Seit der ersten PISA-Studie ist der deutliche Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem schulischen Erfolg eines Kindes wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein gelangt. Vielen wurde vor gut zehn Jahren schlagartig klar, dass die Schule nur begrenzt das ist, was sie in einer modernen Gesellschaft sein soll: ein Ort individueller und sozialer Emanzipation. Mag sein, dass die Herkunftsabhängigkeit des Bildungserfolges seither weniger prägnant ausfällt, zu erkennen ist sie allemal, und zwar nicht nur hierzulande. Allerdings verraten solche Korrelationen nichts darüber, auf welche Art und Weise sich reproduktive Tendenzen in der Schule durchsetzen. Unvergessen ist in diesem Zusammenhang die Untersuchung von Paul Willis, der Ende der 1970er Jahre der Frage nachging, warum Arbeiterkinder notorisch in Arbeiterjobs gelangen [1]. Willis konnte zeigen, dass dies eine unintendierte Folge ihrer widerständigen Subkultur gegenüber den Ansprüchen und Erwartungen der Schule ist.
Willis Studie über den „Spaß am Widerstand“ kommt einem beim Lesen der Untersuchung von Susann Busse auch deshalb in den Sinn, weil ihre zentrale These an die von Willis erinnert. Allerdings mit einem Unterschied: Sie zeigt, dass nicht nur eine schul- bzw. bildungsdistante Alltagskultur Schülerinnen und Schüler um individuelle Transformationschancen bringen kann, sondern auch eine allzu große soziale Nähe von Elternhaus und Schule.
Susann Busse untersucht die Bildungsorientierungen von Jugendlichen im Spannungsfeld von Familie und Schule, und zwar am Beispiel von Schülerinnen und Schülern einer ostdeutschen Sekundarschule im ländlich geprägten Raum. Für diese Schule ist wie für viele andere ostdeutsche Sekundarschulen eine doppelte Ressourcenschwäche charakteristisch: Zum einen der Verlust Leistungsstärkerer in Folge des Ausbaus der Gymnasien; zum anderen der in Folge der wirtschaftlichen Schwäche vieler, nicht nur der ländlichen Räume eingetretene Bevölkerungsverlust. Gerade letzterer hatte unmittelbare Folgen für die regionale Bildungsinfrastruktur, wurden in den vergangenen Jahren doch viele Schulen, vor allem auch viele Sekundarschulen miteinander fusioniert oder geschlossen. Diese Entwicklungen hätten durchaus eine ausführlichere Darstellung verdient, und zwar nicht nur, weil sie nicht als allgemein bekannt vorausgesetzt werden können, sondern auch im Hinblick auf die der Studie zugrunde liegende Analyseperspektive.
Die Autorin untersucht die Bildungsorientierungen nämlich als Ausdruck der aktiven Auseinandersetzung von Kindern und Jugendlichen mit dem Elternhaus und der Schule. Wie Busse zu Recht anmerkt, liegt eine solche Perspektive zwar nahe, gleichwohl sind Studien, die das Zusammenspiel der verschiedenen Sozialisationsinstanzen in den Blick nehmen, nach wie vor die Ausnahme. In ihrem eigenen Vorgehen orientiert sich Susann Busse an zwei Studien, in deren Kontext die vorliegende Dissertationsschrift auch entstanden ist. Es handelt sich um die beiden am Hallenser Zentrum für Schul- und Bildungsforschung durchgeführten Projekte „Institutionelle Transformationsprozesse der Schulkultur in ostdeutschen Gymnasien“ und „Pädagogische Generationenbeziehungen in Familie und Schule“. Deren theoretischer Ansatz, methodisches Vorgehen und wichtigste Befunde werden im zweiten Kapitel ausführlich vorgestellt.
Zentral für die von Busse unternommene Studie ist das erkennbar neoinstitutionalistisch inspirierte Konzept der pädagogischen Generationsbeziehungen. Angenommen wird dabei, dass es eine pädagogische Ordnung der Generationen gibt, die den Rahmen für familiäre und schulische Interaktionen bildet, zugleich jedoch durch das Handeln der schulischen und familiären Akteure bekräftigt, modifiziert, gegebenenfalls auch aufgegeben werden kann. Diese Interaktionsprozesse vermitteln eine grundsätzliche Haltung zu Individuierungs- und Bildungsprozessen. Zugleich können sie Jugendlichen Reproduktions- und Transformationspotenziale eröffnen – oder eben auch verschließen. Auffallend ist jedoch, dass die familiären Generationenbeziehungen im Unterschied zu den schulischen als quasi naturwüchsig aufgefasst werden, der Familie offenbar weder eine symbolische Generationenordnung noch ein idealisierter Generationenentwurf des Familiären zugestanden werden. Das ist nicht nur begründungswürdig, sondern führt auch zu einer theoretisch-analytischen Unwucht, da für die familiäre Aushandlung von Macht und Anerkennung keine, den schulischen Aushandlungsprozessen vergleichbare Rahmung angenommen wird.
In empirischer Hinsicht setzt ein Vorhaben, das pädagogische Generationsbeziehungen über die Rekonstruktion und die Vermittlung der verschiedenen Akteursperspektiven analysieren will, vor allem eine kluge Erhebungsstrategie voraus. In diesem Fall wurde eine nachvollziehbare und begründete Wahl getroffen, die dankenswerter Weise im dritten Kapitel ausführlich dargestellt wird. Solche forschungspraktischen Informationen, einschließlich nicht gelingender Erhebungsziele wie in diesem Fall die Aufnahme eines Abendessens in einigen Familien, sind leider viel zu selten. Das ist umso bedauerlicher, als gerade sie wichtige Aufschlüsse über die Eignung von Datenquellen und die Grenzen des Feldzugangs liefern. Auswertungsstrategisch wird das für jeden Handlungsbereich bzw. für jede Akteursgruppe gewonnene Textmaterial zunächst einmal in seiner spezifischen Eigenlogik mittels objektiv-hermeneutischer Fallinterpretation analysiert und erst im Anschluss daran zueinander in Bezug gesetzt.
Die so erarbeiteten Interpretationen werden im vierten Kapitel der Studie vorgestellt. Neben der Rekonstruktion der schulischen Generationsbeziehungen anhand der Schulleitungsrede für neue Schülerinnen und Schüler werden insgesamt fünf Fallportraits von Jugendlichen der 10. Klasse vorgestellt. Die Portraits enthalten die Darstellung einer ausgewählten schulischen und familiären Interaktionsszene sowie die Interpretation der Interviews mit den Eltern und den Jugendlichen. Beides, insbesondere jedoch die Fallportraits sind sehr lesenswert. Die Autorin erweist sich hier als geschickte Analytikerin, der es gelingt, der Fülle des Materials habhaft zu werden und – auch sprachlich – überzeugend die wesentlichen Charakteristika der Schule und der Portraitierten herauszuarbeiten.
So zeichnet Busse anhand ihrer Analyse der Schulleitungsrede und des Unterrichtes plausibel eine fast schon schockierende Reduktion schulischer Kultur und Sozialbeziehungen auf das Formal-Organisatorische nach. Dies und die Orientierung am anpassungsbereiten, sich problemlos fügenden Schüler sowie an „bewährten“ pädagogischen Verfahren erinnern einen eher an einen Industriebetrieb oder an eine Behörde denn an eine Schule. Busse selbst verweist darauf, dass die untersuchte Sekundarschule ein „Normalitätsmodell (vermittelt), das in den Bildungsentwürfen des traditionellen kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieus […] aufgeht“ (194).
Bereits in den Fallportraits wird deutlich, was die Autorin im ausführlichen Fallvergleich deutlich herausarbeitet, dass zwischen dem Bildungsentwurf der Schule und den familiären Bildungsambitionen in der Regel ein starke Passung besteht. Was dem Vergleich nicht entnommen werden kann, sind die in den Fallportraits nachgezeichneten sozialen Dynamiken, die reproduktive Tendenzen obsiegen lassen. Wer immer wissen will, wie eine allzu homogene und ressourcenarme soziale Realität in eine Art Milieugefangenschaft ausmündet, lese Busses Fallportrait der Schülerin Nina Müller. Ein großes Verdienst der Arbeit ist es, darauf aufmerksam zu machen, dass dieses Ringen zwischen Transformation und Reproduktion in allen Fällen gefunden werden kann, auch wenn es empirisch unterschiedlich ausgeformt ist.
Dieser unmittelbare Bezug zur Reproduktion sozialer Ungleichheit wird im abschließenden sechsten Kapitel noch einmal aufgegriffen, und zwar zunächst überraschend mit einer Art Re-Analyse des eigenen Materials im Hinblick auf geschlechtsspezifische Benachteiligungsmuster an der Sekundarschule. Überraschend ist dies vor allem deshalb, weil die empirische Evidenz dafür gering ist, ohne dass diesem an sich interessanten Befund eingehender nachgegangen wird. Im Hinblick auf die Reproduktion sozialer Ungleichheit bleibt daher vor allem eine Erkenntnis, nämlich die Härte, mit der eine sozial entdifferenzierte und materiell prekäre Umgebung individuelle Transformationspotenziale stilllegt.
[1] Willis, P. (1977): Learning to Labour: How Working Class Kids Get Working Class Jobs; in deutscher Übersetzung erschienen unter dem Titel „Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule“ bei der Syndikat-Verlagsgesellschaft, Frankfurt a.M. 1977[1979].
EWR 10 (2011), Nr. 1 (Januar/Februar)
Bildungsorientierungen Jugendlicher in Familie und Schule
Die Bedeutung der Sekundarschule als Bildungsort
(Studien zur Schul- und Bildungsforschung, Bd. 36)
(Studien zur Schul- und Bildungsforschung, Bd. 36)
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010
(261 S.; ISBN 978-3-5311-7519-5; 29,95 EUR)
Christine Steiner (München)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christine Steiner: Rezension von: Busse, Susann: Bildungsorientierungen Jugendlicher in Familie und Schule, Die Bedeutung der Sekundarschule als Bildungsort (Studien zur Schul- und Bildungsforschung, Bd. 36). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353117519.html
Christine Steiner: Rezension von: Busse, Susann: Bildungsorientierungen Jugendlicher in Familie und Schule, Die Bedeutung der Sekundarschule als Bildungsort (Studien zur Schul- und Bildungsforschung, Bd. 36). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353117519.html