Anknüpfend an die Frage der postkolonialen Theoretikerin Gayatri Spivak „can the subaltern speak“ dient als Ausgangspunkt dieser Publikation das Bild der „fremden“ Frau in Europa, die lediglich als Repräsentierte und als die „Andere“ wahrgenommen wird, die nicht sprechen kann und auch im vorherrschenden Migrationsdiskurs stumm bleibt. Diese bislang dominanten Repräsentationen von Migrantinnen werden in dem vorliegenden Sammelband aufgebrochen, weitergedacht und aus den verschiedenen Disziplinen heraus neu beleuchtet. Sehen doch die Herausgebenden Eva Hausbacher, Elisabeth Klaus, Ralph Poole, Ulrike Brandl und Ingrid Schmutzhart in den globalen Migrationsbewegungen, die immer stärker feminisiert sind und mit denen migratorische Lebenserfahrungen und multikulturell überlagerte Lebensweisen einhergehen, neue Reflexionsräume und gesellschaftliche Positionen für Migrantinnen. Fokussiert wird daher die Verknüpfung der bislang voneinander getrennten Bereiche der Frauen- und Geschlechterforschung und Migrationsforschung, indem das Phänomen Migration in seinen die Geschlechterverhältnisse betreffenden Zusammenhängen in den verschiedenen Forschungsfeldern dargestellt wird. Die in den einzelnen Beiträgen beleuchteten vielfältigen Verschränkungen von kultureller Differenz und Geschlechterdifferenz bieten somit auch die Möglichkeit, vertraute Konzepte zu überprüfen. Darüber hinaus wollen die Herausgebenden mit diesem Sammelband der klassischen sozialwissenschaftlichen Dominanz in der Migrations- und Geschlechterforschung ein interdisziplinäres Konzept entgegen setzen, das sich u. a. in Beiträgen aus Literatur, Medien, Rechtswissenschaft, Journalismus sowie der Integrations-/Migrationspraxis manifestiert.
Der Band gliedert sich in zwei Abschnitte, wobei der erste Abschnitt „Intersektionelle und transkulturelle Perspektiven“ als zentrale Ansätze in der geschlechtertheoretischen Migrationsforschung fokussiert, während im zweiten Abschnitt auf „Aktuelle Migrationsdebatten“ eingegangen wird.
Mit der Bedeutung der Perspektive der „Transkulturellen Intersektionalität“ für die geschlechtertheoretische Migrationsforschung setzt sich Sigrid Kannengießer auseinander, indem sie aufzeigt, wie diese Perspektive fruchtbar gemacht werden kann, um vergeschlechtlichte Migrationsprozesse zu analysieren. Durch Einbeziehung einer postkolonialen Perspektive soll dieser Ansatz zur Vermeidung einer Homogenisierung und Essentialisierung „der Migrantin“ führen und das Aufdecken von Machtkonstellationen und Ungleichheitsstrukturen ermöglichen.
Leila Hadj-Abdou betont in ihrem Beitrag „Geschlechtergleichheit oder Recht auf kulturelle Differenz“, die Notwendigkeit einer intersektionalen Perspektive, welche Verwobenheit von Ungleichheiten aufgrund verschiedener Zugehörigkeiten thematisiert. In ihrer kritischen Analyse der Geschlechtergleichheit in aktuellen Debatten um Zuwanderung zeigt sie exemplarisch am französischen Verbot der Vollverschleierung, das seit 2011 existiert, wie dieser Gleichheitsdiskurs restriktive Einwanderungspolitiken in vielen europäischen Ländern legitimiert. Dabei geht es der Autorin nicht um eine Bewertung oder Verteidigung der Praxis der Vollverschleierung, sondern um eine Analyse und ein Hinterfragen der politischen Regulierung.
Der Soziologe Paul Scheibelhofer analysiert Konstruktionen „fremder Männlichkeit“ im Zusammenhang mit dem „Funktionieren“ patriarchaler, national gefasster, kapitalistischer sozialer Verhältnisse. Er zeichnet Bilder und Diskurse des Fremden in der jüngeren österreichischen migrationspolitischen Entwicklung nach. „Arbeiter, Kriminelle, Patriarchen“ sind Männlichkeitsbilder im Migrationskontext, die sich im Wandel befinden und immer auch kulturellen Stereotypisierungen unterworfen sind.
Gegen die männlich dargestellte Migrationsbewegung und die damit einhergehenden traditionellen Beschreibungen der immobilen (Ehe-)Frauen ist der historische Beitrag zu „Geschlecht, Migration und Familieneinkommen“ von Sylvia Hahn zu lesen. Sie unternimmt einen Rückblick auf die letzten Jahrhunderte und zeichnet dabei verschiedene Typen weiblicher Wanderungsbewegungen wie Bildungs-, Heirats- und Arbeitsemigration nach. Mit dieser Spurensuche wird die vorherrschende androzentrische Geschichte der Migration einer Revision unterzogen. Ob Literatur es vermag, Subalternität und sozialpsychologische Folgen von Migration radikaler und eindringlicher darzustellen als wissenschaftliche Diskurse, erfahren wir in den beiden nächsten Beiträgen von Gesa Mackenthun sowie Christa Gürtler und Eva Hausbacher, die sich mit „kolonialen“ Romanfiguren und postkolonialer Literatur auseinandersetzen. Mackenthun geht in „Deep Travels, Mixed Voices“ auf die literarische Repräsentation weiblicher Migrantinnen ein und interessiert sich für den narrativen Umgang mit dem Problem der Repräsentation subalterner Stimmen in Romanen. Christa Gürtler und Eva Hausbacher werfen in ihrem Aufsatz „Fremde Stimmen“ die Frage nach dem Zusammenhang von Migrationssituation und Schreibstrategien am Beispiel von vier Autorinnen mit migrantischen Lebenskontexten auf. Gemeinsam ist diesen Migrationstexten, das sie geprägt sind „von den Erfahrungen der Grenze und den Grenzüberschreitungen, die deren Verfasserinnen kulturell und räumlich vollzogen haben“ (128).
Der zweite Abschnitt der Publikation dokumentiert „Aktuelle Migrationsdebatten“ mit einer Schwerpunktsetzung auf die Themen „Kopftuch“ und „Asyl“ großteils anhand von ausgewählten Forschungsergebnissen. Einleitend wird eine Podiumsdiskussion zum Thema „Kann die Migrantin sprechen? Zum Zusammenhang von Migration und Gender“, die sich mit der Arbeit mit und von Migrantinnen aus einer migrantischen Genderperspektive auseinander setzt, zusammengefasst.
Mit der Fokussierung auf das Thema Asyl wird dem bislang wenig beachteten Thema „Frauen auf der Flucht“ die ihm gebührende Aufmerksamkeit geschenkt. Melita Sunjic konstatiert eine allmähliche „Sensibilität für Flüchtlingsfrauen“ und geht der Frage nach dem Flüchtlingsschutz, insbesondere der Gefährdung von Frauen während und nach der Flucht in einem globalen Kontext nach. Angesichts des gegenwärtig politisch brisanten Themas Flüchtlinge gibt der Beitrag von Anna Wildt über „Frauen im Spiegel des österreichischen Asylrechts“ Einblick in die gendersensible Beurteilung von Fluchtgründen, wobei Geschlechterstereotypen positiv wie negativ im Asylverfahren zum Einsatz kommen. Beide Autorinnen sind sich einig, dass Asylwerberinnen in hohem Maße „repräsentierte Personen“ sind: Sie besitzen kaum Mitspracherechte und es wird ihnen hauptsächlich die Rolle von Dienstleistungsempfängern zugewiesen.
„Kopftuchdebatten und -politiken in Europa“ werden in einem großangelegten Forschungsprojekt, durchgeführt von Leila Hadj-Abdou, Nora Gresch, Sieglinde Rosenberger und Birgit Sauer, einem europäischen Ländervergleich unterzogen. In der Frage nach der europäischen Ebene als einem wesentlichen Referenzpunkt für die Akteurinnen der nationalen Kopftuchdebatten müssen die Autorinnen jedoch eine ihrer Projektgrundannahmen revidieren: Es findet keine diskursive Europäisierung statt, sondern nationale Gesichtspunkte, institutionelle Eigenheiten und Errungenschaften der nationalen Geschichte sowie imaginierte nationale Kulturen dominieren diese Debatten. In ihrer Untersuchung zum Thema „Bilder von verschleierten Frauen in der österreichischen Presse“ analysieren Elisabeth Klaus, Ricarda Drüeke und Susanne Kirchhoff, welche kulturellen Identitäten und Bedrohungen anhand dieser Bilder medial (re)produziert, modifiziert und verworfen werden. Gearbeitet wird mit einem Raumkonzept, das drei Typen medialer Identitätsräume unterscheidet und sich als tragfähig erweist, um zu zeigen, wo und in welchen Gemeinschaften die verschleierten Frauen medial verortet werden.
Den Abschluss bildet eine qualitative Studie über „Geschlechterarrangements von Frauen und Männern im interkulturellen und intergenerativen Vergleich“, in der gängige kulturelle Stereotype durch empirische Befunde widerlegt werden. Schahrzad Farrokhzad geht den Geschlechterrollenverständnissen bei Frauen und Männern mit und ohne Migrationshintergrund in einem Generationenkontext nach und kann belegen, dass nicht ethnisch-kulturelle Differenzen, sondern Bildungsniveau und Generationenzugehörigkeit einen erheblichen Einfluss auf Geschlechterleitbilder und -praxen haben.
Insgesamt wird mit dieser Publikation der Anspruch, einen „roten Faden“ in der Fokussierung auf intersektionale, postkoloniale und interdisziplinäre Herangehensweisen zu verfolgen, eingelöst. Durch die gelungene Zusammenführung von Theoriediskursen mit relevanten gesellschaftlichen Migrationsdebatten positioniert sich dieser Band in einer Lücke der klassischen Migrationsforschung.
EWR 13 (2014), Nr. 3 (Mai/Juni)
Migration und Geschlechterverhältnisse
Kann die Migrantin sprechen?
Wiesbaden: Springer VS 2012
(259 S.; ISBN 978-3-531-17990-2; 49,99 EUR)
Irmtraud Voglmayr (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Irmtraud Voglmayr: Rezension von: Hausbacher, Eva / Klaus, Elisabeth / Poole, Ralph / Brandl, Ulrike / Schmutzhart, Ingrid (Hg.): Migration und Geschlechterverhältnisse, Kann die Migrantin sprechen? Wiesbaden: Springer VS 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353117990.html
Irmtraud Voglmayr: Rezension von: Hausbacher, Eva / Klaus, Elisabeth / Poole, Ralph / Brandl, Ulrike / Schmutzhart, Ingrid (Hg.): Migration und Geschlechterverhältnisse, Kann die Migrantin sprechen? Wiesbaden: Springer VS 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 3 (Veröffentlicht am 04.06.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353117990.html