspädagogischen Kommunikation in dankenswerter Schärfe vor Augen: Sie findet – zumindest was die wechselseitige Diskurswahrnehmung angeht – tendenziell nur in eine Richtung statt. Durch die programmatische Öffnung eines religionspädagogischen Publikationsplateaus für eine erziehungswissenschaftliche Grundlagendiskussion leistet der Sammelband einen ersten wichtigen Schritt zur Überwindung dieser asymmetrischen Kommunikationsstruktur. Mögen weitere folgen!
EWR 6 (2007), Nr. 3 (Mai/Juni 2007)
Religion in der Allgemeinen Pädagogik
Von der Religion als Grundlegung bis zu ihrer Bestreitung
(Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft; Bd. 9)
(Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft; Bd. 9)
Freiburg u.a.: GĂĽtersloher Verlagshaus 2006
(249 S.; ISBN 978-3-579-05299-1; 34,95 EUR)
Henrik Simojoki (TĂĽbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Henrik Simojoki: Rezension von: Ziebertz, Hans-Georg / Schmidt, GĂĽnter R. (Hg.): Religion in der Allgemeinen Pädagogik, Von der Religion als Grundlegung bis zu ihrer Bestreitung (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft; Bd. 9). Freiburg u.a.: GĂĽtersloher Verlagshaus 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 3 (Veröffentlicht am 12.06.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978357905299.html
Henrik Simojoki: Rezension von: Ziebertz, Hans-Georg / Schmidt, GĂĽnter R. (Hg.): Religion in der Allgemeinen Pädagogik, Von der Religion als Grundlegung bis zu ihrer Bestreitung (Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft; Bd. 9). Freiburg u.a.: GĂĽtersloher Verlagshaus 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 3 (Veröffentlicht am 12.06.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978357905299.html