Die sogenannte „Neue Kindheitsforschung“ ist mittlerweile nicht mehr ganz so neu, bleibt aber weiterhin hochaktuell und bildet ein weithin miteinander verzweigtes Netz aus sich in verschiedene Strömungen entwickelnden Theorieangeboten und Praxisforschung. Die Zugänge beruhen etwa auf sozialkonstruktivistischen, poststrukturalistischen oder sozialisationstheoretischen Annahmen. Was die einzelnen Ansätze eint, ist ihr Anspruch, Kinder als Akteure ernst zu nehmen und die meist qualitative Vorgehensweise. Die Bücher der Reihe „Kinder, Kindheiten und Kindheitsforschung“ des Springer VS-Verlags, in der die vorliegende Arbeit publiziert wurde, sind ein gutes Beispiel für die Vielfalt dieser Forschungsrichtung. Sie weisen außerdem auf ein zunehmendes Interesse an der Verschränkung von Elementarpädagogik und heterogenitätsrelevanten Themen innerhalb der Erziehungswissenschaft hin. Somit steht die Bücherreihe exemplarisch für einen seit wenigen Jahren im deutschsprachigen Raum erkennbaren Trend, der auch vor dem Hintergrund tagesaktueller Gesellschaftspolitik wie der Inklusionsdebatte bedeutend ist. Trotz dieser Entwicklungen sind in solchen Zugängen, die Themen wie Differenz und Diskriminierung im Rahmen einer „Neuen Kindheitsforschung“ verhandeln, noch viele Desiderate erkennbar. Eine Lücke innerhalb der deutschen Forschung ist die theoretische Fundierung eines poststrukturalistischen Blicks auf Elementarpädagogik. Hier setzt die Arbeit „Kinder und Differenz“ von Claudia Machold an, welche als Dissertation von Isabell Diehm und Paul Mecheril betreut wurde, die auf diesem Gebiet wie Machold selbst bereits erfahren sind.
Die erste Hälfte des Buches ist mittels verschiedener Forschungsüberblicke zu den Themen Kinder, Praxis bzw. Kultur, Ethnografie und deren jeweiligem Verhältnis zu Differenz strukturiert. In diesem thematischen Rahmen entwickelt die Autorin ihr methodisches Vorgehen aus einer poststrukturalistischen Subjekttheorie heraus. So will sie, in Abgrenzung zu einer entwicklungspsychologischen Logik und zugleich von Judith Butler inspiriert, Aussagen über Ordnungsverhältnisse wie das Gefüge von Kind und Erwachsenen und dessen Bestimmtheit durch gesellschaftliche Diskurse und Normen treffen.
Kinder stellen – so die Ausgangsbasis – ihre Identität im Rahmen von Diskursen her, in die sie selbst verstrickt sind. Durch Normen, Macht und Gesellschaftsgeschichte entstehen Vorstellungen von Kindheit, auf die Kinder spezifisch in ihrer Gegenwart reagieren. Was aus poststrukturalistischen Annahmen folgt, ist daher die endgültige Verabschiedung der Vorstellung des „unschuldigen Kindes“, die teilweise in der deutschen Pädagogik weiterhin existiert.
Darauf aufbauend entwickelt Machold einen praxisbezogenen und für die Differenzthematik relevanten Kulturbegriff und greift hierfür unter anderem auf die Gedanken von Ferdinand de Saussure und Jacques Derrida zurück. Sie spricht von der Kategorie „Kultur als Praxis“ und verweist damit auf die Kultur-als-Text-Idee nach Clifford Geertz, von der sie sich zugleich abgrenzt. Ein solches in der Ethnologie verbreitetes Vorgehen will die Bedeutungen kultureller Handlungen dadurch entschlüsseln, dass diese als eine Art Dokument gelesen werden. Macholds Anknüpfungspunkt ist dagegen das auf Butler zurückgehende Verständnis von handlungsmächtiger Sprache. Konventionen und Normen sind auf ständige Wiederholung angewiesen. Dabei seien Normen aber „(...) keine Substanz, die von Individuen internalisiert werden, sondern sie sind produktiv. Das Potenzial der Veränderung entsteht genau dann, wenn es zur Zitation kommt.“ (67) Diese Zitation, diese Wiederholung ist der Kern der Re-Signifizierung und damit der zentrale Prozess, der in Macholds Arbeit untersucht wird. In der Zitation wird Kultur hergestellt, vollziehen sich Subjektivierung und Identitätsbildung, werden Individuen handlungsfähig. Und: In der Zitation werden Differenzen hergestellt.
Entscheidend ist, wie dieses Anknüpfen an Normen und Diskurse in der Praxis geschieht. Zur Klärung dieser Frage führte die Autorin in einem ethnografischen Vorgehen Teilnehmende Beobachtungen in einer Kindertagesstätte durch. Die Beobachtungsprotokolle werden sequenzanalytisch interpretiert und dienen in einem weiteren Schritt als Grundlage der Modellierung „sozialwissenschaftliche[r] Geschichten“ (110), die zu einer Kernkategorie verdichtet werden. Dies stellt ein komplexes Unterfangen dar, denn trotz des weitreichenden theoretischen Unterbaus bleiben die Alltagsbeobachtungen immer ein Stück weit interpretationsoffen. Was bedeutet es, wenn Karlotta neben die Notizen der Autorin Striche malt und anschließend behauptet: „Das ist Türkisch.“? (127) Verweist dies auf die Generationendifferenz zwischen der Erwachsenen und dem Kita-Kind? Oder geht es darüber hinaus um ethnische Differenzen, welche die Stellung etwa der türkischen Sprache innerhalb der deutschen Gesellschaft betreffen?
Machold wertet ihr Material mit Blick auf verschiedene Differenzlinien aus und stellt Unterscheidungen bzgl. Generation / Alter, Geschlecht und Ethnizität / „Rasse“ fest. Die zentrale Form, der Modus, in dem diese gesellschaftlichen Differenzverhältnisse – von Machold auch als übersituative Zugehörigkeiten bezeichnet – verhandelt werden, weist nun Bezüge zum bereits erwähnten Konzept der Re-Signifizierung auf. Die Kernkategorie, welche die Autorin in ihrer Arbeit entwickelt, nennt sie „Be-Deuten als Wahr-Sprechen“. Be-Deuten meint: „(…) Bedeutungen werden durch explizite Deutungen hervorgebracht.“ (118). Um das zu unterstreichen, benutzt sie den Bindestrich. Die expliziten Deutungen der Kinder sind mehr oder weniger absolut gesetzt und beanspruchen Wahrheit. Um dieses „Wahr-Sprechen“ überhaupt erst möglich zu machen, müssen sich die Kinder in der jeweiligen Situation in einer spezifischen Machtposition befinden. Die Re-Signifizierungsstrategien der Kinder weisen neben ihrem strikten Wahrheitsanspruch noch ein weiteres, in den meisten Sequenzen vorkommendes Merkmal auf: Sie behandeln Differenz affirmativ. Kinder widersprechen also der in der Gesellschaft vorhandenen sozialen Ordnung und den Konventionen in ihren Praktiken – hier wird etwa das Beispiel „Sprechen über Beziehungen“ bei Mädchen genannt – nur selten. Dieses Fazit ist ernüchternd für all jene, die noch der Vorstellung von Kindern als den besseren, weil demokratischeren und freieren Menschen anhängen. Andererseits zeigen sich in diesen Praktiken hier und da Brüche, die als widerständige Re-Signifizierungen gedeutet werden. Die Praktik „Be-Deuten als Wahr-Sprechen“ kann außerdem als eine Möglichkeit für Kinder verstanden werden, überhaupt als Akteure zu wirken und handlungsfähig zu sein. Das, was in den Beobachtungen von Machold immer wieder zum Vorschein kommt und sie in ihrer Arbeit immer wieder festhält, ist „(...) eine Positionierungspraktik, die gegenwärtig als besonders bedeutsam im Hinblick auf die Herstellung, Aufrechterhaltung und Durchsetzung von (machtvollen und hierarchischen) Differenzverhältnissen gelten kann: Die Macht über die (Be-)Deutungen.“ (206f) Diese Machtpraktik birgt positive und negative Seiten in sich.
„Kinder und Differenz“ teilt sich nahezu seitengenau in zwei Hälften auf: Der erste Teil behandelt die theoretischen Herleitungen und methodischen Bezüge, die zweite Hälfte thematisiert die empirischen Beobachtungen und deren Interpretation. Damit beinhaltet das Buch einen für eine empirische Arbeit langen theoretischen Teil. Dies lässt sich als Indikator für die Notwendigkeit einer Fundierung poststrukturalistischer Ansätze in der Elementarpädagogik verstehen. Machold wagt sich mit der Bezugnahme auf diese Ansätze in Gebiete vor, die nicht dem „Mainstream“ der Erziehungswissenschaft entsprechen. Da das Wissen über poststrukturalistische Theorie (auch in Fachbüchern) keinesfalls vorausgesetzt werden kann, tut sie gut daran, wichtige Grundlagen zu erläutern. Die Arbeit ist – pädagogisches Grundlagenwissen vorausgesetzt – auch trotz eines teilweise hohen Komplexitätsgrades verständlich geschrieben. Dazu tragen etwa Zusammenfassungen und Ausblicke am Ende jedes Kapitels bei.
Irritierend ist, dass die methodischen „hard facts“ der Studie nur schwer zu finden sind. So werden etwa der Zeitraum und die Dauer der Teilnehmenden Beobachtung nur in einer Fußnote erwähnt und nicht weiter begründet. Verweise auf Kontextfaktoren etwa des sozialen Nahraums der beobachteten Kita fehlen ganz. Auch wenn dies für die Arbeit nicht zentral ist und sich Machold aus guten Gründen nicht von Konzepten wie „Migrationshintergrund“ leiten lässt, könnte es doch einen Unterschied ausmachen, ob der Umgang mit beispielsweise ethnischer Differenz in – zugespitzt ausgedrückt – Bitterfeld oder Berlin-Neukölln untersucht wird.
Insgesamt besticht das Buch durch neue Einblicke in bisher wenig erschlossene erziehungswissenschaftliche Gefilde. Den Anspruch einer empirischen Fundierung des Themas Kindheit und Differenz erfüllt es klar. Die Ergebnisse der Beobachtungsinterpretationen können dabei das wenige Wissen, das hierzu bislang bekannt ist, teilweise bestätigen und erweitern. So deckt sich etwa die Beobachtung, dass Unterscheidungen nach Alter und Geschlecht häufiger als solche nach Ethnizität relevant werden, mit jenen aus einer Grundschulstudie [1]. Die Arbeit expliziert die Bedeutung gesellschaftlicher Differenzlinien und veranschaulicht Strategien der Machtausübung unter Kindern. Sie zeigt, wie fruchtbar es ist, das Zusammenspiel von Elementarpädagogik, Interkultureller Bildung und der Allgemeinen Erziehungswissenschaft zu thematisieren.
[1] Wagner-Willi, M.: Handlungspraxis im Fokus: Die dokumentarische Videointerpretation sozialer Situationen in der Grundschule. In: Heinzel, F. / Panagiotopoulou, A. (Hrsg.): Qualitative Bildungsforschung im Elementar- und Primarbereich. Bedingungen und Kontexte kindlicher Lern- und Entwicklungsprozesse. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2010, 43–59.
EWR 14 (2015), Nr. 2 (März/April)
Kinder und Differenz
Eine ethnografische Studie im elementarpädagogischen Kontext
Wiesbaden: Springer VS 2015
(226 S.; ISBN 978-3-5311-9378-6; 29,99 EUR)
Alexander Stärck (Leipzig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Alexander Stärck: Rezension von: Machold, Claudia: Kinder und Differenz, Eine ethnografische Studie im elementarpädagogischen Kontext. Wiesbaden: Springer VS 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353119378.html
Alexander Stärck: Rezension von: Machold, Claudia: Kinder und Differenz, Eine ethnografische Studie im elementarpädagogischen Kontext. Wiesbaden: Springer VS 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 2 (Veröffentlicht am 08.04.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353119378.html