EWR 11 (2012), Nr. 4 (Juli/August)

Katrin Ulrike Zaborowski / Michael Meier / Georg Breidenstein
Leistungsbewertung und Unterricht
Ethnographische Studien zur Bewertungspraxis in Gymnasium und Sekundarschule
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2011
(376 S.; ISBN 978-3-531-16808-1; 39,95 EUR)
Leistungsbewertung und Unterricht Im Unterrichtsalltag werden Leistungen von Schülern immer wieder eingeschätzt und bewertet. Bekanntlich spielen dabei Gütekriterien sowie kriteriale, soziale und individuelle Normen eine Rolle. Karlheinz Ingenkamp hat bereits vor mehr als drei Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass mit dem aus pädagogischer Sicht durchaus sinnvollen und notwendigen Beurteilungsspielraum Schwierigkeiten einhergehen, die die Güte solcherart pädagogischer Diagnostik in Frage stellen [1]. In jüngeren Publikationen wie auch in zahlreichen derzeit vorliegenden Lehrplanvorgaben wird die Unterscheidung von Lern- und Leistungssituationen gefordert. Wenngleich die Problematik von „Leistungsbewertung und Unterricht“ auf theoretischer Ebene weitgehend offengelegt zu sein scheint, liegt bisher kaum Wissen darüber vor, wie schulische Bewertungspraxis tatsächlich abläuft. Dieser Lücke widmen sich die vorliegenden Studien. Sie basieren auf Beobachtungen zur Inszenierung unterrichtlicher Leistungsbewertungen in einem Gymnasium und in einer (die Jahrgänge fünf bis zehn umfassenden und entweder zu Haupt- oder Realschulabschlüssen führenden) Sekundarschule in Sachsen-Anhalt. Leistungsbewertungen werden als „soziale Praktiken“ verstanden, die „eine eigenständige soziale Realität“ (26) darstellen und die über die „Materialität des Geschehens“ (27), d.h. über eine ethnographische Betrachtung der Akteure als den Trägern dieser Praktiken, analysiert werden können.

Im Zentrum stehen die Untersuchungen von Michael Meier (Kapitel 2) und Katrin Ulrike Zaborowski (Kapitel 3), die an der Universität Halle als Dissertationen angenommen wurden. Meier und Zaborowski haben zwischen 2005 und 2008 jeweils eine Schulklasse – Meier in einem Gymnasium, Zaborowski in einer Sekundarschule – vom Anfang des fünften bis zur Mitte des siebten Schuljahres begleitet und sich mit der Logik mehr oder weniger expliziter alltäglicher Bewertungspraktiken beschäftigt. In beiden Studien wurde der Beobachtungsfokus zum einen auf Bewertungsszenen im Unterricht gerichtet und zum anderen auf einzelne Schüler, die durch ihr Handeln Bewertungsszenen (mit)strukturieren, Relevantes markieren und individuelle Bedeutungen zuweisen.

In der von Meier beobachteten Gymnasialklasse sind im fünften und sechsten Jahrgang überdurchschnittlich gute Leistung(sbewertung)en an der Tagesordnung. Erst im Verlauf von Klasse 7 ist ein Leistungsabfall feststellbar. Die von Schülern und Lehrkräften geteilte Auffassung über Schulerfolg speist sich aus Praktiken des Unterrichts, des Sozialverhaltens sowie des Umgangs mit Noten und manchmal mit Misserfolg. Im Unterschied zu Peerkulturstudien, bei denen Szenarien der Abgrenzung und Differenzierung nachgewiesen wurden, konnte Meier eine Kultur „der Integration und Homogenisierung“ (59) schulischer Normen und Verhaltensweisen beobachten, in denen Tausch, Freundschaft und Pflicht als drei unterschiedliche Hilfe-Konzepte im Verhalten erfolgreicher Schüler auszumachen sind. Eindrucksvoll wird belegt, wie unterrichtliche Interaktionen permanent um Transparenz sowie Legitimation der Beurteilung von Schülerleistungen kreisen. Kaum eine Rolle spielen dabei pädagogische Motive. Aus Meiers Sicht stehen Orientierungs-, Kontroll- und Management-Praktiken, mit denen die Bereitschaft zur Leistungserbringung auf Seiten der Schüler angesprochen werden, in einem antagonistischen Verhältnis zu Kulanz- und Image-Praktiken der Schüler, die dazu beitragen, Leistungsmängel in der überdurchschnittlich erfolgreichen Gymnasialklasse zu verdecken. In dieser naheliegenden Lesart erscheinen so manche unterrichtlichen Situationen der Leistungsbewertung als skurrile „Posse“ (96) oder „Parodie“ (99), die Meier als panoptisches Überwachungssystem in Foucault’schem Sinne entlarvt (vgl. 126). Gleichwohl sind es gerade solche Unterrichtssituationen, die in der beobachteten Klasse im fünften und auch noch im sechsten Jahrgang die interaktive Erzeugung von Schulerfolg durch Lehrkräfte und Schüler ermöglichen. Erst mit einer Ausdifferenzierung und Normalisierung des Leistungsspektrums im siebten Schuljahr nimmt Meier innerhalb des Klassenverbands „lokale Deutungszirkel und Praktiken“ (133) des Umgangs mit schlechten Noten wahr, da auf Klassenebene mit fein justierter Mimik oder auch mittels Schweigen eine privatisierte Verarbeitung schlechter Schulleistungen eingefordert werde. Insgesamt gewährt Meiers Studie Einblicke in die Art und Weise, wie es d(ies)em Gymnasium gelingt, die Schule der erfolgreichen Schüler zu sein. Dabei sind Noten zentrale Bestimmungsmomente von Schulerfolg. Dieser wiederum lässt sich als „Herstellung der richtigen Produkte … in der richtigen Qualität zum richtigen Zeitpunkt“ (159; Hervorhebung i.O.) begreifen.

Zaborowskis Untersuchungen an der Sekundarschule fielen in eine Zeit demographisch bedingter Schulschließung und -fusion. Zudem erwies sich die Sekundarschule – im Vergleich zum Gymnasium – auch aufgrund offenbar schwieriger Befindlichkeiten von Lehrkräften als schwerer zugängliches Forschungsfeld. Während über zwei Schuljahre hinweg eine Schulklasse begleitet werden konnte, wurden im siebten Schuljahr mehrere ehemalige Schüler der Ausgangsklasse, die sich nach einer Schulfusion in verschiedenen Klassen befanden, beobachtet. Zaborowski findet Belege dafür, dass insbesondere zu Beginn der fünften Klasse die inhaltliche Auseinandersetzung mit unterrichtlichen Leistungen durch Bestrebungen der „Einsozialisation in die Sekundarschule“ (176) überlagert wurde, also durch ein Primat der Regulierung von Schülerverhalten von Seiten der Lehrkräfte. Auch in dieser Klasse sind Noten nahezu allgegenwärtig. Wie am Beispiel „Zensurenkönig“ – einem spielerischen Auszählen, wer die meisten Einsen, Zweien, Dreien usw. hat – nachvollziehbar, ist die von Lehrkräften und Schülern getragene Unterrichtskultur geprägt „durch Versuche stetiger Verhaltensnormierung sowie die Aufweichung des Leistungsprinzips“ (177) zugunsten eines „Zufallsprinzips“ (181) von Belobigungen. Die Schüler kommentieren Leistungssituationen durch „spontanes“, „ritualisiertes“, „vergemeinschaftetes“ oder „oppositionelles Klatschen“ (186f), dem Zaborowski jeweils unterschiedliche funktionelle Bedeutungen zumisst. Viele der präsentierten Einblicke in schulalltägliche Realitäten wirken geradezu haarsträubend, etwa wenn Versuche einer Schülerbeteiligung bei der Entscheidung über Kopf- bzw. Verhaltensnoten geschildert werden, in denen die Lehrerin über Noten abstimmen lässt: „So Finger hoch, wer ist noch für Zwei?“ (191).

Im Vergleich zum Gymnasium werden in der Sekundarschule andere Kulturen und Begründungsmuster erkennbar, die sich vor allem am Umgang mit vergessenen Unterrichts- und Arbeitsmaterialien zeigen. Zaborowski deutet dies dahingehend, dass „die Anerkennung der Relevanz von Unterricht“ (202) an der Sekundarschule tatsächlich zum Thema gemacht, im Gymnasium hingegen vorausgesetzt werde. Statt um eine „Kultur der Motivation“ (212) geht es im Rahmen von Leistungsmessungen vorwiegend um Überwachung und Kontrolle des Schülerverhaltens. Das Streben nach vermeintlicher Objektivität der Notengenerierung wird durch eine vor der Klassenöffentlichkeit stattfindende, individualisierende Notenvergabe konterkariert. Ganz ähnlich pädagogisiert erfolgen Zeugnisausgaben, die wie „rituelle Höhepunkte schulischer Selektionspraxis“ erscheinen, bei denen die „Defizitorientierung und der pädagogische Pessimismus … als Immunisierungsstrategie der Lehrer gegen schlechte Leistungen der Schülerinnen und Schüler gesehen werden“ (246) können. Mit vier ethnographischen Schüler-Fallportraits gibt Zaborowski längschnittlich angelegte Einblicke in die Entstehung und Entwicklung markanter Positionen innerhalb der beobachteten Lerngruppe. Als Ergebnis zeigt sich ein wenig flexibler Umgang mit der frühzeitig zu Beginn der fünften Klasse erfolgten Einteilung der Schüler in Leistungskategorien. Bei einem als Exkurs angelegten Vergleich der Leistungsbewertung an der Sekundarschule in Sachsen-Anhalt mit derjenigen an einer niedersächsischen Hauptschule werden vor allem Unterschiede des Öffentlichmachens von Leistungen und Unterschiede in der Bedeutungszumessung zu schulischer Leistung deutlich, die sich auch als Ost-West-Differenz interpretieren lassen. Zaborowski kommt zu dem Schluss, dass die Sekundarschule selbst soziale Ungleichheit hervorbringt: Im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung trage sie maßgeblich dazu bei, das Bild unmotivierter, leistungsschwacher Schüler wahr werden zu lassen. Bei der Lehrerschaft macht Zaborowski entlastende Handlungsweisen aus, die darauf hindeuten, dass diese sich „mit den vielfältigen Problemlagen dieser Schulform weitgehend arrangiert“ (320) hat.

Georg Breidenstein und Theresa Bernhard fragen unter Rekurs auf Niklas Luhmann im vierten Kapitel nach dem Zusammenhang von Unterricht und implizitem Bewerten. Sie zeigen auf, dass Schülern in einem Unterricht, der durch das ständige Erbringen von Leistungen geprägt ist, bereits frühzeitig Leistungspositionen und damit bestimmte Rollen bezogen auf Arbeitsgeschwindigkeit, fachbezogenes Leistungsvermögen und Hilfsbedürftigkeit zugeschrieben werden. Bei solchen Prozessen der Positionierung durch Leistungszurechnung, Sozialvergleich und klassenöffentlichen Tadel sind demnach didaktische und pädagogisch-erziehende Interaktionen eng miteinander verknüpft.

Der Band endet mit einem zusammenfassenden und vergleichenden Rückblick auf die Befunde: Breidenstein resümiert, dass die in den Studien aufgedeckte Eigenlogik unterrichtlicher Leistungsbewertung eine Doppelbödigkeit nahelegt, die sich in den „Praktiken der Objektivierung“ sowie denjenigen der „Subjektivierung“ (352) zeige. Als Folge ergebe sich ein recht stabiles Muster der Befreiung der Lehrkraft von der Verantwortlichkeit für den Lernerfolg der Schüler. Unterricht und Bewertung scheinen unverbunden nebeneinander zu stehen und weisen damit auf „das grundlegende Strukturproblem der Legitimierung der Noten“ hin, nämlich das der „Legitimierung von Noten als objektive und gerechtfertigte Urteile über Schülerleistungen“ (355f). Mit anderen Worten verschleiern die Legitimierungsversuche die Tatsache, dass Urteile über Schülerleistungen gerade nicht objektiv und gerechtfertigt sind. Alle Beteiligten spüren das (zumindest implizit), aber es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als das Spiel mitzuspielen.

Der im Band vertretenen These, dass über Einzelschulen hinausgehende, schulformmarkante Strukturmerkale schulischer Leistungsmessung aufgezeigt werden, muss man nicht folgen. Forschungsmethodisch kann an manchen Stellen auch die Frage aufkommen, inwiefern Voreingenommenheit der Forscher die Ergebnisse ihrer Ethnographie (mit)prägen. Gleichwohl ist offenkundig, dass Unterrichtssequenzen skizziert werden, die offenbar keinen schulischen Seltenheitswert haben. Die dargestellten Szenarien erschrecken in praktischer wie theoretischer Hinsicht: Selten wird Schulpraxis so unverschleiert gespiegelt. Und vor dem Hintergrund eines theoretischen Wissens um die Problematik pädagogischer Leistungsmessung lässt sich erahnen, dass an der Professionalisierung von Leistungsbewertung und Unterricht weiterhin viel „poliert“ werden kann und muss.

[1] Ingenkamp, Karlheinz / Lissmann, Urban (2008): Lehrbuch der Pädagogischen Diagnostik. Weinheim und Basel: Beltz
Daniel Blömer (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Blömer: Rezension von: Zaborowski, Katrin Ulrike / Meier, Michael / Breidenstein, Georg: Leistungsbewertung und Unterricht, Ethnographische Studien zur Bewertungspraxis in Gymnasium und Sekundarschule. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 4 (Veröffentlicht am 02.08.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116808.html