Geschlechterkonstruktionen in der Schule sind kein neues Thema für eine Studie. Wie sehr sich Schule als Bildungsort für Geschlechtermodelle eignet, ist bereits aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven erforscht worden. Die Dissertation von Davina Höblich, die 2010 beim VS Verlag erschienen ist, hat nun jedoch den Anspruch, „sozialisations-, schul-, professions- und gendertheoretische Fragestellungen und Blickrichtungen“ (40) zu verbinden. Entsprechend mehrdimensional ist ihre qualitative Studie aufgebaut, entsprechend vielfältig sind ihre theoretischen Verortungen. Zentral wird in der Studie der Frage nachgegangen, wie Mädchen und Jungen externe Anforderungen an Geschlechterkonstruktionen in der Schule verarbeiten und diese in ihre Selbstkonstruktion und -präsentation einbauen.
Diese nun erstmal nicht weiter ungewöhnliche Forschungsfrage koppelt die Autorin zum einen an schul- und professionsbezogene Zugänge. Höblich analysiert nicht nur biographische Erzählungen von Schülerinnen und Schülern, sondern ergänzt diese durch eine Gruppendiskussion mit Lehrern und Lehrerinnen und eine Analyse des schulischen Untersuchungsfeldes. Diese Anlage betont die Bedeutung des Kontextes für Geschlechterkonstruktionen der SchülerInnen und ermöglicht eine umfassende Analyse des Zusammenhangs zwischen schulischen Rahmungen und individuellen Bearbeitungen. Die zweite Besonderheit betrifft das Forschungsfeld „Waldorfschule“. Der grundsätzlich kontextübergreifende Anspruch bleibt bestehen, gleichwohl aber wird die Spezifik der reformpädagogischen Ausrichtung, insbesondere in Bezug auf die Kategorie Geschlecht als Teil der „Ausformung des schulbiographischen Passungsverhältnisses“ (82) herausgearbeitet.
In zwei einführenden theoretischen Kapiteln wird zum einen der Forschungsstand in Bezug auf die Kernfelder des Vorhabens (Biografie, Schule und Geschlecht) aufgearbeitet und in Bezug zu sozialisationstheoretischen Überlegungen gesetzt. Das von der Autorin gewählte Forschungsfeld „Waldorfschule“ wird an dieser Stelle nicht als theoretischer Zugang diskutiert, vielmehr wird die Bedeutung von Schule allgemein als Sozialisationsraum gewürdigt, insbesondere da sich durch längere (Aus-) Bildungszeiten und die Zunahme von Ganztagsschulen die biographische Bedeutsamkeit der Schule deutlich erhöht.
Zum Anderen werden (im zweiten einführenden Kapitel) die relevanten theoretischen Begriffe Geschlecht, Sozialisation und Biografie diskutiert. Während das Kapitel zum Forschungsstand umfassend über die existierenden Studien aufklärt und stellvertretend zentrale Forschungen ausführlich darstellt, fällt dieses Kapitel insbesondere in der Bezugnahme auf die aktuelle erziehungswissenschaftliche Biographieforschung vergleichsweise kurz aus. Dem klaren Bezug auf die biographische Geschlechterforschung, wie sie Bettina Dausien entwickelt, folgt Höblich nur bedingt, stellt dem vielmehr ein Verständnis der Homologiethese Fritz Schützes entgegen, nach der von einer „Korrespondenz von Erzählstrukturen und Erlebnisstrukturen“ ausgegangen wird (56).
Hier wäre eine weitergehende Auseinandersetzung wünschenswert gewesen, um die analytischen Unterschiede zwischen doing biography und Schützes Homologiethese weiter herauszuarbeiten und fruchtbar zu nutzen. So stellt auch das u. a. von Dausien entwickelte Modell des doing biography nicht grundsätzlich einen Zusammenhang zwischen Erfahrungen und Erzählungen in Frage. Vielmehr betont sie die Bedeutung der Interviewsituation als einen sozialen Rahmen für die Hervorbringung biographischer Erzählungen und verweist auf die Notwendigkeit der genauen Analyse solch komplexer, prozessualer Formen von biographischen Geschlechterkonstruktionen.
Methodisch werden in der Arbeit insgesamt drei doch sehr unterschiedliche Methoden trianguliert. Während die Entscheidung für die dokumentarische Analyse als eine Auswertungsmethode für die Gruppendiskussion mit LehrerInnen nachvollziehbar erscheint, bleibt unklar, wo der Vorteil der parallelen Verwendung sowohl der objektiven Hermeneutik als auch der Narrationsanalyse bei der Interpretation der Interviews liegt.
Im Anschluss an Studien, die die Bedeutung des schulischen Kontextes als sozialisations- und biografierelevanten Bezugsrahmen über den des reformpädagogischen stellen (vgl. 81 ff), stellt die Autorin anhand von Lehrplänen, dem pädagogischen Konzept der KlassenlehrerInnen und auch der anthropologischen Bestimmung der Geschlechter in der Waldorfpädagogik das institutionalisierte Geschlechterverständnis der Waldorfschule dar und nutzt die Erkenntnisse als Hintergrundfolie für ihre Analyse. Im Erziehungsauftrag der Klassenlehrerin / des Klassenlehrers steht, so die Annahme Höblichs, die Persönlichkeitsbildung und somit auch die Geschlechterbildung im Zentrum. Sie vermutet allerdings gerade aufgrund der koedukativen Tradition der Reformschule keine explizite Auseinandersetzung mit einer möglichen reflexiven Geschlechterbildung, da durch dieses (organisatorische) Prinzip die Geschlechterproblematik als gelöst erscheine (89).
Der Hauptteil der Arbeit besteht aus zwei detaillierten Einzelfallanalysen (5. Kapitel), in denen biographische Erzählungen eines Schülers und einer Schülerin im Hinblick auf ihre Geschlechterkonstruktionen in und durch die Schule analysiert werden. Die ausführliche Rekonstruktion der Eröffnungssequenz mittels der objektiven Hermeneutik wird mit der großen Bedeutung des Beginns eines biographischen Interviews für die biographische Struktur einer Person begründet. Hier wäre allerdings kritisch zu fragen, inwieweit hierbei das Potenzial biographischer Erzählungen, die sich durch Ambivalenzen, Eigenwilligkeiten und Mehrdeutigkeiten auszeichnen, zugunsten einer schon in den ersten Zeilen eines Interviews vermeintlich sichtbaren Kontinuität und Linearität der Narrationsstruktur aufgegeben wird.
Den Einzelfallanalysen gegenübergestellt werden Geschlechterkonstruktionen des Kollegiums der Schule und der Klassenlehrerin (6. Kapitel). Insbesondere in der Gruppendiskussion des Kollegiums ist auffällig, wie stark geschlechterstereotype Kompetenz- und Leistungseinstellungen vertreten sind. Dies gilt sowohl für die Selbstpräsentationen der LehrerInnen als auch für die Zuordnung von männlich bzw. weiblich konnotierten Schulfächern.
In dem Interview mit der Lehrerin doppelt sich diese Perspektive insofern, als dass am Beispiel des Entscheidungsprozesses für ein im Klassenverbund aufzuführendes Theaterstück deutlich wird, wie die eigene Verstrickung in traditionelle Geschlechtermodelle und geschlechtsspezifische Interessenszuweisungen die Wahrnehmung des SchülerInnenverhaltens als weibliches bzw. männliches organisiert. Ihre Interpretation zweier Theaterstücke als einmal „männlich derb“, einmal „feingeistig weiblich“ bestimmt die Auswahl des zu bearbeitenden Stückes in der Form, dass sie – so die Interpretation Höblichs – zu einer Auseinandersetzung zwischen den Geschlechtern wird. Während die Auseinandersetzungen mit Theaterrollen auch das Potenzial zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Rollenerwartungen und eigenen Ansprüchen beinhalten könnte, werden hier, zumindest von Seiten der Lehrerin, sozialisatorische Räume geschlossen und Rollenerwartungen festgeschrieben. Dies gilt z.B. in Bezug auf Erwartungen der Entscheidungen für oder gegen das Theaterstück, aber auch in Bezug auf unterstellte Schwierigkeiten der Mädchen, Zwitterrollen und damit alternative Geschlechterrollen ausfüllen zu wollen.
Zwei abschließende Kapitel führen die Interpretationen und die theoretischen Perspektiven zusammen. Im 7. Kapitel „SchülerInnenbiographie, Schule und Geschlecht“ wird ein Fazit bezüglich der von der Schule bzw. der Klassenlehrerin bereitgestellten Spielräume für Geschlechterkonstruktionen getroffen, welches auf verschiedenen Ebenen (den Leistungsanforderungen, den Lerninhalten und den pädagogischen Orientierungen der Schule) ein ambivalentes Bild vermittelt. Zwar gibt es einerseits Öffnungen und Auswahlmöglichkeiten für die SchülerInnen, andererseits werden diese durch didaktische Vorüberlegungen und Verknüpfungen der LehrerInnen quasi „unter der Hand“ wiederum in geschlechtsspezifische Zuständigkeiten und Fertigkeiten verwandelt. Allerdings werden in den biographischen Erzählungen der Jugendlichen auch widerständiges Handeln und Verarbeitungen sichtbar, so dass – trotz oder aufgrund der Handlungen der LehrerInnen – sich produktive sozialisatorische Entwicklungen ergeben (können), eher aber als Gegenentwurf zu schulischen Vorgaben, wenn z.B. der interviewte Junge gerade den experimentellen Umgang mit Identitätsentwürfen in der Theaterarbeit betont.
Den Abschluss (8. Kapitel) bilden schul-, professions- und sozialisationstheoretische Schlussfolgerungen, die interessant sind insbesondere in Bezug auf offene Schularrangements, die gerade aufgrund dieser Offenheit verstärkt den Eigendeutungen der LehrerInnen, und somit potenziell auch geschlechterstereotypen Eigendeutungen Raum zur Entfaltung bieten. Arrangements, in denen Alltags- und Realitätsnähe (z.B. durch Projektarbeit) Relevanz bekommt, scheinen „eine Perpetuierung von Geschlechterstereotypen, zumindest auf der handlungsentlastenden Ebene der Eigentheorie in der LehrerInnenschaft“ (266) zu ermöglichen.
Die Studie bietet in ihrer komplexen Anlage einen Einblick in schul- und professionsbezoge Rahmungen einerseits, Deutungsmuster und Praxen der LehrerInnen andererseits als Kontext jugendlicher Sozialisationsprozesse. Im Zentrum stehen die Möglichkeiten der SchülerInnen, individuelle biographische Passungsverhältnisse zu entwickeln und sich auch widerständig mit angebotenen Deutungsmustern der LehrerInnen auseinanderzusetzen. Die Arbeit bietet insofern einerseits eine Fülle an Einblicken in schulische Geschlechterpraxen auf den verschiedenen Ebenen. Weniger gelungen erscheint die Verbindung der verschiedenen Rekonstruktionen. Zwar werden die Geschlechterkonstruktionen der Lehrerin an Konstruktionen des Kollegiums zurückgebunden, die Frage nach der Entwicklung und Reifizierung in einem spezifischen Schulkontext, hier insbesondere der einer Reformschule, wird jedoch nicht systematisch aufgenommen.
Geeignet erscheint die Arbeit für zweierlei Zielgruppen: die theoretisch-methodische Anlage bietet eine Orientierungs- und Diskussionsgrundlage für WissenschaftlerInnen, die sich mit komplexen Analysen institutions- und akteursbezogener Deutungsmuster beschäftigen. Zudem sind insbesondere die zusammenfassenden Kapitel, weniger die Fallananalysen, auch für LehrerInnen geeignet, die sich mit der eigenen Verstrickung in Geschlecherkonstruktionen auseinandersetzen und das eigene Tun reflektieren wollen.
EWR 10 (2011), Nr. 6 (November/Dezember)
Biografie, Schule und Geschlecht
Bildungschancen von SchĂĽlerInnen
Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2010
(296 S.; ISBN 978-3-5311-6663-6; 34,95 EUR)
Margarete Menz (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Margarete Menz: Rezension von: Höblich, Davina: Biografie, Schule und Geschlecht, Bildungschancen von SchĂĽlerInnen. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 6 (Veröffentlicht am 14.12.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116663.html
Margarete Menz: Rezension von: Höblich, Davina: Biografie, Schule und Geschlecht, Bildungschancen von SchĂĽlerInnen. Wiesbaden: VS Verlag fĂĽr Sozialwissenschaften 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 6 (Veröffentlicht am 14.12.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978353116663.html