EWR 12 (2013), Nr. 6 (November/Dezember)

Sina-Mareen Köhler
Freunde, Feinde oder Klassenteam?
Empirische Rekonstruktionen von Peerbeziehungen an globalen Schulen
Wiesbaden: Springer VS 2012
(330 S.; ISBN 978-3-531-19718-0; 39,95 EUR)
Freunde, Feinde oder Klassenteam? Globale Mobilität wird inzwischen von vielen Berufen gefordert. Diejenigen Kinder und Jugendlichen, deren Eltern in wechselnden Ländern ihre Berufstätigkeit ausüben, sind von ihr in besonderer Weise betroffen. Sie wechseln mehrfach die Schule und müssen sich mit neuen Mitschülern anfreunden, die ebenfalls nur temporär an einem Ort sind und aus verschiedenen Kulturen stammen. Internationale oder globale Schulen bieten Eltern bzw. Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, wiederholte Wohnortwechsel bei einem gleichbleibenden, international gültigen Curriculum zu meistern. Schülerinnen und Schüler dieser Schulen weisen meist eine mehrfache Migrationserfahrung sowie das Aufwachsen in einem binationalen Elternhaus auf. Wie unter diesen Bedingungen die Schülerinnen und Schüler Freundschaftsbeziehungen zu ihren Peers aufbauen und pflegen und wie sie dies in Bezug auf den schulischen Kontext erfahren, ist Thema der von Sina-Mareen Köhler publizierten Dissertation. Sie positioniert folgerichtig ihre Arbeit zwischen Schulforschung und Kindheits- und Jugendforschung und legt schlüssig dar, dass bislang empirische Arbeiten zu den Peerbeziehungen in diesem Kontext fehlen. Gleichwohl wählt sie ein randständiges Thema, denn die Schülerschaft dieser Schulen sowie die curriculare Ausrichtung derselben bilden einen sehr spezifischen Rahmen, der in einer solchen Arbeit nicht vollständig erfasst werden kann (bspw. soziale Zusammensetzung, kultureller Hintergrund etc.), daher fokussiert sie sich auf die von den Jugendlichen selbst geäußerten Standpunkte. Köhler fasst das Ziel ihrer Arbeit folgendermaßen: „Diese Untersuchung beschäftigt sich also hauptsächlich mit den kollektiven Orientierungen, Praxen und Beziehungsformen von 12- bis 14-Jährigen. Ihr Ziel ist es dabei, die gemeinschaftliche Erfahrungsbasis der Gruppen zu fassen und die Bedeutung der Migrationssituation sowie des schulischen Zusammenhangs herauszuarbeiten.“ (13)

Ihre empirische Arbeit stützt sich dabei auf Erhebungen an je einer 7. Klasse einer Internationalen Schule in Deutschland und einer Deutschen Auslandsschule in Japan. Ethnografische Beobachtung, Befragungen, Gruppendiskussionen und Netzwerkkarten generieren ein vielfältiges empirisches Material. Im Zentrum der Analyse stehen die insgesamt neun Gruppendiskussionen (vier an der Internationalen Schule; fünf an der Deutschen Auslandsschule), die nach der dokumentarischen Methode erschlossen werden und zu einer generalisierenden Typenbildung führen.

Sina-Mareen Köhler beginnt ihre Arbeit, indem sie den Forschungsstand sowohl zu internationalen Schulen als auch zu Peerbeziehungen im schulischen und außerschulischen Kontext aufarbeitet und darstellt. Dabei zeigt sich, dass der Forschungsstand zu internationalen Schulen übersichtlich ist, und bislang wenig die konkreten Praxen der Jugendlichen in den Blick genommen wurden. Die Autorin verortet ihre Arbeit im Hinblick auf den Forschungsstand zur Schul- und Jugendforschung in der „Nähe zu den symbolisch-interaktionistischen Ansätzen“ (19), aber sie betont auch, dass sie die Beziehungsebene wissenssoziologisch begreift. Köhler zeigt, dass sie eine Vielzahl an Forschungsarbeiten und -ansätzen für ihre Arbeit herangezogen hat. Jedoch fällt es schwer, ein Gesamtbild zu entwerfen. Sie versucht die Beziehungskonstellation innerhalb einer Schulklasse als „Teilung kollektiven Wissens“ in einer Abbildung zu systematisieren, aber diese Systematik wird m.E. im Folgenden nicht wieder aufgegriffen (73).

In sechs Themenblöcken werden die Gruppendiskussionen organisiert. Diese umfassen Fragen zu den gemeinsamen Aktivitäten der Gruppe, zum Umgang mit neuen SchülerInnen, zu Erlebnissen in der Klasse, zum Freundschaftsbegriff generell, zur Migrationssituation und zur Institution Schule. Die 12- bis 14-Jährigen fassen sich zu Gruppen von drei bis sieben Personen zusammen. Sie bestimmen ihre Zusammensetzung selbst. Die Diskussionsdauer variiert zwischen 90 und 160 Minuten. Köhler legt im 3. Kapitel ausführlich ihr Analysevorgehen nach der dokumentarischen Methode dar, das sie um das Verfahren der Typenbildung ergänzt.

Den Hauptteil der Arbeit bildet die Rekonstruktion der Gruppendiskussionen, getrennt nach Schulen (Kapitel 4 und 5). Dabei werden zum einen jeweils die spezifische Schule vorgestellt und zum anderen je zwei Gruppendiskussionen pro Schule in der Tiefe rekonstruiert, während die übrigen zur abschließenden Präzisierung herangezogen werden. Es zeigt sich, dass nur einige wenige SchülerInnen der Deutschen Auslandsschule in Japan japanisch sprechen, sondern maßgeblich das Deutsche bestimmend bleibt. Demgegenüber bildet das Englische die gemeinsame Sprache an der Internationalen Schule in Deutschland; nur einige SchülerInnen sprechen hier überhaupt deutsch. Demzufolge wurden auch die Diskussionen in Englisch durchgeführt.

Überraschenderweise – dies macht Köhler bereits in ihrer Einleitung deutlich – spielen die Migrationserfahrungen und wechselnden Bezugsgruppen in den Diskussionen keine Rolle. Sie werden von den SchülerInnen nicht thematisiert. Dadurch werden die Analysen weniger zu einem Beitrag zur Spezifik von globalen Schulen, als vielmehr zu einem Beitrag der Jugendforschung. Denn die Klasse als Konstitutionsmoment einer altersgleichen Gruppe steht im Vordergrund der Diskussionen. Wie sich die einzelnen Gruppen im Hinblick auf die Klasse verstehen, bildet denn auch den ersten Schritt der Analyse. Für die Gruppen der Deutschen Auslandsschule in Japan kann Köhler konstatieren, dass „der Klassenverband eine unterschiedliche Relevanz für die Praxen der Gruppen hat“ (161). Dabei wird der Klassenverband als durch die Jungen dominierter charakterisiert. Bestimmend ist in einer der Gruppen zudem eine bestimmte Form der „Scherzkommunikation“. Auch die zwei exemplarischen Gruppendiskussionen an der Internationalen Schule in Deutschland zeigen kein einheitliches Bild. Die eine Gruppe erlebt die Klasse als in Untergruppen unterteilt, die für die Peerbeziehungen bestimmend sind. Außerhalb des Schulkontextes finden jedoch keine gemeinsamen Aktivitäten statt. Die andere Gruppe dagegen artikuliert keine gemeinsame Klassenerfahrung. Sie finden ihre Freunde in jeweils anderen Klassen. Für alle Gruppendiskussionen kann Köhler feststellen, dass die Erfahrung mit ethnisch-kultureller Differenz keine Rolle spielt.

In einem nächsten Schritt unternimmt Köhler nun eine Kontrastierung der beiden Klassen zueinander und damit eine Gegenüberstellung der jeweiligen Schule (Kapitel 6-8). Sie stellt u.a. fest, dass trotz der unterschiedlichen Klassenerfahrungen der Klassenverband von allen als erhaltenswert beschrieben und als „funktionierende Gemeinschaft“ erlebt wird (229). Den Kern der Kontrastierung stellen fünf Typen dar: Begrenzung der Beziehung durch Schule und Peeröffentlichkeit; Schule als einziger, aber wenig geschätzter Ort; Schule als begrüßter Ort von den Peers; Schulische Leistungsfähigkeit und absurde Peerpraxen; Informations- und Beziehungskontrolle in der Peeröffentlichkeit. Diese Typen werden wiederum im Hinblick auf die artikulierten Beziehungsformen der Gruppen noch einmal gruppiert. So ordnet sie den ersten Typ der Beziehungsform mit Begrenzungserfahrung durch den Beziehungsort Schule und Peers zu; die Typen zwei bis vier sind charakterisiert durch Beziehungsformen, für die die Schule den notwendigen Beziehungs-, Lern- und Leistungsort bildet, während der letzte Typ maßgeblich Beziehungsformen aufweist, für die die Schule den Interaktionsort mit anderen stellt.

Das Besondere an diesen globalen Schulen zeigt sich darin, dass für alle interviewten SchülerInnen kontinuierliche Peerbeziehungen ausschließlich in der Schule erlebt werden. Schule nimmt hier den genuinen und einzigen Ort der Peererfahrung ein. Diese stellt Köhler in den abschließenden Kapiteln noch einmal unter verschiedenen Aspekten, wie Praxen der Abgrenzung und Vergemeinschaftung sowie Gemeinsamkeit und Gemeinschaft dar. Es ergibt sich ein vielfältiges Bild der Peerbeziehungen, das hier nur ansatzweise wiedergegeben werden kann. Die Fülle an Aspekten ist es auch, die das Lesen der Arbeit erschweren.

Meines Erachtens hat die Arbeit mit zwei grundlegenden Problemen zu kämpfen: Zum einen mit der Breite des Materials, das die Autorin vor die schwierige Aufgabe stellt, die Vielzahl an Informationen und interessanten Darstellungsweisen der Schülerinnen und Schüler zu systematisieren, von diesen zu abstrahieren und sie zuletzt in Form von Typen zu generalisieren. Erst die Überwindung der Deskription der Einzelaspekte würde es aber ermöglichen, systematische und damit auch strukturelle Einsichten in die Peererfahrungen von SchülerInnen zu gewinnen, die über die spezifische Gruppe hinausgehen. Zum anderen mit der ausbleibenden Migrationserfahrung der Befragten. Die besondere Situation der Schülerschaft und damit auch der Gegensatz Deutschland-Japan wird in den Gruppendiskussionen gar nicht bzw. nur marginal thematisch. Damit kann der plausiblen und durchaus begründeten Ausgangshypothese, dass globale Schulen aufgrund ihres Kontextes eine spezifische Peererfahrung ausbilden, anhand des vorliegenden Materials kaum nachgegangen werden. Weil die Jugendlichen, die sich zur Gruppendiskussion bereit erklärten, sich über einen langen Zeitraum kennen und auch in eine Klasse gehen, werden die Analysen mehr zu einem Beitrag der „typischen“ jugendlichen Peerbeziehung als zu einem besonderen Beitrag des deutsch-europäischen zum japanisch-asiatischen Vergleichs.
Sieglinde Jornitz (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sieglinde Jornitz: Rezension von: Köhler, Sina-Mareen: Freunde, Feinde oder Klassenteam?, Empirische Rekonstruktionen von Peerbeziehungen an globalen Schulen. Wiesbaden: Springer VS 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 6 (Veröffentlicht am 03.12.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353119718.html