EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)

Krassimir Stojanov
Bildungsgerechtigkeit
Rekonstruktionen eines umkämpften Begriffs
Wiesbaden: VS Verlag 2011
(176 S.; ISBN 978-3-531-18056-4; 24,95 EUR)
Bildungsgerechtigkeit Bildungsgerechtigkeit ist in der Tat ein Begriff, der sich mit der Popularität der PISA-Studien in vielfältiger Weise einen Weg bahnte, ohne dass wir dezidiert wissen, was darunter eigentlich zu verstehen ist. Der Begriff taugt offensichtlich als Kampfbegriff für Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände und als analytischer Begriff gleichermaßen. Krassimir Stojanov legt nun seine im Zeitraum 2007 bis 2011 entstandenen Texte zu diesem Begriff gesammelt in einem Band vor. Darin liegt zugleich Schwäche und Stärke dieses Bandes. Während als Schwäche gesehen werden könnte, dass der Autor selbst keine systematisch geschlossene Aufarbeitung von „Bildungsgerechtigkeit“ vorlegt, so kann die Vielfalt der Zugänge, Argumente, Begriffsdarstellungen und Kritik doch gerade auch als Stärke im unübersichtlichen Feld zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis interpretiert werden. Dem Autor gelingt es überdies, sich den wichtigen Sachverhalten immer wieder neu anzunähern.

Was wissen wir nach der Lektüre des Bandes? – Stojanov versteht es m.E., auch nicht in der Sozialphilosophie Geschulten zu vermitteln, dass Gerechtigkeit in drei Formen verstanden werden kann: als Verteilungs-, als Teilhabe- und als Anerkennungsgerechtigkeit. Dabei wird deutlich, dass in Diskussionen um Bildungsgerechtigkeit oft gar nicht klar ist, für welche Form der Gerechtigkeit plädiert wird. Der Autor weist nach, dass die Diskussion innerhalb der Erziehungswissenschaft, der Bildungsforschung und der Bildungspolitik oft verkürzt und der Sache unangemessen geführt wird. Seine Grundlage für die Prüfung der Argumente bilden die PISA-Studien sowie die daran anschließenden politischen Reaktionen. Weitere Publikationen aus den Zusammenhängen von Wirtschaft und Politik finden Berücksichtigung, bspw. die Äußerungen des Expertengremiums, das von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft einberufen wurde, und parteipolitische Schriften. Das Anliegen des Autors erschöpft sich jedoch nicht in der Klärung des Begriffs, sondern verbindet sich mit kritisch-programmatischen Ausführungen zur Selektionsfunktion der Schule und zum Migrationshintergrund von Schülerinnen und Schülern. Doch dazu im Folgenden mehr.

Krassimir Stojanov legt mit der Publikation insgesamt zehn Texte vor, von denen zwei Erstveröffentlichungen darstellen. Er ordnet diese Texte drei Abschnitten zu. Der erste Abschnitt (Texte 1-3) konzentriert sich auf Bildungsgerechtigkeit als Begriff. Auf der Grundlage von drei aktuellen Gerechtigkeitsmodellen entwirft der Autor ein spezifisches Verständnis von Bildungsgerechtigkeit. Dabei fokussiert er seine Anwendung oder Übertragung auf den die bildungspolitische Diskussion dominierenden Aspekt der Herkunftsabhängigkeit von Bildungschancen. Aus der Sicht von Theoretikern der Verteilungsgerechtigkeit, von John Rawls und Ronald Dworkin, erscheint die Herkunftsabhängigkeit der Bildungsbeteiligung vor allem als ungleiche Startbedingung bei der Verteilung um Güter und sozialen Status. Diese ungleichen Startbedingungen müssten behoben werden, um Gerechtigkeit im Sinne der Verteilung herbeiführen zu können. Das Konzept der Teilhabegerechtigkeit, von Stojanov mit Bezug auf die Entwürfe von Martha Nussbaum und Amy Gutman dargestellt, legt seinen Fokus auf den sozialen Ausschluss von Jugendlichen. Ihre Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen muss hergestellt werden, um einer möglichen Benachteiligung entgegenzuwirken. Unter dem Gesichtspunkt der Anerkennung, deren Theorie Axel Honneth entwickelte, verstößt die Herkunftsabhängigkeit der Bildungsbeteiligung gegen das Prinzip des Respekts als einer der Grundbedingungen für angemessene Sozialbeziehungen.

Allen drei aufgearbeiteten Ansätzen ist gemein, dass sie immer das mündige Subjekt zum Gegenstand haben. Damit macht Stojanov auf zwei grundlegende Unterschiede im Hinblick auf die Gerechtigkeitsdiskussion im Zusammenhang von Bildung aufmerksam. Zum einen hat es Bildung mit der Herstellung von Mündigkeit – oder in Stojanovs Worten: mit „Subjektautonomie“ – zu tun. Das heißt, die AdressantInnen sind noch unmündig und sollen erst über die Institutionen zur Mündigkeit geführt werden. Zum anderen ist Bildung weniger ein Gut, das es zu verteilen gilt, als ein Entwicklungsprozess. Auf dieser Grundlage begründet der Autor im ersten Teil des Bandes ein umfassendes Verständnis von Bildungsgerechtigkeit. Er zeigt, worin das Spezifische dieser Form von Gerechtigkeit liegt, und er weist nach, wie wichtig eine begriffliche Explikation und Ausdifferenzierung ist.

Stojanov plädiert stark dafür, Bildungsgerechtigkeit unter dem Aspekt der Anerkennung zu verstehen. Hierfür legt er im zweiten Abschnitt des Bandes (Texte 4-6) die Grundlagen. Axel Honneth hat in seinen Arbeiten das soziale Miteinander vor allem unter dem Begriff der Anerkennung zu fassen versucht. Dabei fußt die Anerkennung nach Honneth auf den drei Dimensionen der Empathie, des Respekts sowie der sozialen Wertschätzung. Diese ermöglichen die Herstellung von Autonomie des Subjekts und bilden nach Ansicht Stojanovs die tragende Säule im Verständnis von Bildung. Erst in diesem Sinne kann der Gerechtigkeitsdiskurs um das Eigentliche erweitert werden: nämlich die Herstellung von Mündigkeit. Denn der die Diskussion dominierende Ansatz der Verteilungsgerechtigkeit greift zu kurz, weil er einerseits die Herbeiführung autonomen Handelns zu wenig im Blick hat und andererseits sich auf die Umverteilung von Gütern im gegenständlichen Sinne von Bildungsmedien konzentriert.

Aber auch der anerkennungstheoretische Ansatz nach Honneth birgt nach Stojanov Einseitigkeiten, da in Bezug auf Bildung vor allem die Seite des Subjekts und zu wenig seine Bezüge zu anderen in den Blick gebracht werden. Der Autor votiert daher für eine Erweiterung um den Aspekt des Weltbezugs und damit der materialen Bildungsinhalte selbst. Beide Aspekte – die Entwicklung des Subjekts sowie seine Welterschließung – setzen alle drei Formen der Anerkennung nach Stojanov voraus. Für ihn führt ihre Missachtung zu „Exklusionsmechanismen“ (79). Im Hinblick auf Schule stellt sich die Frage, wie das soziale Miteinander beschaffen sein muss, um z.B. kognitive Entwicklungen (Text 5) zu ermöglichen. Der Autor zeigt dies mit Rückgriff auf die Dimensionen der Anerkennung auf und argumentiert so gegen ein verkürztes substantialistisches Verständnis von kognitiver Entwicklung – ein Verständnis, wie es die large scale assessment-Studien stark dominiert. Der dritte Text in diesem Abschnitt ist dem Ansatz eines bildungsbezogenen Respektbegriffs von Richard S. Peters gewidmet, der in Bezug zu Honneths Theorie gesetzt wird.

Im dritten und letzten Abschnitt des Bandes widmet sich Krassimir Stojanov verschiedenen „Praktiken der Ungerechtigkeit im Bildungswesen“. Dabei hebt er seine bisherigen erhellenden begrifflichen Analysen auf eine empirische Ebene, wenn er Einblick in ein Forschungsprojekt zu den bildungspolitischen Positionspapieren und ihrer öffentlichen Diskussion gewährt (Text 7). Der Autor analysiert und ordnet, in welchem Sinne die drei Modelle der Gerechtigkeit in der bildungspolitischen Diskussion aufgegriffen werden. So ordnen sich Begriffe wie Chancengleichheit, Herkunftsbenachteiligungs-Ausgleich, Leistungs- und Begabungsgerechtigkeit sowie Bildungsfinanzierung einem Verständnis von Verteilungsgerechtigkeit zu. Die Diskussion um Grundkompetenzen und politische Partizipation lässt sich der Teilhabegerechtigkeit zuweisen. Die Anerkennungsgerechtigkeit wird schließlich in Begriffen wie Aussortierung als Missachtung, Diskriminierung, diskursive Stigmatisierung bzw. soziale Wertschätzung sowie kulturelle Anerkennung thematisiert. In dieser Arbeit wird deutlich, wie wichtig eine Aufarbeitung der Begriffe ist, um im Dschungel ihrer Verwendungen zu erkennen, vor welchem Hintergrund argumentiert wird. Stojanov kommt zu dem Schluss, dass es in den analysierten Papieren kaum um den Aspekt der Anerkennung und in seiner Lesart damit kaum um Mündigkeit oder Subjektautonomie geht, sondern schwerpunktmäßig um eine „‚abgespeckte‘ Vorstellung von Verteilungsgerechtigkeit“ (135), nämlich verstanden als reinen Ausgleich an Begabung. Dieser kann dann über Sprachtests und einer „verbesserten“ – nämlich der Begabung entsprechenden – Selektion herbeigeführt und der Herkunftsabhängigkeit entgegengewirkt werden.

In einer weiteren Studie wird dargestellt, wie die geringe Bildungsbeteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund öffentlich thematisiert wird (Text 8). Stellvertretend für viele andere Texte zieht der Autor das Jahresgutachten 2007 zum Thema „Bildungsgerechtigkeit“ des Aktionsrates Bildung heran. Stojanov weist nach, dass und wie der Aktionsrat gegen Herkunft und für Begabung als selegierenden Maßstab argumentiert. Dabei zeigt er, wie sich unter dem anerkennungstheoretischen Grundsatz des Respekts die Reduktion der Bildungsgerechtigkeit auf Begabung gerade gegen die Kinder und Jugendlichen wendet. Sie widerspricht damit der Vorstellung von der „uneingeschränkten Bildsamkeit jedes Individuums“ (143). Ökonomisch wird dabei jede Missachtung von Begabung als „Verschwendung von Begabungsreserven“ (144) verstanden. Damit erscheinen auch die geringen Bildungsbeteiligungen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht mehr als ungerecht im Sinne der Teilhabe und Anerkennung, sondern allein als Ressourcenverschwendung im Sinne der Verteilung. Erst in dieser Differenzierung wird der Skandal deutlich. Folgerichtig greift Stojanov den Begriff der institutionellen Diskriminierung von Radtke und Gomolla auf (Text 9) und argumentiert für einen ideologiekritischen Ansatz, der es erlaubt, die normativen Bedingungen besser sichtbar zu machen.

Den Abschluss des Bandes bildet eine Erstpublikation, die sich der Frage der Selektion in der Schule widmet und aufzeigt, dass eine Schule ohne Selektion denkbar ist und nicht in Gleichmacherei mündet.

Der Autor zeigt über alle Texte hinweg, wie lohnenswert eine Auseinandersetzung mit dem Thema ist. Und er zeigt in vielfältiger Weise, welche Bedeutung der Gerechtigkeitsbegriff bei Diskussionen um den Migrationshintergrund, das dreigliedrige Schulsystem oder Begabung hat. Seine Rückwendung des Begriffes auf das Feld der Bildung verdeutlicht, welchen spezifischen Bedingungen Gerechtigkeitsnormen bei Heranwachsenden ausgesetzt ist. Wünschenswert wären hier empirische Studien, die sich nicht nur dem publizierten Stellungnahmen zuwenden, sondern dem praktischen pädagogischen Feld. Hier wäre der Ort, an dem sich zeigen lassen müsste, was denn eine Gerechtigkeit auf der Basis der Anerkennung und des Respekts für das pädagogische Tun tatsächlich bedeutet. Hier erst ließe sich zeigen, ob das theoretische Modell trägt oder ob ganz andere Normen im Feld gültig sind, um Gerechtigkeit herbeizuführen oder sie zu unterlaufen.

Insgesamt handelt es sich um einen lesenswerten Band, der deutlich macht, wie wichtig eine Arbeit an Begriffen ist – gerade in einem Umfeld, das bildungspolitisch hart umkämpft ist. Nur so kann die Debatte, welche Bildungsgerechtigkeit wir wollen, in die Öffentlichkeit zurückgeführt werden. Um einer solchen Auseinandersetzung eine solide Basis zu geben, die sich weder in den wissenschaftlichen Elfenbeinturm, noch in politische Spiegelfechtereien zurückzieht, ist die Lektüre der Texte zu empfehlen.
Sieglinde Jornitz (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sieglinde Jornitz: Rezension von: Stojanov, Krassimir: Bildungsgerechtigkeit, Rekonstruktionen eines umkämpften Begriffs. Wiesbaden: VS Verlag 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353118056.html