EWR 12 (2013), Nr. 6 (November/Dezember)

Sammelrezension Privatschulen

Heiner Ullrich / Susanne Strunck (Hrsg.)
Private Schulen in Deutschland
Entwicklungen – Profile – Kontroversen
Wiesbaden: VS Verlag 2012
(280 S.; ISBN 978-3-531-18230-8; 39,95 EUR)
Sylva Liebenwein / Heiner Barz / Dirk Randoll
Bildungserfahrungen an Waldorfschulen
Empirische Studie zu SchulqualitÀt und Lernerfahrungen
Wiesbaden: VS Verlag 2012
(256 S.; ISBN 978-3-531-18508-8; 34,95 EUR)
Sylva Liebenwein / Heiner Barz / Dirk Randoll
Bildungserfahrungen an Montessorischulen
Empirische Studie zu SchulqualitÀt und Lernerfahrungen
Wiesbaden: VS Verlag 2013
(280 S.; ISBN 978-3-531-18507-1; 34,95 EUR)
Private Schulen in Deutschland Bildungserfahrungen an Waldorfschulen Bildungserfahrungen an Montessorischulen Privatschulen boomen. Das legt zum einen die anhaltende mediale Aufmerksamkeit nahe, die sich in unregelmĂ€ĂŸig wiederkehrenden Zeitungsartikeln von taz bis FAZ spiegelt oder in journalistischen Publikationen wie z.B. Christian FĂŒllers „Ausweg Privatschulen?“ [1]. Hier werden private allgemeinbildende Schulen als mehr oder weniger pĂ€dagogisch diskussionswĂŒrdige Alternativen zu Schulen des öffentlichen Bildungswesens artikuliert oder einfach nur der wachsende Zuspruch zu ihnen und ihre wie auch immer geartete AttraktivitĂ€t festgestellt. Zum anderen ist in der Tat in den zurĂŒckliegenden zehn Jahren ein kontinuierlicher Anstieg privater Schulen in Deutschland zu verzeichnen. Ihr Anteil hat sich zwischen 2001 und 2011 von 5,8% auf 9,8% erhöht. Auch der SchĂŒleranteil ist in diesem Zeitraum auf 8,5% gestiegen und hat sich damit fast verdoppelt. Die Ursachen fĂŒr die AttraktivitĂ€t privater Schulen sind weitgehend ungeklĂ€rt: Gesellschaftlich wahrgenommene Defizite öffentlicher Schulen werden in der Publizistik ebenso angenommen wie Prozesse der Distinktion spezifischer gesellschaftlicher Milieus. Trotz Expansion und der gestiegenen, öffentlichen Wahrnehmung von Privatschulen, die mit der oben erwĂ€hnten WertschĂ€tzung und medialen PrĂ€senz einhergeht, können kaum gesicherte Aussagen zur QualitĂ€t von Schulen in privater TrĂ€gerschaft und die diese goutierenden Milieus getroffen werden, da die Forschung zu privaten Schulen in Deutschland im Wesentlichen ein „Schattendasein“ [2] fristet.

Nun scheint der Boom endlich auch die Bildungsforschung erreicht und das Schattendasein ein Ende zu haben. Nach vereinzelten Studien aus der bildungswissenschaftlichen Zunft, die sich in den zurĂŒckliegenden Jahren dem Feld genĂ€hert haben [3], sind in den letzten zwölf Monaten gleich vier Publikationen erschienen, die private Schulen einem wissenschaftlichen Blick unterziehen bzw. empirische Befunde ĂŒber einzelne Typen vorlegen. Drei dieser Publikationen gilt es hier vorzustellen. [4]

Der erste Band, herausgegeben von Heiner Ullrich und Susanne Strunck, stellt einen Überblicksband dar, der private Schulen in Deutschland nach ihrer Verortung im schulischen Feld in einem ersten Teil in sieben EinzelbeitrĂ€gen von den konfessionellen Schulen ĂŒber die Waldorfschulen bis hin zu Internationalen Schulen vorstellt (29-140). In einem zweiten Teil des Bandes werden BeitrĂ€ge prĂ€sentiert, die sich weiterfĂŒhrenden Fragen etwa nach der verfassungsrechtlichen Stellung privater Schulen oder ihrer SchulqualitĂ€t bzw. SelektivitĂ€t widmen (143-262). Dem Band voran gestellt ist ein einfĂŒhrender Beitrag der beiden Herausgeber, in dem sie das Forschungsfeld umreißen und fĂŒnf zentrale Problembereiche der öffentlichen wie wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit privaten Schulen formulieren. Diese fragen in kurzen Problemaufrissen – die schmale, i.d.R. gegensĂ€tzliche empirische Basis darstellend – nach privaten Schulen als Ausdruck von Vielfalt vs. von Ungleichheit (12-15), nach der Rolle privater Schulen als pĂ€dagogisch innovativen Lernorten vs. Orten exklusiver und elitĂ€rer Erziehung (15f), nach privaten Schulen als (leistungs-)effizienteren Schulen (17-19) bzw. nach ihrer Rolle fĂŒr die Leistungsentwicklung des Schulsystems insgesamt (19f) und nach ihrem Potential bei der Etablierung einer „globalen Bildung“ (20f). Eine erste Typisierung wird ĂŒberdies hier vorgenommen, die umfĂ€nglichen Forschungsdesiderata werden benannt – Schatten ĂŒberall.

Es folgen sieben BeitrĂ€ge ĂŒber private Schultypen, die je nach TrĂ€gerschaft bzw. pĂ€dagogischer Orientierung, deren jeweilige Verfasstheit neben einer Quantifizierung und Profilbeschreibung sowie der PrĂ€sentation ihres SelbstverstĂ€ndnisses offenzulegen versuchen. Clauß Peter Sajak widmet sich katholischen Schulen (29-40), Annette Scheunpflug evangelischen (41-59), Heiner Ullrich den Waldorfschulen (61-77), Gundula Meisterjahn-Knebel und Patricia Eck den Montessori-Schulen (79-96), Jutta Wiesemann und Klaus Amann den Freien Alternativschulen (97-115), Sabine Hornberg den Internationalen Schulen (117-130) und Yaliz Akbaba und Susanne Struck den Deutsch-TĂŒrkischen Schulen (131-140). Ist bei dem einen oder anderen Beitrag das Konstrukt Montessori-Schule oder Internationale Schule als Privatschule schwierig (es gibt sie auch im öffentlichen Schulwesen) oder die AusfĂŒhrungen als erste vorsichtige AnnĂ€herung an einen (neuen) Akteur im Feld, wie bei den Deutsch-TĂŒrkischen Schulen, zu konstatieren, geht aus der LektĂŒre vor allem eines hervor: viel Programmatik, wenig Empirie. Der Wert der BeitrĂ€ge liegt daher auch vorwiegend in ihrem Informationsgehalt, um sich ein Bild von der heterogenen privaten Schullandschaft zu machen.

Den zweiten Teil konturieren BeitrĂ€ge, die unter der Überschrift „weiterfĂŒhrende Perspektiven“ zusammengefasst sind. Diese hier versammelten BeitrĂ€ge verweisen einerseits auf Perspektiven, die die Autoren bereits an anderer Stelle so oder Ă€hnlich eingenommen haben. Hierzu gehören die BeitrĂ€ge von Hermann Avenarius zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Privatschulexpansion (143-163), Manfred Weiß‘ Absage an eine bessere SchulqualitĂ€t privater Schulen im Vergleich mit öffentlichen Schulen (189-200), Silvia Avrams und Jaap Dronkers internationaler Vergleich zu Privatschulen und ihren Segregationseffekten (201-223) oder Johannes Giesingers philosophischer Auseinandersetzung mit elterlicher (Erziehungs-)Freiheit und in welcher Spannung diese zu gesellschaftlicher Bildungsungleichheit steht (247-262). Andererseits stellen die verbleibenden beiden BeitrĂ€ge von Margret Kraul deren Feldvermessung, die Darstellung der heterogenen Privatschullandschaft in einer deutschen Großstadt und eine AnnĂ€herung an die sie goutierenden heterogenen Milieus, vor (165-187). Auf die Schulen, speziell eine Internatsschule und ihren elitĂ€ren (Erziehungs-)Anspruch bzw. ihre „Besonderung“, sind dann die rekonstruktiven Befunde von Anja Gibson und Werner Helsper gerichtet (225-246). Teilweise sind inhaltliche Überschneidungen auffĂ€llig, wo u.a. das Feld privater Schulen wiederholt quantifiziert wird, aber grundsĂ€tzlich gilt und soll hier nochmals formuliert werden: viel Programmatik, wenig Empirie, die – wegen der HeterogenitĂ€t des Forschungsfeldes und einer durchaus nötigen PluralitĂ€t forschungsmethodischer AnsĂ€tze – eben nur kleinschrittig oder am ehesten wohl konzertiert vorgelegt werden könnte, um zu klĂ€ren, was es mit dem vielbeschworenen Privatschul-Boom und seinen pĂ€dagogischen und gesellschaftspolitischen Herausforderungen auf sich hat.

Was immer die GrĂŒnde waren, statt eines Buches zwei BĂŒcher zu machen, die beiden anderen hier vorzustellenden BĂ€nde von Sylvia Liebenwein, Heiner Barz und Dirk Randoll gilt es parallel zu lesen und vorzustellen, sind sie doch in der Anlage und der PrĂ€sentation der Untersuchungsergebnisse gleich gestaltet. Auch böte, was wohl ein Ausgangspunkt der Untersuchung von Wahrnehmungen von SchulqualitĂ€t und Bildungserfahrungen aus SchĂŒler- und Elternsicht an Waldorf- und Montessorischulen war, ihre Beheimatung im reformpĂ€dagogischen Spektrum der SchulpĂ€dagogik sowie teilweise Ă€hnliche, teilweise mehr oder weniger kontrĂ€re GrundsĂ€tze ihrer pĂ€dagogischen Arbeit durchaus Anlass fĂŒr eine dezidiert stringente vergleichende Betrachtung. Letzteres scheint deutlich auf, wenn bspw. im Montessori-Band eine EinfĂŒhrung in die Untersuchung von Waldorf- und Montessorischulen erfolgt, der Waldorf-Band aber, nach einer sehr kurzen EinfĂŒhrung mit Fokus auf die WaldorfpĂ€dagogik mit einer Zusammenfassung zentraler Befunde zu den Waldorfschulen beginnt. DafĂŒr hat dann der Montessori-Band eine EinfĂŒhrung in die MontessoripĂ€dagogik von Gundula Meisterjahn-Knebel mit besonderer BerĂŒcksichtigung der SekundarstufenpĂ€dagogik (Erdkinderplan bzw. Erfahrungsschule des sozialen Lebens). So vergleicht man nur partiell bzw. ĂŒberlĂ€sst es den die beiden BĂ€nde parallel Lesenden bzw. verweist in beiden BĂ€nden auf Referenzdaten anderer Untersuchungen, deren Instrumentarien man sich ausgiebig bedient (u.a. DIPF-Studie PĂ€dagogische EntwicklungsBilanzen mit Schulen (PEB), Shell-Jugendstudien).

Was folgt, ist dann in beiden BĂ€nden gleich: nach der Vorstellung des Forschungsdesigns (fĂŒr beide zusammen: 97 teilstandardisierte, leitfadengestĂŒtzte Interviews mit SchĂŒlern der 9. bis 13. Klasse und Eltern sowie schriftliche Befragung von 1470 SchĂŒlern der 7. bis 13. Klasse), ein Einstieg ĂŒber Assoziationen, wofĂŒr die jeweilige PĂ€dagogik fĂŒr die Interviewten stehe, der ĂŒbergeht in einen Abschnitt zu den Schulwahlmotiven und Schulwahrnehmungen, gefolgt von einem in beiden BĂ€nden sehr ausfĂŒhrlichen Teil zur Wahrnehmung von innerschulischen und unterrichtlichen Prozessen und Interaktionen. Letztere stellen in beiden BĂ€nden die ausfĂŒhrlichsten Teile dar und gehen auf nicht immer trennscharfe vielfĂ€ltige Dimensionen schulischer Interaktion ein, wie die Bewertung von GrundsĂ€tzen der jeweiligen pĂ€dagogischen Orientierung (Epochenunterricht hier, Freiarbeit dort) oder auf die in beiden PĂ€dagogiken wichtige Stellung der Lehrperson (2012, 59-156 hier einzelne Kapitel von Ulrike Keller; 2013, 89-166). Im Anschluss findet sich in beiden BĂ€nden ein die Befunde der Untersuchung(en) kommentierendes „Feedback-Kapitel“, wo Vertreter der jeweiligen PĂ€dagogik auf die Spannung von pĂ€dagogischer Lehre (R. Steiner hier, M. Montessori dort) und der pĂ€dagogischen Praxis im 21. Jahrhundert verweisen sowie den jeweiligen Entwicklungsbedarf fĂŒr Letztere markieren (fĂŒr die Waldorfschulen Peter Loebell und Winfried Sommer; fĂŒr die Montessorischulen Hans-Joachim Schmutzler und Arnold Köpcke-Duttler). Anschließend folgen jeweils vier weitere Kapitel, die Einzelfragen der Wert- und Gesundheitsorientierung bzw. -erziehung, der Mediennutzung sowie der kulturellen Bildung bzw. BetĂ€tigung im musisch-kĂŒnstlerischen Sinne thematisieren.

Beide BĂ€nde sind das Ergebnis umfassender Forschungsanstrengung, die im empirischen Teil vielfĂ€ltiges Material und mannigfaltige Befunde zu ebenso vielfĂ€ltigen Fragen von Waldorf- und Montessorischulen und damit eines bedeutenden Segments der deutschen Privatschullandschaft prĂ€sentiert. Dabei halten sich die Autoren einerseits oft zurĂŒck, dieses Material – vor allem die Interviewaussagen – einer vertiefenden Analyse zu unterziehen. Die FĂŒlle des Materials und das Wollen, soviel wie möglich davon auch zu prĂ€sentieren, war hier wohl leitend, was verstĂ€ndlich ist, aber einer Dichte und Stringenz der PrĂ€sentation der Ergebnisse teilweise abgeht. Andererseits haben die Autoren eine herausfordernde Stichprobe fĂŒr ihre Studie gewĂ€hlt. Vor allem was die Teilstudie an den Montessorischulen angeht wurden hier unterschiedliche TrĂ€gerschaften in zwei BundeslĂ€ndern (Bayern privat; NRW staatlich; plus eine Schule in Hessen) sowie unterschiedliche Schulformen (Volks- resp. Hauptschulen, Gesamtschulen, Gymnasien und Fachoberschulen) berĂŒcksichtigt, was die Bewertung/Aussagekraft mancher Befunde mit einer Bezugnahme auf Waldorfschulen oder eben Montessorischulen nicht einfach macht und mehr distanzierte Differenzierung nötig machte.

[1] FĂŒller, C. (2010): Ausweg Privatschulen? Was sie besser können, woran sie scheitern. Hamburg: Edition Körber Stiftung.
[2] Cortina, K.S./Leschinsky, A./Koinzer, T. (2009): EinfĂŒhrung in den Thementeil Privatschulen. Zeitschrift fĂŒr PĂ€dagogik, 55 (5), S. 667.
[3] Z.B. Ullrich, H./Idel, T.-S./Kunze, K. (Hrsg.) (2004): Das andere erforschen. Empirische Impulse aus Reform- und Alternativschulen. Wiesbaden: VS Verlag; Randoll, D./Barz, H. (Hrsg.) (2007): Absolventen von Waldorfschulen: Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung. Wiesbaden: VS Verlag; Paschen, H. (Hrsg.) (2010): Erziehungswissenschaftliche ZugĂ€nge zur WaldorfpĂ€dagogik. Wiesbaden: VS Verlag; Weiß, M. (2011): Allgemeinbildende Privatschulen in Deutschland. Bereicherung oder GefĂ€hrdung des öffentlichen Schulwesens? Friedrich Ebert Stiftung. VerfĂŒgbar unter: http://library.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/07833.pdf [15.10.2013]; Avenarius, H., Pieroth, B. & Barczak, T. (Hrsg.) (2012): Die Herausforderung des öffentlichen Schulwesens durch private Schulen - eine Kontroverse. Die Freien Schulen in der Standortkonkurrenz. Baden-Baden: Nomos und der unter [2] genannte Thementeil der Zeitschrift fĂŒr PĂ€dagogik.
[4] Der vierte Band ist GĂŒrlevik, A./Palentien, C./Heyer, R. (Hrsg.) (2013): Privatschulen vs. staatliche Schulen. Wiesbaden: Springer VS. Überdies wurden – soweit dem Rezensenten bekannt – im gleichen Zeitraum zwei weitere BĂ€nde zur WaldorfpĂ€dagogik vorgelegt vgl. Randoll, D. (Hrsg.) (2013): Ich bin Waldorflehrer. Einstellungen, Erfahrungen, Diskussionspunkte. Eine Befragungsstudie. Wiesbaden: Springer VS und Randoll, D./da Veiga, M. (Hrsg.) (2013): WaldorfpĂ€dagogik in Praxis und Ausbildung. Zwischen Tradition und notwendigen Reformen. Wiesbaden: Springer VS sowie ein Band, der Befunde zur Persönlichkeits- und Lernentwicklung u.a. von GrundschĂŒlern referiert, die eine private BIP-Schule besuchen vgl. Lipowsky, F./Faust, G./Kastens, C. (2013): Persönlichkeits- und Lernentwicklung an staatlichen und privaten Grundschulen. Ergebnisse der PERLE-Studie zu den ersten beiden Schuljahren. MĂŒnster u.a.: Waxmann und ein Band zu elterlichen Schulwahlmotiven in der Schweiz: Suter, P. (2013): Determinanten der Schulwahl. Elterliche Motive fĂŒr oder gegen Privatschulen. Wiesbaden: Springer VS.
Thomas Koinzer (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Thomas Koinzer: Rezension von: Ullrich, Heiner / Strunck, Susanne (Hg.): Private Schulen in Deutschland, Entwicklungen – Profile – Kontroversen. Wiesbaden: VS Verlag 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 6 (Veröffentlicht am 03.12.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353118230.html