In der Sozialen Arbeit ist Kritik wieder in Mode gekommen. Nach ihrem Abflauen zu Beginn der 1980er Jahre haben Kritikprojekte in der Gegenwart abermals einen Bedeutungsaufschwung erfahren. Zum Ausdruck kommt dies beispielsweise darin, dass eine wachsende Anzahl an Netzwerken und Initiativen – wie etwa der im Jahr 2005 neu aufgelegte Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit (AKS) – gegründet worden sind; deutlich wird dies aber auch an einer größeren Anzahl von Tagungen und Publikationen, die sich in jüngerer Vergangenheit mit Fragen der Kritik an und in der Sozialen Arbeit auseinandergesetzt haben.
Der im Folgenden zu besprechende Herausgeberband „Kritik der Sozialen Arbeit - kritische Soziale Arbeit“ geht auf eine gleichlautende Tagung des AKS zurück. Der Band beinhaltet insgesamt 23 Beiträge, die sich auf insgesamt vier größere Teilabschnitte verteilen.
Den vier Teilabschnitten geht ein einfĂĽhrender Beitrag der Herausgeber voraus, in dem sie ihr eigenes Kritikverständnis explizieren und Kristallisationspunkte kritischer Sozialer Arbeit benennen. Folgt man den Herausgebern, dann wurde die Neuauflage von Kritikprojekten durch den neoliberalen Transformationsprozess ausgelöst, der eine Zunahme von sozialer Ungleichheit und gesellschaftlichen Verwerfungen mit sich gebracht hat. Die „RĂĽckkehr der sozialen Frage“ habe, so die Autoren (21), in der Sozialen Arbeit eine „neue Phase der Reflexion von Fragen der ,Kritikʻ und des Kritischen“ befördert. Theoretisch positionieren sich die Herausgeber in der Tradition der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Aufgabe einer kritischen Sozialen Arbeit sei es, innerhalb der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse diejenigen „Potenzialitäten gesellschaftlicher Veränderung“ auszuloten, die sich auf „objektiv“ gegebene Möglichkeiten der Erweiterung von Partizipationschancen, des Zugewinns an Autonomie und der Herstellung von sozialer Gleichheit stĂĽtzen (19). Auf der Ebene kritischer wissenschaftlicher Analysen bedĂĽrfe dies der steten theoretischen „Anstrengung der Selbstaufklärung, die die eigene wissenschaftliche Praxis im Kontext ihrer – widersprĂĽchlichen – gesellschaftlichen Bedingungen und Verflechtungen in spezifische Herrschaftsverhältnisse und Interessen analysiert“ (10). Kritische Soziale Arbeit sei – und hier zeigt sich eine deutliche Akzentverschiebung zu den doch teils naiv anmutenden Kritikprojekten der 1970er Jahre – selbstreflexiv fortdauernd auch auf sich selbst zu beziehen, da ansonsten die Gefahr bestehe, einen „stellvertretenden Befreiungsdiskurs fĂĽr die NutzerInnen Sozialer Arbeit bzw. in deren Namen zu fĂĽhren“ (11). Konkret bedeutet dies, die gewählten theoretischen Begriffe und Kategorisierungsleistungen (etwa im Hinblick auf Kriminalität oder Behinderung) stets auch daraufhin zu analysieren, inwieweit sie das Potential besitzen, neue Formen der Disziplinierung und sozialen AusschlieĂźung zu erzeugen. Mit ihrem an der Kritischen Theorie orientierten Kritikverständnis sind die Herausgeber bestrebt, sich von neueren, an den Analysen der Postmoderne bzw. des Poststrukturalismus angelehnten Theorieofferten abzugrenzen. Im Kontext einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft mĂĽsse kritische Soziale Arbeit weiterhin das Ganze der Gesellschaft im Blick und den Anspruch haben, „übergreifende Strukturen und Entwicklungsdynamiken einer Gesellschaftsformation (z.B. Klassenstrukturen etc.) erfassen zu können“ (14).
Der erste Teilabschnitt des Herausgeberbandes beschäftigt sich ganz grundlegend mit zwei unterschiedlichen Optionen, um das Projekt der Kritik theoretisch zu fundieren: der Kritischen Theorie und der Diskursanalyse. Während Alex Demirović in seinem höchst anspruchsvollen Beitrag die Frage nach der Aktualität der Kritischen Theorie stellt, beschreibt Antje Langer in ihrem lesenswerten Artikel das Kritikpotential einer an Foucault orientierten diskursanalytischen Herangehensweise, indem sie auf Beispiele aus der aktuellen Forschungspraxis zurĂĽckgreift.
Der zweite, äußerst heterogene Teilabschnitt beleuchtet die Chancen, Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer kritischen Sozialen Arbeit, wobei hier auch geschichtliche Aspekte (bspw. im Sinne eines äußerst gelungenen Vergleichs der theoretischen Positionen Mary Richmonds und Jane Addams’ von Roland Anhorn) und Kritikprojekte aus dem Ausland (genauer: aus Österreich) zur Sprache kommen. Besonders hervorzuheben sind in diesem Teilbereich die Beiträge von Albert Scherr und Fabian Kessl. Der Artikel Kessls ist in erster Linie deshalb aufschlussreich, da er auf höchst illustrative Art und Weise die unterschiedlich situierten Kritikprojekte in der Sozialen Arbeit systematisiert und deren jeweilige Engführungen benennt. So lassen sich nach Kessl ganz allgemein Projekte der Kritik, die in Form von sozialen Bewegungen in Erscheinungen treten, von solchen Kritikprojekten unterscheiden, die vorrangig auf der Ebene theoretisch-systematischer Analysen in Erscheinung treten. Beide Kritikformen nehmen ihren Ausgangspunkt in Transformationsprozessen des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements, wie sie sich – so die Diagnose – seit geraumer Zeit zum Leidwesen der Nutzer/-innen Sozialer Arbeit vollzogen haben. In diesem Zusammenhang ist es nach Kessl u.a. problematisch zu sehen, dass aktuelle Kritikprojekte tendenziell in die Gefahr geraten, die Vergangenheit zu verklären (etwa im Hinblick auf die Ausschließungstendenzen des Wohlfahrtsstaates alter Prägung) bzw. in dichotomistische Denkmuster zu verfallen (traditionelle vs. kritische Soziale Arbeit). Von den beiden erstgenannten Kritikprojekten lässt sich nach Kessl eine dritte Gruppe von Denkern unterscheiden, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die bisherigen theoretisch-systematischen Analysen innerhalb der Sozialen Arbeit einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. Diese Gruppe – Kessl nennt Neumann und Sandermann als Protagonisten dieser Richtung – bezöge sich in erster Linie auf theorie-interne Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und laufe damit Gefahr, das Projekt der Kritik „latent-szientistisch zu überhöhen“ (201).
Scherr beleuchtet in seinem Beitrag die „Gewissheiten und Schwierigkeiten kritischer Theorie“. Kritik in der Sozialen Arbeit bedeute letztendlich immer, die paradoxale Situierung der Sozialen Arbeit („doppeltes Mandat“) in den Blick zu nehmen und „auf Verstrickungen im Reproduktionszusammenhang von Ungleichheits- Macht- und Herrschaftsverhältnissen“ aufmerksam zu machen (110). Gleichzeitig verweist Scherr darauf, dass jede Form der kritischen Analyse in analytischer und normativer Hinsicht von einem höchst unterschiedlichen Ausgangspunkt gestartet werden kann. Dies führe dazu, dass jedes Projekt der Kritik in „epistemologischer, methodologischer und methodischer sowie in normativer Hinsicht begründungsbedürftig und in allen diesen Dimensionen selbst ein möglicher Gegenstand von Kritik ist“ (114). Vor dem Hintergrund des bestehenden Theoriepluralismus in der Sozialen Arbeit sind nach Scherr die jeweiligen normativen und analytischen Grundlagen des eigenen Kritikverständnisses dezidiert offenzulegen, da nur so das reflexive Potential von Kritik einzulösen ist. Eine kritische Theorie, die sich gegenüber jeglichen Formen der (Selbst-)Kritik immunisiert, sei demgegenüber nicht mehr kritisch, sondern bewege sich auf dem Boden des Dogmatismus.
Im dritten Teilabschnitt des Bandes wird das Kritikpotential von sozialen Bewegungen ausgelotet, wie sie etwa in den gender-, mens-, queer- und disability-studies zum Ausdruck kommt. Abschließend fragt der vierte Teil nach den Anschlussmöglichkeiten und Anregungspotentialen, die die Soziale Arbeit aus den Kritikprojekten anderer Disziplinen, konkret der Psychologie, Pädagogik, Medizin, Kriminologie, Geographie, Kulturwissenschaften, ziehen kann.
Insgesamt betrachtet bietet der von Anhorn, Bettinger, Horlacher und Rathgeb herausgegebene Band einen umfassenden Einblick in die unterschiedlichen Kritikprojekte innerhalb der Sozialen Arbeit. War die kritische Soziale Arbeit in den 1970er Jahren aufgrund ihrer meist strikten Orientierung an marxistischen Gesellschaftsanalysen noch relativ einfach strukturiert, bezeugt der Band gerade die theoretisch vielfältigen und heterogenen Möglichkeiten, innerhalb der Sozialen Arbeit Kritik zu betreiben. Wenn bisweilen auch eine gewisse Redundanz vorliegt – was bei 23 Artikeln letztendlich unvermeidbar ist –, so kann doch festgehalten werden, dass die einzelnen Autoren sich differenziert und zumeist wenig plakativ mit dem Thema auseinandersetzen.
Bisweilen kritisch ist es zu sehen, dass in manchen Beiträgen immer wieder ein Denken in Dichotomien vorherrschend ist, insofern recht simpel eine Grenze zwischen traditioneller und kritischer Sozialer Arbeit gezogen wird. Eine solche Differenz kann allerdings nur derjenige vornehmen, der meint, diese auch objektiv bestimmen zu können. Ob eine solche Grenzsetzung allerdings objektiv vorgenommen werden kann, ist anzuzweifeln, denn die binäre Differenzierung von traditioneller und kritischer Sozialer Arbeit ist letztendlich immer als das Ergebnis einer kontingenten Festlegung denn als das einer objektiven Erkenntnisleistung zu fassen. Um es mit einem Beispiel aus der Kriminologie zu verdeutlichen: Folgt man der Differenz von traditioneller und kritischer Kriminologie, dann sind kriminologische Dunkelfeldstudien eindeutig dem Feld der traditionellen Kriminologie zuzuordnen, da sich Dunkelfeldforschungen nicht in erster Linie – wie von kritischen Kriminologen eingefordert – mit Kriminalisierungsprozessen, sondern mit Kriminalität als objektivem Tatbestand bzw. mit dem „Kriminellen“ als Realität sui generis befassen. Diese Zuordnung ist allerdings nur auf den ersten Blick einleuchtend, denn natürlich lässt sich auch eine andere Schlussfolgerung ziehen: Demnach kann Dunkelfeldstudien durchaus ein kritisches Potential attestiert werden, insofern sie die Ubiquität und Normalität von Kriminalität verdeutlichen und auf diese Weise dazu beitragen, Kriminalität zu entdramatisieren.
Mit der Problematik eines Denkens in simplen binären Differenzen geht bisweilen ein weiteres Problem einher, das ebenso kritisch zu sehen ist: die Gefahr, dass recht vorschnell bestimmte Zeitdiagnosen getroffen werden, die zur Stützung der eigenen Argumentationsposition herangezogen werden. So wird bspw. in den einzelnen Beiträgen immer wieder von einer „punitiven Wende“ gesprochen. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass Punitivität ein komplexes Konstrukt darstellt [1]. Es bedarf einer ausgesprochen differenzierten Forschungsarbeit, um so etwas wie eine neue „Qualität des Strafens“ zu bestimmen. Die Beantwortung der Frage, ob so etwas wie eine „punitive Wende“ tatsächlich vorliegt, ist immer davon abhängig, welche Facetten des Phänomens in den Blick genommen werden (etwa Inhaftierungsraten, die Relation von kurzen zu langen Haftstrafen, mediale oder politische Repräsentationen von Kriminalität, Einstellungen in der Bevölkerung usw.).
Diese beiden Kritikpunkte sollen aber nicht dahingehend verstanden werden, als ob sie die Qualität des Herausgeberbandes „Kritik der Sozialen Arbeit – kritische Soziale Arbeit“ schmälern würden. Die Herausgeber haben ein überaus überzeugendes Buch mit überwiegend lesenswerten Beiträgen zusammengestellt, das gerade Studierenden der Sozialen Arbeit als Pflichtlektüre mit auf den Weg gegeben werden sollte. Ob das Buch wirklich das Potential besitzt, wie seine Vorgänger „Gefesselte Jugend“ (1971) und „Sozialarbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen“ (1973), zum Klassiker zu avancieren (wie ein anderer Rezensent prognostiziert [2]), darüber soll sich der Leser letztendlich selbst ein Urteil bilden.
[1] vgl. Dollinger, Bernd/Schabdach, Michael: Jugendkriminalität: Eine Einführung. Wiesbaden., VS Verlag 2013, S. 205ff.
[2] Stender, Wolfram, Rezension vom 15.03.2013 zu: Roland Anhorn, Frank Bettinger, Cornelis Horlacher u.a.: Kritik der Sozialen Arbeit - kritische Soziale Arbeit. Springer VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2012. 480 Seiten. ISBN 978-3-531-17917-9. In: socialnet Rezensionen, http://www.socialnet.de/rezensionen/12051.php, Datum des Zugriffs 18.09.2013.
EWR 12 (2013), Nr. 5 (September/Oktober)
Kritik der Sozialen Arbeit – kritische Soziale Arbeit
Wiesbaden: Springer VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2012
(480 S.; ISBN 978-3-531-17917-9; 39,95 EUR)
Michael Schabdach (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michael Schabdach: Rezension von: Anhorn, Roland / Bettinger, Frank / Horlacher, Cornelis / Rathgeb, Kerstin (Hg.): Kritik der Sozialen Arbeit – kritische Soziale Arbeit. Wiesbaden: Springer VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353117917.html
Michael Schabdach: Rezension von: Anhorn, Roland / Bettinger, Frank / Horlacher, Cornelis / Rathgeb, Kerstin (Hg.): Kritik der Sozialen Arbeit – kritische Soziale Arbeit. Wiesbaden: Springer VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 5 (Veröffentlicht am 04.10.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353117917.html