Zu Beginn der Lektüre steht ein erster Reflex der Rezensentin: Braucht es nach über 30 Jahren Frauen- und Geschlechterforschung dieses Handbuch? Braucht es einen spezifischen Blick, der Geschlechter- oder Genderforschung als supra-disziplinäre Forschung in Bezug setzt zu je einem Schulfach und seiner Fachwissenschaft? Die Idee hinter dem Handbuch Geschlechterforschung und Fachdidaktik wird klar formuliert und vermag zu überzeugen, jedoch nicht die Konzeption aller Teile des Buches – so meine grundlegende Einschätzung. Die Adressaten des Handbuchs sind gemäß den Herausgeberinnen Forschende, Lehrende und Lernende, ohne dass für diese ein spezifischer Bildungsstufenbezug genannt wird, und auch in „außerschulische[n] Arbeitsfeldern Tätige“ (7). Genau dieser Anspruch, es allen irgendwie recht machen zu wollen, hat zur Folge, dass das vorliegende Handbuch (noch) keine runde Sache ist.
Das Handbuch Geschlechterforschung und Fachdidaktik ist im wahrsten Sinne des Wortes ein gewichtiges Buch mit seinen gut 500 Seiten. Es ist im gewohnten, eleganten vs-Layout ein gut strukturiertes und wohlgestaltetes Werk. Da, wie der Leserschaft bekannt ist, alle Bücher des vs-Verlags im Volltext elektronisch zur Verfügung gestellt werden, ist besonders lobenswert anzumerken, dass jedes Kapitel unten auf der ersten Seite sowohl die vollständigen Angaben zur Verfasserin/zum Verfasser als auch die Angaben zum Gesamtwerk, dem das Kapitel entnommen wird, aufführt. Gerade bei einer auszugsweisen Nutzung, z.B. in der Lehre stellt dies einen zusätzlichen Service für die Nutzer dar.
Inhaltlich ist das Handbuch nach einer kurzen Einleitung der beiden Herausgeberinnen (8 Seiten) in vier Teile gegliedert: Teil I – Grundlagen (52 Seiten), Teil II – Schulfächer (261 Seiten), Teil III – Wissenschaftsdisziplinen (69 Seiten) und Teil IV – Querschnittsdisziplinen (127 Seiten). Die „Grundlagen“ umfassen drei Kapitel zu Themen der Didaktik, zur Genderforschung in der Schule und zu Geschlechtertheorien. Anschließend werden im Teil II in 18 Kapiteln Aspekte der Geschlechterforschung in den klassischen Schulfächern wie bspw. Deutsch, Französisch, Physik oder Sport, aber auch in anderen Unterrichtsgebieten wie bspw. Arbeitslehre, Ethik oder Technik ausgeführt. Die Intention der Herausgeberinnen, alle Unterrichtsfächer abzudecken, wurde „aufgrund fehlender ausgewiesener Expertinnen und Experten“ (5) nicht für alle Fächer realisiert. Im dritten Teil werden dann in fünf Kapiteln so genannte „Wissenschaftsdisziplinen“ behandelt: die Hochschuldidaktik, die Informatik an Universitäten, die Ingenieurwissenschaften, die Schulpädagogik sowie die Psychologie. Den Abschluss machen neun Kapitel, die mit dem Begriff „Querschnittsdisziplinen“ betitelt sind. Es kommen hier Fragen zum Zuge wie bspw. die Geschlechtergerechtigkeit im Anfangsunterricht, die Genderthematik in der Beruflichen Bildung, die Kategorie Geschlecht in Umwelt-/Nachhaltigkeitswissenschaften oder in der Ästhetischen Bildung – oder auch die klassische Frage wie: Geschlechtertrennung ja oder nein?! Die einzelnen Beiträge bauen auf einer von der Herausgeberschaft vorgegebenen Systematik auf und beinhalten den Stand der Geschlechterforschung in der jeweiligen Disziplin, Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, Debatten zur Geschlechterkonstruktion und -dekonstruktion sowie Ergebnisse der aktuellen Bildungsforschung und deren Einflüsse auf die jeweilige Fachdisziplin (vgl. 5f). Auf konkrete Vorschläge für einen geschlechtergerechten Unterricht wurde explizit verzichtet; es ist jedoch ein zweiter Band mit Umsetzungsbeispielen geplant.
Die einleitenden Kapitel sind, obwohl knapp gehalten, informativ, mit einer gut ausgewogenen Darstellung zwischen historischer Entwicklung und aktuellem Forschungsstand und somit einem Handbuch dieses Formats absolut angemessen. Als Desiderat wäre hier ein weiteres Kapitel zum Lehren und Lernen in den verschiedenen Lebensaltern anzubringen: Das Handbuch weist zwar einzelne Kapitel zur Schulpädagogik, zur Hochschuldidaktik, zur Beruflichen Bildung oder Erwachsenenbildung auf – doch werden die mit den verschiedenen Bildungsstufen verbundenen Gemeinsamkeiten und Unterschiede nirgends systematisch zusammengeführt.
Es ist mir leider nicht ganz klar geworden, an wen sich das Handbuch richtet. Der diffus umrissene Adressatenkreis widerspiegelt sich meines Erachtens auch in der Konzeption des Handbuchs, konkret in der Auswahl der Themen bzw. Disziplinen. Die Konzeption von Schulfachorientierung (gut gelungen, beinahe vollständige Deckung erreicht) und Disziplinenorientierung (nicht begründete Auswahl, z.T. unmotivierte Verwendung des Disziplinenbegriffs) überzeugt in der vorliegenden Form noch nicht.
Der zweite Teil zu den „Schulfächern“ stellt unbestritten den gelungenen Kern des Handbuchs dar. Gerade die einheitliche Systematik im Aufbau der einzelnen Kapitel ermöglicht eine gute Vergleichbarkeit zwischen den Schulfächern hinsichtlich des beschriebenen Zieles einer geschlechtergerechten Bildung. Diese umfassende Momentaufnahme des aktuellen Forschungsstandes zur Geschlechterforschung in der Fachdidaktik kann als Stärke des vorliegenden Handbuchs gewertet werden. Die anfänglichen Bedenken zum generellen Nutzen eines solchen Werkes haben sich bei der Rezensentin deshalb schnell aufgelöst: Gerade die Kapitel zu den Schulfächern stellen eine in ihrer Konzeption stringente und dichte Beschreibung der Ergebnisse von mehreren Jahrzehnten Geschlechter- und Genderforschung dar. Die im Teil „Wissenschaftsdisziplinen“ behandelten Themen scheinen mir hingegen eine willkürliche Auswahl zu sein; es finden sich im ganzen Buch keinerlei Hinweise zu den Auswahlkriterien. Entweder wäre hier – oder in einem weiteren Band – äquivalent zu den Schulfächern eine möglichst vollzählige Behandlung aller Wissenschaftsdisziplinen und ihres Anspruchs einer geschlechtergerechten Bildung anzustreben (was in meinen Augen ein äußerst reizvolles Unternehmen wäre) oder es ist auf diese eklektische Auswahl gänzlich zu verzichten. Die Themenbereiche Hochschuldidaktik oder Schulpädagogik könnten, wie schon erwähnt, andernorts besser und systematischer dargestellt werden.
Der Begriff „Querschnittsdisziplinen“ für den letzten Teil des Buches ist meines Erachtens ungünstig gewählt, denn es handelt sich eben gerade nicht um Disziplinen im klassischen Sinne. Passender wäre eine Überschrift wie „Querschnittsperspektiven, -fragen oder -themen“. Diese Beiträge sind ausgezeichnete Ergänzungen zu den Schulfach-Beiträgen. Es handelt sich hier um eine sehr anregende Themensammlung, die zum Teil die Funktion des fehlenden Abschlusskapitels übernimmt. Wenn nach der breiten Auffächerung, die das Handbuch Geschlechterforschung und Fachdidaktik bietet, in einem abschließenden Statement vonseiten der Herausgeberinnen die Verbindung der beiden bearbeiteten Forschungsbereiche Genderforschung und Fachdidaktik nochmals gebündelt worden wäre, wäre dies für die Leserin und den Leser ein zusätzlicher Gewinn gewesen. So ein Schlusspunkt würde auch einem Handbuch dieses Formats gut anstehen.
EWR 12 (2013), Nr. 6 (November/Dezember)
Handbuch Geschlechterforschung und Fachdidaktik
Wiesbaden: Springer vs 2012
(512 S.; ISBN 978-3-531-18984-0; 59,95 EUR)
Karin Manz (ZĂĽrich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Karin Manz: Rezension von: Kampshoff, Marita / Wiepcke, Claudia (Hg.): Handbuch Geschlechterforschung und Fachdidaktik. Wiesbaden: Springer vs 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 6 (Veröffentlicht am 03.12.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353118984.html
Karin Manz: Rezension von: Kampshoff, Marita / Wiepcke, Claudia (Hg.): Handbuch Geschlechterforschung und Fachdidaktik. Wiesbaden: Springer vs 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 6 (Veröffentlicht am 03.12.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353118984.html